Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 133-136.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Karl Marx

Die Ernte in Europa

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6043 vom 6. September 1860]

<133>London, 21. August 1860

Je mehr die Jahreszeit fortschreitet, desto trüber werden die Ernteaussichten und desto geringer werden die Hoffnungen, die sich noch auf die mögliche Rückkehr von gutem Wetter gründen. Der Charakter des vergangenen Sommers war ganz und gar ungewöhnlich, nicht nur im ganzen Vereinigten Königreich, sondern in ganz Nordeuropa - Nordfrankreich, Belgien und die Rheinprovinzen einbegriffen. Was England betrifft, so ist die Jahreszeit in folgenden Worten richtig beschrieben worden:

"Nach dem kalten verspäteten Frühjahr erwies sich der Juni als so außergewöhnlich naß, daß in vielen Distrikten Rüben nicht gesät, Mangoldwurzeln nicht gehackt, noch irgendeine der in dieser Periode üblichen Arbeiten ausgeführt werden konnten. Dann wurde es nach zehn Tagen guten Wetters so unbeständig, daß zwei regenlose Tage hintereinander fast eine Überraschung bedeuteten. Aber außer diesen Übermaß an Nässe war der jetzige, wir können schon sagen vergangene Sommer auffallend durch Mangel an Sonnenschein und durch sehr niedrige Temperaturen, die selbst dann herrschten, wenn es keinen Regen gab."

Die durchschnittliche Niederschlagsmenge betrug in diesem Jahre 20 Zoll, und da der Niederschlag während der Monate Mai und Juni 11,17 erreichte, zeigt es sich, daß in diesen beiden Monaten über die Hälfte der Wassermenge eines Jahres fiel. Während der vergangenen Woche, bei deren Beginn eine günstige Veränderung einzutreten schien, zeigte sich das Wetter unbeständiger und stürmischer denn je, wobei am 16. und 18. Gewitter und Südweststürme auftraten, die wahre Regenfluten begleiteten. Infolgedessen stieg der Weizenpreis in Mark Lane gestern etwa 2 sh. pro Quarter über den Marktpreis vom vergangenen Montag.

<134> Die Heuernte ist durch die Kälte und den unaufhörlichen Wind und Regen bereits ernstlich gefährdet und verspätet. Da das Gras daniederliegt und ständig von Wasser bedeckt ist, wird befürchtet, daß von seinen Nährwerten bereits viel weggewaschen worden ist, so daß ein großer Teil davon als Futter ungeeignet ist und als Streu benutzt werden muß, was einen sehr ernsten Verlust bedeutet, der in großem Maße den Verbrauch von Sommergetreide steigern wird. Viel muß noch geerntet werden, aber viel ist unwiederbringlich verloren.

"Es kann wenig Zweifel daran bestehen", sagt "The Gardeners' Chronicle" vom letzten Sonnabend, "daß die Weizenernte wesentlichen Schaden erlitten hat. Von 140 Berichten ebenso vieler Korrespondenten Englands und Schottlands erklären nicht weniger als 91, daß die Ernte unter dem Durchschnitt ist, und wenn man die Hauptgebiete des Weizenanbaus betrachtet, so ist festzustellen, daß das Verhältnis der ungünstigen Meldungen ebenso groß ist. So sind fünf von sechs Berichten aus Lincolnshire, drei von fünf aus Norfolk und Suffolk und alle aus den Grafschaften Oxford, Gloucestershire, Wilts, Hants und Kent ungünstig."

Ein großer Teil des Weizens verfaulte an der Wurzel, ehe die Körner reif waren, und in vielen Distrikten ist er durch Mehltau und Brand verdorben. Während also der Weizen, und zwar in vielen Distrikten in großem Umfange, erkrankte, ist die Kartoffelkrankheit, die 1845 begann, in den folgenden vier Jahren mit aller Bösartigkeit anhielt und seit 1850 allmählich nachließ, nicht nur in Irland, sondern in vielen Distrikten Englands und des nördlichen Kontinents verstärkt wieder aufgetreten.

"The Freeman's Journal" faßt die allgemeinen Ernteaussichten Irlands so zusammen:

"Die Haferernte wird im allgemeinen als fast verloren angesehen. Außer in wenigen unbedeutenden Distrikten ist der Hafer noch nicht reif, er ist vollständig grün und liegt durch die Heftigkeit des Wetters am Boden. Der Weizen wird voraussichtlich an dem Unheil teilhaben, das die Getreideernte allgemein bedroht. Erst sehr wenig davon ist gemäht, und die Aussichten dieser Ernte, die noch vor wenigen Wochen die zuversichtlichsten Erwartungen einflößten, lösen jetzt bei den Farmern tiefste Bestürzung aus. Hinsichtlich der Kartoffelernte besteht die allgemeine Ansicht, daß sie, wenn das gegenwärtige Wetter noch einen Monat anhält, unwiderruflich verloren ist."

Nach dem Wexford " Independent"

"verbreitet sich die Kartoffelkrankheit, und in einigen Orten ist davon ein volles Drittel der Kartoffeln befallen, unabhängig von Größe, Sorte und Pflanzzeit."

Soviel scheint daher sicher: Die Haupternte wird sich weit über den üblichen Termin hinaus verspäten, und die bestehenden Vorräte werden <135> daher knapp werden. Die teilweise ausgefallene Heuernte, zusammen mit der Kartoffelkrankheit, wird in ungewöhnlichem Maße auf die Zerealien drücken, und der Ertrag wird bei allen Getreidearten, besonders bei Weizen, weit unter dem Durchschnitt liegen. Bis jetzt zeigen die Importe vom Ausland, verglichen mit denen von 1858 und 1859, anstatt diese zu übersteigen, im Gegenteil einen merklichen Rückgang. Andererseits wurden die Kornpreise, obgleich sie im Durchschnitt jetzt 26 Prozent höher liegen als in der gleichen Periode des vergangenen Jahres, niedrig gehalten durch die Nachrichten über reiche Ernten in Amerika und Südrußland, durch die Hoffnung auf eine günstige Veränderung des Wetters und durch die außergewöhnliche Vorsicht, die der letzte Krach im Ledergewerbe allen Geldtransaktionen auferlegt hat. Durch einen Vergleich der jetzigen Preise mit jenen ähnlicher Ernten seit 1815 bin ich zu dem Schluß gelangt, daß der Durchschnittspreis für Weizen, den man jetzt mit 58 bis 59 sh. je Quarter annehmen kann, zumindest in England auf 65 bis 70 sh. steigen muß. Die Wirkung einer solchen Preissteigerung auf den Mehlpreis wird durch das Zusammentreffen mit einem fortschreitenden Rückgang im Exportgeschäft des Landes beträchtlich verschlimmert. Von dem während der sechs Monate bis zum 30. Juni 1859 realisierten Betrag von 63.003.159 Pfd.St. sind die britischen Exporte während der entsprechenden Periode 1860 auf 62.019.989 Pfd.St. gesunken; und die Verringerung war, wie ich in einem früheren Artikel dargelegt habe, hauptsächlich auf ein Sinken im Verkauf von Baumwollwaren und Garnen als Folge der Übersättigung der Märkte von Asien und Australien zurückzuführen. Während so die Exporte zurückgehen, sind die Importe im Vergleich mit der entsprechenden Periode von 1859 beträchtlich gestiegen. Wir finden in der Tat während der fünf Monate bis zum 31. Mai 1859 Importe in Höhe von 44.968.863 Pfd.St., 1860 in Höhe von 57.097.638 Pfd.St.

Dieses Überwiegen der Importe über die Exporte muß notwendigerweise den Goldabfluß vergrößern und damit den unbeständigen Zustand des Geldmarktes verschlimmern, der alle Perioden von Mißernten und außerordentlichen Aufkäufen von ausländischem Getreide kennzeichnet. Wenn in England die Wirkung des ungeheuren Gelddrucks sich wahrscheinlich nicht weit über die ökonomische Sphäre ausdehnen wird, so ist es etwas ganz anderes auf dem Kontinent, wo ernste politische Störungen fast unvermeidlich sind, sobald eine Geldkrise mit einer Mißernte und einer zunehmenden Besteuerung zusammenfällt. Schon werden die ernstesten <136> Besorgnisse in Paris laut, wo der Magistrat gerade damit beschäftigt ist, große Mengen alter Häuser aufzukaufen, um sie niederreißen zu lassen und so Arbeit für die "ouvriers" <"Arbeiter"> zu beschaffen. Die Pariser Preise für besten Weizen rangieren in diesem Augenblick ebenso hoch, wenn nicht noch etwas höher als die Londoner Preise, nämlich bei 60 sh. 6 d. bis 61 sh. Die letzten Kniffe, durch die Louis-Napoleon versuchte, die öffentliche Meinung abzulenken, nämlich die Syrien-Expedition, das Avancement Spaniens zu einer "Großmacht", die Transaktionen mit Preußen und die Versuche, Garibaldis Vordringen zu stören, haben sich sämtlich als totale Fehlschläge erwiesen. Er ist gezwungen, gegen die Gefahren einer schlechten Jahreszeit, einer Geldnot und eines eingeschränkten Staatshaushalts in demselben Augenblick auftreten, da sein politisches "Prestige" offensichtlich beträchtlich nachläßt. Wenn irgendein Beweis für letztere Behauptung notwendig wäre: Existiert nicht sein Brief an "Mon cher Persigny ?