Inhaltsverzeichnis Aufsätze für "The New American Cyclopædia"

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 14, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 68-72.

1. Korrektur.
Erstellt am 22.08.1998.

Friedrich Engels

Angriff

Geschrieben zwischen 14. Juli und 10. August 1857.
Aus dem Englischen.


["The New American Cyclopædia", Band II]

<68> Angriff bedeutet im allgemeinen strategischen Sinne das Ergreifen der Initiative in einem Scharmützel, einem Gefecht, einem Treffen oder in einer regelrechten Schlacht. Dabei muß notwendigerweise immer eine Seite mit offensiven, die andere mit defensiven Operationen beginnen. Der Angriff gilt allgemein als die erfolgreichere Operation, und darum leiteten Armeen, die in der Defensive handeln, d.h. in Kriegen streng defensiven Charakters, oft offensive Operationen ein und liefern selbst in defensiven Kampagnen offensive Aktionen. In einem solchen Fall soll erreicht werden, daß die sich verteidigende Armee durch Wechsel von Ort und Schauplatz der Kampfhandlung die Berechnungen des Gegners stört, ihn von seiner Operationsbasis wegzieht und ihn zwingt, zu andern Zeiten und an andern Orten zu kämpfen, als er erwartet und in seinen Vorbereitungen berücksichtigt hatte und die möglicherweise für ihn ungünstig sein können.

Die zwei bemerkenswertesten Beispiele von Offensivoperationen und direkten Angriffen in streng defensiven Kampagnen finden sich bei den beiden großartigen Feldzügen Napoleons: in dem von 1814, der seine Verbannung nach Elba zur Folge hatte, und in dem von 1815, der mit der Niederlage bei Waterloo und der Übergabe von Paris beendet wurde. In beiden dieser außergewöhnlichen Kampagnen griff der streng im Sinne der Defensive eines angegriffenen Landes handelnde Heerführer seine Gegner von allen Seiten und bei jeder Gelegenheit an; und obwohl er den Eindringlingen in der Regel zahlenmäßig weit unterlegen war, verstand er es zu jeder Zeit, dem Feind im Angriff überlegen und im allgemeinen auch siegreich zu sein. Der unglückliche Ausgang dieser beiden Kampagnen schmälert weder ihre Konzeption noch ihre Details. Sie wurden beide verloren aus Gründen, die völlig unabhängig von ihrem Plan oder dessen Ausführung waren; es waren Ursachen politischer und strategischer Natur, in der Hauptsache die gewaltige materielle Überlegenheit der Verbündeten <69> und die Unmöglichkeit, daß eine Nation - von einem Vierteljahrhundert Krieg erschöpft - dem Angriff einer Welt in Waffen widerstehen kann.

Es wird behauptet, daß von zwei sich auf dem Schlachtfeld gegenüberstehenden Armeen jene Armee die entscheidende Überlegenheit hat, die die Initiative ergreift oder, mit andern Worten, angreift. Es scheint aber, daß diejenigen, die diese Anschauung vertreten, durch die Glanzleistung einiger großer Generale und ein oder zwei großer militärischer Nationen geblendet wurden, die ihre Erfolge Angriffen größten Ausmaßes verdanken. Diese Meinung bedarf einer beträchtlichen Einschränkung. Epaminondas, Alexander, Hannibal, Cäsar, und nicht zu vergessen, Napoleon I. waren ausgesprochen Generale, die den Angriff bevorzugten; sie errangen alle ihre großen Siege sowie ihre großen Rückschläge vornehmlich in Aktionen, bei denen sie die Initiative ergriffen hatten. Die Franzosen verdanken alles dem Ungestüm ihres beinahe unwiderstehlichen Angriffs und ihrer schnellen Auffassungsgabe, die sie befähigt, ihre Erfolge zu nutzen und das Mißgeschick ihrer Feinde in einen vollständigen Zusammenbruch umzuwandeln. In der Verteidigung sind sie keineswegs so gut.

Die Geschichte der größten Schlachten der Welt scheint zu beweisen, daß die defensive Aktion die sicherste ist, wenn die angegriffene Armee genügend Ausdauer besitzt, um hartnäckig Widerstand zu leisten, bis das Feuer der Angreifer nachläßt, bis sich Erschöpfung und die Reaktion beim Angreifer einstellen und sie dann ihrerseits zur Offensive und zum Angriff übergehen kann. Es gibt aber nur wenige Armeen oder überhaupt selten Völker mit der Fähigkeit, solche Schlachten zu schlagen. Sogar die Römer, obwohl großartig in der Verteidigung befestigter Städte und erstaunlich gut bei offensiven Operationen im Felde, erwarben sich in der Defensive keinen Ruhm; ihre Geschichte weist keine einzige Schlacht auf, in der sie am Ende eines Tages voller Rückschläge und Verteidigungskämpfe schließlich zum Angriff übergingen und gewannen. Dies gilt auch im allgemeinen für die französischen Armeen und Heerführer. Dagegen schlugen die Griechen viele ihrer besten Schlachten, wie die von Marathon, den Thermopylen, Platää und viele andere, aber besonders die letzterwähnte, nach dem Plan, dem Angriff des Gegners so lange standzuhalten, bis er nachläßt, und dann ihrerseits gegen die halberschöpften und überraschten Angreifer zur Offensive überzugehen. Das gleiche System war jahrhundertelang von den Engländern und im größeren Maßstabe auch von den Schweizern und Deutschen angewandt worden. Es hatte sich im allgemeinen bei den Armeen dieser Völker und später auch bei den Amerikanern gut bewährt. Die <70> Schlachten von Crécy, Poitiers, Azincourt, Waterloo, Aspern und Eßling und viele andere, die wegen ihrer großen Anzahl hier nicht aufgeführt werden können, wurden nach genau dem gleichen Prinzip geführt; und es kann hinzugefügt werden, daß die Amerikaner die fast unaufhörlich angreifenden Engländer im Kriege 1812-1814 erfolgreich zurückwarfen und dies auch dann, wenn die Engländer - im Gegensatz zu ihrer üblichen Praxis - in Kolonne angriffen, ein Verfahren, das sich so gut im Kampf gegen die Franzosen wie auch unlängst gegen die Russen bewährt hatte.

Wenn sich zwei Armeen im Felde zum Kampf gegenüberstehen, sind die gewöhnlichen Formen des Angriffs folgende:

Erstens, - am einfachsten durchzuführen - der direkte Parallelangriff, bei dem das angreifende Heer sofort an der ganzen Front von Flügel zu Flügel in die Schlacht eintritt und die feindliche Armee durch bloße Stärke schlägt.

Zweitens, der Angriff der Flügel, der entweder von beiden gleichzeitig oder nacheinander zuerst von dem einen und dann von dem anderen Flügel durchgeführt wird, wobei das Zentrum zurückgehalten wird. Dies war Napoleons beliebteste Taktik, durch die er den Feind zwang, sein Zentrum zu schwächen, um die Flügel zu stärken, während Napoleon sein eigenes Zentrum zurückhielt, es durch enorme Kavalleriereserven verstärkte, bis er endlich in das geschwächte Zentrum des Gegners vorstieß und seine Aktion durch einen vernichtenden Schlag beendete.

Drittens, der Angriff des Zentrums, wobei die Flügel zurückgezogen und in Reserve gehalten werden. Von allen Angriffsarten hat diese die meisten Mängel. Sie wurde selten angewandt und, man kann sagen, niemals erfolgreich. Wird eine Armee gezwungen, in dieser Position zu kämpfen, so wird sie im allgemeinen eingeschlossen und vernichtet wie die angreifende römische Armee zu Cannä. Dies ist vielmehr eine vortreffliche Verteidigungsposition.

Viertens, der schiefe Angriff, erfunden von Epaminondas und von ihm mit glänzendem Erfolg bei Leuktra und Mantinea angewandt. Er besteht darin, einen Flügel des Feindes mit einem insgeheim und allmählich verstärkten Flügel anzugreifen, während das Zentrum und der andere Flügel derweil zurückgehalten, aber so manövriert werden, daß sie eine ständige Angriffsgefahr sind und die sich verteidigende Seite so lange daran hindern, ihrem schwachen Punkt Verstärkung zu bringen, bis es dafür zu spät ist. Dies war die bevorzugte Methode des Österreichers Clerfayt, mit der er immer wieder die Türken schlug, sowie die Friedrichs des Großen, <71> der zu sagen pflegte, daß er bei seinen besten Siegen "nur die Schlachten des Epaminondas noch einmal schlug".

Es ist bemerkenswert, daß die Griechen, im allgemeinen auch die Franzosen ebenso wie die Russen und die Österreicher, ihre besten Schlachten durch Kolonnenangriffe gewonnen haben, die, wenn sie nicht wirksam aufgehalten und zum Stehen gebracht wurden, das Zentrum des Gegners durchbrachen und alles vor sich hertrieben, Die Römer, die Engländer und die Amerikaner haben fast unveränderlich, ob beim Angriff oder bei der Verteidigung, in Linie gekämpft und kämpfen auch heute noch so; in dieser Formation gelang es ihnen immer, mit ihrem Zentrum den anstürmenden Kolonnen Widerstand zu leisten und sie in Schach zu halten, bis sie durch den Vormarsch ihrer Flügel die Flanken ihres Feindes umfassen und ihn zermalmen konnten. Es ist bemerkenswert, daß die Engländer immer dann eine Katastrophe erlebten, wenn sie von ihrer 2 Mann tiefen Linie als ihrer quasi-nationalen Angriffsordnung abwichen und wie bei Fontenoy und Chippewa in Kolonnen stürmten. Beinahe unwiderstehlich drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß der zentrale Angriff durch die Kolonne gegen feste und standhafte Truppen äußerst fehlerhaft ist, obwohl sein Erfolg gegen einen Feind von geringer physischer Stärke und Disziplin und besonders mit einem demoralisierten Kampfgeist gesichert ist.

Wird eine anzugreifende Redoute oder Feldbefestigung nur durch Infanterie verteidigt, dann können die Angreifer sofort zum Sturm vorgehen; wird sie jedoch auch durch Kanonen verteidigt, dann müssen zunächst die Kanonen durch Kanonen zum Schweigen gebracht werden. Die Kanonade wird durchgeführt, um die Palisaden zu zerstören, die Geschütze zum Schweigen zu bringen, die Brustwehr umzupflügen und dadurch ein Zurückziehen der verteidigungsbereiten Geschütze ins Innere zu erzwingen. Nachdem die angreifende Artillerie auf diese Weise ihre Wirkung erzielt hat, umfaßt die leichte Infanterie, in erster Linie Schützen, einen Teil des Verteidigungswerkes, wobei sie ihr Feuer auf den Kamm der Brustwehr richtet, um die Verteidiger zu zwingen, entweder sich überhaupt nicht zu zeigen oder wenigstens übereilt zu feuern. Die Schützen nähern sich allmählich und konzentrieren sich auf ihr Ziel. Es werden Angriffskolonnen gebildet, denen mit Äxten und Leitern ausgerüstete Soldaten vorausgehen. Manchmal haben die Soldaten der ersten Reihe auch Faschinen, die als Deckung und auch zum Füllen des Grabens dienen sollen. Die Geschütze des Verteidigungswerkes werden nun wieder vorgebracht und auf die anstürmenden Kolonnen gerichtet. Die angreifenden Schützen verstärken ihr Feuer, wobei sie besonders auf die Artilleristen der Verteidigung zielen, die mög- <72> licherweise versuchen, ihre Geschütze neu zu laden. Wenn es den Stürmenden gelingt, den Graben zu erreichen, ist es entscheidend, daß sie beim Ansturm gemeinsam handeln und gleichzeitig von allen Seiten ins Verteidigungswerk eindringen. Sie verweilen daher einen Augenblick auf den Rand und warten auf das vereinbarte Signal; beim Erklettern der Brustwehr werden sie von Haubitzengranaten, rollenden Steinen und Baumstämmen getroffen und oben von den Verteidigern mit dem Bajonett oder dem Gewehrkolben empfangen. Der Positionsvorteil liegt noch immer bei den Verteidigern, aber der Angriffsgeist gibt den Stürmenden große moralische Überlegenheit, und wenn das Verteidigungswerk nicht durch andere Werke an seinen Flanken gedeckt ist, so wird es schwer sein - wenn auch nicht ganz beispiellos - gerade in diesem Augenblick einen kühnen Ansturm abzuwehren.

Zeitweilige Verteidigungswerke können durch Überrumpelung oder offenen Vorstoß angegriffen werden, und in beiden Fällen ist es oberste Pflicht des Kommandeurs, durch Spione oder Aufklärung die bestmöglichsten Informationen über den Charakter des Verteidigungswerkes, seine Besatzung, Verteidigungsmittel und Ressourcen zu erhalten.

Die Infanterie wird oft nur auf sich selbst gestellt in den Angriff geworfen, wobei sie sich dann auf ihre eigene reiche Erfindungsgabe verlassen muß, wie z.B. Verhaue mit brennenden Scheiten anzünden, kleine Gräben mit Heubündeln füllen, unter Schutz einer feuernden Gruppe die Palisaden auf Leitern hinaufklettern, verbarrikadierte Türen oder Fenster mit einem Sack Pulver sprengen, und durch solche entschiedene und kühne Maßnahmen wird sie zumeist imstande sein, jedes gewöhnliche Hindernis zu überwinden.