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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 571-612.

1. Korrektur
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Savoyen, Nizza und der Rhein

Geschrieben Ende Februar 1860.

Erschien 1860 als anonyme Broschüre ("vom Verfasser von 'Po und Rhein'") bei G. Behrend (Falckenbergsche Verlagsbuchhandlung), Berlin.

Der vorliegende Text fußt auf dieser Ausgabe


I

<573> Es ist jetzt ein Jahr, daß das bonapartistisch-piemontesisch-russische Komplott anfing, vor dem Publikum sich abzuwickeln. Erst die Neujahrsrede, dann die Verkuppelung der "italienischen Iphigenie", dann der Schmerzensschrei Italiens, endlich das Eingeständnis Gortschakows, daß er mit Louis-Napoleon schriftliche Verpflichtungen eingegangen habe. Dazwischen Rüstungen, Truppenmärsche, Drohungen, Vermittelungsversuche. Damals, im ersten Moment, zuckte das instinktive Gefühl durch ganz Deutschland: Hier handelt es sich nicht um Italien, sondern um unsere eigene Haut. Am Tessin fängt man an, am Rhein hört man auf. Das Endziel aller bonapartistischen Kriege kann nur die Wiedereroberung der "natürlichen Grenze" Frankreichs, der Rheingrenze sein.

Derjenige Teil aber der deutschen Presse, der sich am gewaltsamsten entsetzte über den verdeckten französischen Anspruch auf die natürliche Grenze des Rheins, derselbe Teil, die Augsburger "Allg[emeine] Z[ei]t[un]g" an der Spitze, verteidigte mit ebenso gewaltsamem Fanatismus die östreichische Herrschaft in Oberitalien unter dem Vorwande, daß der Mincio und der untere Po die natürliche Grenze Deutschlands gegen Italien bildeten. Herr Orges von der A[ugsburger] "A[llgemeine] Z[eitung]" setzte seinen sämtlichen strategischen Apparat in Bewegung, um darzutun, daß Deutschland ohne den Po und den Mincio verloren, daß ein Aufgeben der östreichischen Herrschaft in Italien ein Verrat an Deutschland sei.

Dies drehte die Sache um. Hier war es ebenso evident, daß die Drohung mit dem Rhein nur Vorwand, daß die Erhaltung der östreichischen Gewaltherrschaft in Italien der Zweck sei. Die Drohung mit dem Rhein sollte Deutschland nur verleiten, für die Unterjochung Oberitaliens durch Östreich solidarisch einzutreten. Dazu kam dann noch der lächerliche Widerspruch, dieselbe Theorie am Po zu behaupten und am Rhein zu verdammen.

<574> Damals schrieb der Verfasser dieser Zeilen eine Arbeit, die er unter dem Titel "Po und Rhein" veröffentlichte. Im Interesse der nationalen Bewegung selbst protestierte diese Broschüre gegen die Theorie von der Minciogrenze; sie suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen, daß Deutschland kein Stück von Italien zu seiner Verteidigung brauche und daß Frankreich, wenn bloß militärische Gründe gelten sollten, allerdings noch viel stärkere Ansprüche auf den Rhein habe als Deutschland auf den Mincio. Mit einem Wort, sie versuchte es den Deutschen möglich zu machen, mit reinen Händen in den erwarteten Kampf zu gehen.

Wieweit dies der Broschüre geglückt ist, darüber mögen andere entscheiden. Uns ist kein Versuch bekannt geworden, die darin gegebene Entwickelung wissenschaftlich umzustoßen. Die Augsb[urger] "Allg[emeine] Z[eitung]", gegen die sie zunächst gerichtet war, versprach, einen eigenen Artikel darüber zu bringen, lieferte aber statt dessen drei fremde aus der "Ost-D[eutschen] Post", deren Kritik sich darauf beschränkte, den Verfasser für einen "Kleindeutschen" zu erklären, weil er Italien aufgeben wolle. Jedenfalls hat die A[ugsburger] "A[llgemeine] Z[eitung]" seitdem die Theorie von der Minciogrenze unseres Wissens nicht weiter erwähnt.

Inzwischen hatte der Versuch, Deutschland für die Herrschaft und die Politik Östreichs in Italien solidarisch zu machen, dem norddeutschen gothaischen Philisterium einen willkommenen Vorwand gegeben, gegen die nationale Bewegung aufzutreten. Die ursprüngliche Bewegung war wirklich national, viel nationaler als alle Schillerfeste von Archangelsk bis San Franzisko; sie entstand naturwüchsig, instinktiv, unmittelbar. Ob Östreich in Italien recht oder unrecht, ob Italien Anspruch auf Unabhängigkeit habe, ob die Minciolinie nötig sei oder nicht - alles das war ihr zunächst gleichgültig. Einer von uns wurde angegriffen, und zwar von einem dritten, der mit Italien nichts zu schaffen, aber desto mehr Interesse an der Eroberung des linken Rheinufers hatte - und diesem gegenüber - Louis-Napoleon, den Traditionen des ersten französischen Kaiserreichs gegenüber - müssen wir alle zusammenstehen. Das fühlte der Volksinstinkt, und er hatte recht.

Aber das gothaisch-liberale Philisterium betrachtete schon seit Jahren Deutschöstreich gar nicht mehr als "einen von uns". Ihm war der Krieg willkommen, weil er Östreich schwächen und dadurch die endliche Eröffnung des kleindeutschen oder großpreußischen Kaisertums möglich machen konnte. Mit ihm verband sich die Masse der norddeutschen Vulgärdemokratie, die darauf spekulierte, Louis-Napoleon werde Östreich zer- <575> trümmern und ihr dann erlauben, ganz Deutschland unter preußischer Herrschaft einig zu machen; mit ihm verband sich ein geringer Teil der deutschen Emigration in Frankreich und der Schweiz, der schamlos genug war, sich mit dem Bonapartismus offen zu verbinden. Der stärkste der Alliierten aber war - sagen wir es offen heraus - die Feigheit des deutschen Spießbürgertums, das nie der Gefahr ins Antlitz zu sehen wagt, das, um ein Jahr Galgenfrist zu erbetteln, seine getreuen Alliierten im Stich läßt, damit es nachher, ohne sie, seiner eigenen Niederlage um so sicherer ist. Mit dieser Feigheit ging Hand in Hand die bekannte Superklugheit, die stets tausend Vorwände hat, warum um keinen Preis gehandelt, aber desto mehr geredet werden muß; die über alles skeptisch ist, außer über diese Vorwände; dieselbe Superklugheit, die dem Baseler Frieden zujubelte, der das linke Rheinufer an Frankreich abtrat; die sich im stillen die Hände rieb, als die Östreicher bei Ulm und Austerlitz geschlagen wurden; dieselbe Superklugheit, die nie ihr Jena herankommen sieht und deren Zentralsitz Berlin ist.

Diese Allianz siegte; Deutschland ließ Östreich im Stich. Unterdessen schlug sich die östreichische Armee auf der lombardischen Ebene mit einem Heldenmut, der ihre Gegner erstaunte und der Welt Bewunderung abzwang - nur nicht den Gothaern und ihrem Schwanz. Keine Paradedressur, kein Garnisonsgamaschendienst, kein Korporalstock war imstande gewesen, das unverwüstliche Rauftalent des Deutschen ihnen auszutreiben. Trotz der knappen Kleidung und des schweren Gepäcks hielten diese jungen Truppen, die nie im Feuer gewesen, aus wie Veteranen gegen die kriegserfahrenen, leicht bekleideten und leicht ausgerüsteten Franzosen, und nur mit dem allergrößten Aufwand von Unfähigkeit und Uneinigkeit brachte es die östreichische Führung fertig, solche Truppen schlagen zu lassen. Und wie schlagen? Keine Trophäen, keine Fahnen, fast gar keine Geschütze, fast keine Gefangenen - die eine eroberte Fahne wurde auf dem Schlachtfeld unter einem Haufen Toter gefunden, und die unverwundeten Gefangenen waren italienische oder ungarische Deserteure. Vom Gemeinen bis zum Major hat sich die östreichische Armee mit Ruhm bedeckt - und dieser Ruhm gehört ganz vorzugsweise den deutschen Östreichern. Die Italiener waren nicht zu verwenden und meist entfernt, die Ungarn gingen in Menge über oder waren sehr unsicher, die Kroaten fochten in diesem Feldzug entschieden schlechter als sonst.(1) Die Deutschöstreicher mögen sich diesen <576> Ruhm mit vollem Recht aneignen, fällt ihnen doch vor allen andern auch die Blamage der schlechten Führung zu.

Diese Führung war echt altöstreichisch. Was die Unfähigkeit Gyulays allein nicht fertigbringen konnte, das brachte der durch die Kamarilla und durch die Anwesenheit Franz Josephs sichergestellte Mangel an Einheit im Kommando fertig. Gyulay fiel ein in die Lomellina und kam sofort zum Stehen, als er in den Bereich von Casale-Alessandria geriet; die ganze Offensive war verfehlt. Die Franzosen vereinigten sich ungehindert mit den Sarden. Um seine Ratlosigkeit vollständig darzutun, befiehlt Gyulay die Rekognoszierung von Montebello, als ob er gleich von vornherein beweisen wolle, daß der altöstreichische Geist des unsichern Herumtappens und der schweren Bedenklichkeiten in der Kriegführung noch immer so lebendig sei als zu Zeiten des weiland Hofkriegsrats. Er überläßt dem Gegner vollständig die Initiative. Von Piacenza bis Arona zerstreut er seine Armee, um nach beliebter östreichischer Manier alles unmittelbar zu decken. Die Traditionen Radetzkys sind schon nach zehn Jahren der Vergessenheit verfallen. Als der Feind bei Palestro angreift, kommen die östreichischen Brigaden so langsam nacheinander ins Gefecht, daß die eine stets vor Ankunft der andern schon aus der Position geworfen ist. Als nun gar der Feind das Manöver wirklich unternimmt, dessen Möglichkeit der ganzen Stellung in der Lomellina erst ihren Sinn gab - den Flankenmarsch von Vercelli auf Boffalora - als endlich die Gelegenheit kam, durch einen Stoß gegen Novara dies gewagte Manöver zu parieren und die ungünstige Lage auszubeuten, in der sich der Feind befand - da verliert Gyulay den Kopf und läuft über den Tessin zurück, um - auf einem Umwege - sich dem Angreifer in der Fronte quervor zu legen. Mitten in diesem Rückzug erscheint Heß - am 3. Juni, vier Uhr morgens - im Hauptquartier Rosate. Der in Verona wiedererstandene Hofkriegsrat schien seine Zweifel über Gyulays Befähigung gerade im entscheidenden Moment bekommen zu haben. Jetzt waren also zwei Oberfeldherrn da. Auf Heß' Antrag halten alle Kolonnen, bis Heß sich überzeugt hat, daß der Moment zum Angriff auf Novara verpaßt ist und daß man die Dinge gehen lassen muß. Darüber sind indes beinahe fünf Stunden vergangen, während deren die Truppen den Marsch unterbrochen hatten.(2) Sie kommen vereinzelt, hungrig, ermüdet im Laufe <577> des 4. bei Magenta an; sie schlagen sich trotzdem vortrefflich und mit dem besten Erfolg, bis Mac-Mahon gegen seine Ordre, die auf direkten Vormarsch von Turbigo nach Mailand lautet, sich auf Magenta wendet und die östreichische Flanke anfällt. Inzwischen kommen die übrigen französischen Korps an, die der Östreicher bleiben aus, und die Schlacht ist verloren. Der Rückzug der Östreicher geht so langsam, daß bei Melegnano eine ihrer Divisionen von zwei ganzen französischen Armeekorps angefallen wird. Eine Brigade hält den Ort gegen sechs französische Brigaden mehrere Stunden lang und weicht erst, nachdem sie über die Hälfte ihrer Leute verloren. Endlich wird Gyulay abberufen. Die Armee marschiert in einem großen Bogen von Magenta um Mailand herum und findet Zeit (sowenig war von Verfolgung die Rede!), noch vor dem Feind, der auf der kürzeren Sehne marschierte, in der Stellung von Castiglione und Lonato anzukommen. Diese Stellung, von den Östreichern seit Jahren aufs genaueste rekognosziert, habe Franz Joseph, so hieß es, eigens für seine Truppen ausgesucht. Die Tatsache ist, daß sie längst in das Verteidigungssystem des Festungsvierecks aufgenommen war und eine vortreffliche Position für eine Defensivschlacht mit offensivem Rückstoß abgab. Hier nun vereinigte die Armee sich mit den inzwischen eingetroffenen oder bisher zurückgehaltenen Verstärkungen; aber sobald die Feinde auf dem andern Ufer des Chiese angekommen, ertönt wiederum das Signal zum Rückzug, und es geht hinter den Mincio. Kaum ist diese Operation ausgeführt, so geht die östreichische Armee wieder vor über denselben Mincio, um dem Feind jetzt dieselbe Stellung wieder abzunehmen, die sie ihm soeben freiwillig überlassen. Durch dies Durcheinander von ordre, contre-ordre, désordre <Befehl, Gegenbefehl, Verwirrung> in ihrem Vertrauen auf die Oberleitung hinlänglich geschwächt, geht die östreichische Armee in die Schlacht von Solferino. Es ist ein regelloses Abschlachten von beiden Seiten; von taktischer Oberleitung war weder bei Franzosen noch Östreichern die Rede; die größere Unfähigkeit, Verwirrung und Scheu vor Verantwortlichkeit bei den östreichischen Generalen, die größere Sicherheit der französischen Brigade- und Divisionschefs, die natürliche, in Algier aufs höchste entwickelte Überlegenheit der Franzosen im zerstreuten und Dorfgefecht vertrieben die Östreicher endlich vom Schlachtfeld. Damit schließt der Feldzug, und wer war froher als der arme Herr Orges, der die östreichische Oberleitung in der A[ugsburger] "A[llgemeinen] Z[eitung]" <578> durch dick und dünn hatte loben und ihr rationelle strategische Motive unterschieben müssen.

Louis-Napoleon hatte nämlich auch genug. Die magere gloire von Magenta und Solferino war immer mehr, als er ein Recht hatte zu erwarten, und zwischen den fatalen vier Festungen konnte doch einmal der Moment kommen, wo die Östreicher sich nicht länger von ihren eigenen Generalen schlagen ließen. Dazu machte Preußen mobil, und weder die französische Rheinarmee noch die Russen waren kriegsbereit. Kurz, das bis zum Adriatischen Meer freie Italien wurde fallengelassen; Louis-Napoleon bot Frieden an, und das Dokument von Villafranca wurde unterzeichnet. Frankreich erhielt keinen Zollbreit Landes; die ihm abgetretene Lombardei schenkte es großmütig an Piemont; es hatte Krieg geführt für eine Idee; wie sollte es an die Rheingrenze gedacht haben!

Unterdessen hatte sich Mittelitalien provisorisch an Piemont annexiert, und das oberitalische Königreich präsentierte einstweilen eine ganz respektable Macht.

Die bisherigen Provinzen des Festlandes und die Insel Sardinien repräsentierten eine Bevölkerung von

4.730.500 Seelen

die Lombardei außer Mantua ungefähr

2.651.700 Seelen

Toskana

1.719.900 Seelen

Parma und Modena

1.090.900 Seelen

die Romagna (Bologna, Ferrara, Ravenna und Forli)

   1.053.800 Seelen

(nach dem Stande von 1848) zusammen

11.251.800 Seelen.

Der Flächeninhalt des Staats dehnte sich von 1.373 auf 2.684 deutsche Quadratmeilen aus. Das oberitalische Königreich wäre also, wenn es sich definitiv konstituierte, die erste italienische Macht. Ihm gegenüber blieben nur noch

für Venetien

2.452.900 Seelen

für Neapel

3.517.600 Seelen

für den Rest des Kirchenstaates

   2.235.600 Seelen

zusammen

13.206.100 Seelen,

so daß also Oberitalien allein fast ebensoviel Bevölkerung enthalten würde wie alle andern italienischen Länder zusammen. Seiner finanziellen und militärischen Macht und der Zivilisation seiner Bewohner gemäß könnte ein solcher Staat in Europa eine Stellung vor Spanien, also unmittelbar nach Preußen in Anspruch nehmen, und, der wachsenden Sympathien des übrigen Italiens gewiß, würde er sie auch unbedingt fordern.

<379> Das war aber nicht, was die bonapartistische Politik gewollt hatte. Ein einiges Italien, hatte sie laut erklärt, kann und wird Frankreich nie dulden. Unter der Unabhängigkeit und Freiheit Italiens verstand sie eine Art von italienischem Rheinbund unter bonapartischer Protektion und unter der Ehrenpräsidentschaft des Papstes, die Ersetzung der östreichischen Hegemonie durch die französische. Daneben lief dann die wohlwollende Absicht, in Mittelitalien ein etrurisches Königreich, ein italienisches Königreich Westphalen, für den Erben Jérôme Bonapartes zu gründen. Allen diesen Plänen machte die Konsolidierung des oberitalischen Staats ein Ende. Jérôme Bonaparte junior hatte auf seinem Zuge durch die Herzogtümer sich nichts erworben, nicht einmal eine Stimme; das bonapartische Etrurien war so unmöglich wie die Restauration, es blieb nichts übrig als die Annexation an Piemont.

In demselben Maße aber, in welchem die Unvermeidlichkeit der Unifikation Norditaliens sich herausstellte, in demselben Maße trat auch die Idee ans Tageslicht, für welche Frankreich diesmal Krieg geführt hatte. Dies war die Idee der Annexation von Savoyen und Nizza an Frankreich. Schon während des Krieges hatten sich Stimmen erhoben, welche behaupteten, daß dies der Preis der französischen Intervention in Italien sei. Aber sie waren nicht gehört worden und widerlegte sie nicht der Akt von Villafranca? Trotz alledem erfuhr die Welt auf einmal, daß unter dem nationalen und konstitutionellen Regime des re galantuomo <König Edelmann; Beiname Victor Emanuels II.> zwei Provinzen in der Fremdherrschaft schmachteten - zwei französische Provinzen, die ihre tränenden Augen sehnsüchtig auf das große Vaterland richteten, von dem nur die rohe Gewalt sie getrennt hielt - und daß Louis-Napoleon dem Schmerzensschrei Savoyens und Nizzas sein Ohr nicht länger verschließen könne.

Jetzt stellte es sich allerdings heraus, daß Nizza und Savoyen den Preis vorstellten, um den Louis-Napoleon unternommen hatte, die Lombardei und Venedig mit Piemont zu vereinigen, und daß er, da Venedig für den Moment nicht zu haben war, es als Preis ausbat für seine Zustimmung zur Annexation Mittelitaliens. Jetzt begannen die widerwärtigen Manöver bonapartischer Agenten in Savoyen und Nizza und das Geschrei der bezahlten Pariser Presse, die piemontesische Regierung unterdrücke den Volkswillen in diesen Provinzen, der laut nach Anschluß an Frankreich rufe; jetzt endlich wurde es in Paris ausgesprochen, die Alpen seien die natürliche Grenze Frankreichs, Frankreich habe ein Recht auf sie.

II

<580> Wenn die französische Presse behauptet, Savoyen sei nach Sprache und Sitten französisch, so ist das wenigstens ebenso richtig, als wenn dasselbe von der französischen Schweiz, dem wallonischen Teil Belgiens und den englisch-normannischen Inseln im Kanal behauptet würde. Das savoyische Volk spricht einen südfranzösischen Dialekt, und die gebildete und Schriftsprache ist überall Französisch. So wenig ist von einem italienischen Element in Savoyen die Rede, daß sich die französische (d.h. südfranzösische oder provenzalische) Volkssprache im Gegenteil noch über die Alpen nach Piemont hinein, bis in die oberen Täler der Dora Riparia und der Dora Baltea erstreckt. Trotzdem war vor dem Kriege von Sympathien für einen Anschluß an Frankreich so gut wie gar nichts zu verspüren, es wurden dergleichen Gedanken nur von einzelnen hier und da im savoyischen Niederlande gehegt, das mit Frankreich in einigem Handelsverkehr steht; der Masse der Bevölkerung waren sie hier so fremd wie in allen andern an Frankreich anstoßenden, französisch redenden Ländern. Es ist überhaupt eigentümlich, daß keines der Länder, die von 1792 bis 1812 Frankreich einverleibt waren, die geringste Lust besitzt, sich wieder unter die Fittiche des Adlers zu begeben. Man hat sich die Früchte der ersten französischen Revolution angeeignet, aber man ist die straffe Zentralisation der Verwaltung, die Präfektenwirtschaft, die Unfehlbarkeit der von Paris gesandten Apostel der Zivilisation herzlich satt. Die Sympathien, die durch die Juli- und Februarrevolution wiedererweckt wurden, hat der Bonapartismus sofort wieder erdrückt. Niemand hat Lust, Lambessa, Cayenne, die loi des suspects zu importieren. Dazu kommt noch die chinesische Abgeschlossenheit Frankreichs gegen fast allen Einfuhrhandel, die gerade an der Grenze am meisten empfunden wird. Die Erste Republik fand an allen Grenzen unterdrückte, ausgesogene Provinzen, zerstückelte, aller gemeinsamen natürlichen Interessen beraubte Völker vor, denen sie die Emanzipa- <581> tion des Landvolks, des Ackerbaus, der Industrie, des Handels brachte. Das Zweite Kaiserreich stößt an allen Grenzen auf größere Freiheit, als es selbst zu bieten vermag; es stößt in Deutschland und Italien auf erstarktes Nationalgefühl, in den kleineren Ländern auf konsolidierte Separatinteressen, die durch fünfundvierzig Jahre einer unerhört raschen industriellen Entwicklung groß geworden und nach allen Seiten mit dem Welthandel verzweigt sind; es bringt nichts als den Despotismus der römischen Cäsarenzeit, die Einsperrung des Handels und der Industrie in das große Gefängnis seiner Douanenlinie und höchstens noch freie Passage ins Land, wo der Pfeffer wächst.

Durch die Hauptkette der Alpen von Piemont getrennt, bezieht Savoyen fast alle seine Bedürfnisse von Norden her, von Genf und teilweise von Lyon, gerade wie andererseits der Kanton Tessin, der südlich der Alpenpässe liegt, sich von Genua und Venedig aus versorgt. Ist dieser Umstand ein Motiv der Trennung von Piemont. so ist er jedenfalls keins für den Anschluß an Frankreich, denn die kommerzielle Metropole von Savoyen ist Genf; dafür sorgten, außer der geographischen Lage, die Weisheit der französischen Zollgesetzgebung und die Schikanen der französischen Douane.

Aber trotz Sprache, Stammverwandtschaft und Alpenkette scheinen die Savoyarden nicht die geringste Lust zu haben, sich mit den imperialistischen Institutionen des großen französischen Mutterlandes beglücken zu lassen. Sie haben das traditionelle Gefühl, daß nicht Italien Savoyen, sondern Savoyen Piemont erobert hat. Von dem kleinen Niedersavoyen aus konzentrierte sich das kriegerische Bergvölkchen der ganzen Provinz zu einem Staat, um dann in die italische Ebene herabzusteigen und durch Eroberung wie durch Politik nacheinander Piemont, Monferrat, Nizza, die Lomellina, Sardinien, Genua sich zu annezieren. Die Dynastie ließ sich nieder in Turin und wurde italienisch, aber Savoyen blieb die Wiege des Staats, und das savoyische Kreuz ist heute das Wappen Norditaliens von Nizza bis Rimini und von Sondrio bis Siena. Frankreich eroberte Savoyen in den Feldzügen 1792 bis 1794, und bis 1814 hieß das Land Departement du Mont-Blanc. Aber 1814 war es durchaus nicht geneigt, französisch zu bleiben; Anschluß an die Schweiz oder Rücktritt in das alte Verhältnis zu Piemont war die einzige Frage. Trotzdem blieb das Niederland französisch bis nach den Hundert Tagen, wo es an Piemont zurückgegeben wurde. Die alte historische Tradition hat sich natürlich mit der Zeit abgeschwächt; Savoyen wurde vernachlässigt, die italienischen Provinzen des Staats bekamen zu sehr das Übergewicht; die Interessen der piemontesischen Politik <582> wiesen mehr und mehr nach Süden und Osten. Es ist um so merkwürdiger, daß gerade die Klasse der Bevölkerung noch am meisten separatistische Gelüste hegte, die doch vorgab, vorzugsweise die Trägerin der historischen Tradition zu sein: der alte konservative und ultramontane Adel; und diese Gelüste richteten sich auf einen Anschluß an die Schweiz, solange dort die alten oligarchischen Patrizierverfassungen herrschten; erst seit der allgemeinen Durchführung der Demokratie in der Schweiz scheinen sie eine andere Richtung erhalten zu haben; unter Louis-Napoleon ist Frankreich reaktionär und ultramontan genug geworden, um dem savoyischen Adel als Zufluchtsort aus der revolutionären piemontesischen Politik zu erscheinen.

Der Stand der Dinge scheint jetzt dieser zu sein: Im allgemeinen ist kein Verlangen vorhanden, Savoyen von Piemont loszutrennen. Im oberen Lande, in Maurienne, Tarentaise und Obersavoyen, ist die Bevölkerung entschieden für den status quo. Im Genévois, Faucigny und Chablais wird, wenn einmal eine Veränderung eintreten soll, der Anschluß an die Schweiz jedem andern vorgezogen. Nur in Niedersavoyen hier und da, und mehr noch im reaktionären Adel des Landes überhaupt gibt sich ein Verlangen nach Anschluß an Frankreich kund. Diese Stimmen sind aber so vereinzelt, daß selbst in Chambéry der weitaus größte Teil der Bevölkerung ihnen entschieden entgegensteht und der reaktionäre Adel (siehe die Erklärung Costa de Beauregards) seine Sympathien nicht zu gestehen wagt.

Soviel über die Frage nach der Nationalität und dem Volkswillen.

Wie steht es nun mit der militärischen Frage? Welche strategischen Vorteile gibt der Besitz Savoyens Piemont, welche würde er Frankreich geben? Und wie affiziert ein Besitzwechsel in Savoyen den dritten Grenzstaat, die Schweiz?

Von Basel bis Briançon macht die französische Grenze einen großen, stark eingehenden Bogen; ein gutes Stück Schweiz und ganz Savoyen springen hier vor gegen französisches Gebiet. Ziehen wir die Sehne dieses Bogens, so findet sich, daß das Kreissegment fast genau ausgefüllt wird von der französischen Schweiz und von Savoyen. Wäre Frankreichs Grenze bis an diese Sehne vorgeschoben, so würde sie von Lauterburg bis Fréjus ebenso eine im ganzen und großen grade Linie bilden wie von Lauterburg bis Dünkirchen; aber diese Linie wäre von einer ganz anderen Bedeutung für die Verteidigung als jene. Während die Nordgrenze ganz offen ist, wäre der nördliche Teil der Ostgrenze durch den Rhein, ihr südlicher durch die Alpen gedeckt. Zwischen Basel und dem Mont Blanc würde allerdings kein Bodenabschnitt die Grenzlinie bezeichnen; vielmehr würde hier die "natürliche Grenze" gebildet werden durch den Jura bis zum Fort l'Ecluse und <583> von dort durch den Alpenzweig, der vom Mont Blanc an das Arvetal südlich begrenzt und ebenfalls beim Fort l'Ecluse endigt. Aber wenn die natürliche Grenze einen einspringenden konkaven Bogen macht, dann erfüllt sie ja gerade ihren Zweck nicht und ist also keine natürliche Grenze mehr. Und wenn es sich findet, daß dies einspringende Kreissegment, das unsere Grenze so unnatürlich zurückdrückt, noch gar von Leuten bewohnt wird, welche "nach Sprache, Sitten und Zivilisation" Franzosen sind, muß hier nicht der Fehler, den die Natur beging, rektifiziert, muß hier nicht die theoretisch geforderte Konvexität oder doch Geradlinigkeit erst recht praktisch hergestellt, dürfen die jenseits der natürlichen Grenze lebenden Franzosen einem lusus naturae <Spiel der Natur> geopfert werden?

Daß dergleichen bonapartistische Räsonnements nicht ohne alle Bedeutung sind, beweist das Erste Kaiserreich, das von Annexation zu Annexation fortging, bis ihm das Handwerk gelegt wurde; die vollkommenste Grenze hat ihre schwachen Seiten, wo man verbessern und nachhelfen kann; und wenn man sich nicht zu genieren braucht, so kann man fort und fort annexieren ohne Ende. Jedenfalls geht aus obigem Räsonnement hervor: Was sich für die Annexation Savoyens sagen läßt, sowohl in Beziehung auf Nationalität wie auf die militärischen Interessen Frankreichs, das gilt auch für die französische Schweiz.

Die Alpen, die vom Col di Tenda eine nordnordwestliche Richtung verfolgen, wenden sich vom Mont Thabor, der den Grenzstein zwischen Piemont, Savoyen und Frankreich bildet, in ihrer Gesamtrichtung nach Nordnordost, und vom Mont Géant, dem Grenzpunkt zwischen Piemont, Savoyen und der Schweiz, noch mehr nach Osten abzubiegen. Vom Mont Thabor bis zum Mont Géant können demnach die Alpen nur dann die natürliche Grenze Frankreichs abgeben, wenn diese Grenze vom Mont Géant in gerader Linie nach Basel weiterläuft. Mit anderen Worten: Die Forderung der Annexation Savoyens an Frankreich schließt die Forderung der Annexation der französischen Schweiz in sich.

Auf der ganzen Strecke, wo der Hauptkamm der Alpen die jetzige Grenze der beiden Staaten bildet, ist nur ein chaussierter Paß: der Mont Genèvre. Außer ihm ist noch der Col d'Argentera, der von Barcelonnette ins Tal der Stura führt, mit Geschütz passierbar, und mögen auch noch andere Saumstraßen mit einiger Mühe für alle Waffen gangbar zu machen sein. Solange aber Savoyen und Nizza jedes zwei chaussierte Pässe über die Hauptkette der Alpen darbieten, wird jeder französische Angreifer, wenn <584> er noch nicht im Besitze dieser Provinzen ist, wenigstens eine derselben erobern, ehe er über die Alpen geht. Nun kommt hinzu, daß für einen Angriff von Frankreich aus der Mont Genèvre nur einen direkten Stoß auf Turin gestattet, während der Mont Cenis und noch mehr der Kleine Bernhard, die beiden savoyischen Pässe, eine Flankenwirkung ausüben; und daß für eine angreifende italienische Armee der Mont Genèvre einen großen Umweg für einen Stoß auf das Herz Frankreichs nötig macht, während der Mont Cenis die große Hauptstraße von Turin nach Paris bildet. Es wird also keinem Feldherrn einfallen, den Mont Genèvre anders als für Nebenkolonnen zu verwenden; die große Operationslinie wird immer durch Savoyen gehen.

Der Besitz Savoyens würde also Frankreich zunächst ein Terrain gehben, dessen es zu einem Angriffskriege gegen Italien notwendig bedarf und das es sonst erst erobern müßte. Eine in der Defensive befindliche italienische Armee wird allerdings Savoyen nie durch eine Entscheidungsschlacht verteidigen, aber sie kann durch einen lebhaft geführten Gebirgskrieg und durch Verderben der Straßen schon in den oberen Tälern der Arc und Isère (durch die die Mont-Cenis- und Bernhard-Straßen laufen) die Angreifer einigermaßen aufhalten und dann noch einige Zeit, gestützt auf die die Pässe sperrenden Forts, den nördlichen Abhang der Hauptalpenkette behaupten. Von einer absoluten Verteidigung wird hier natürlich ebensowenig die Rede sein wie sonst im Gebirgskrieg; die Entscheidungsschlacht wird für das Herabsteigen des Feindes in die Ebene aufbewahrt. Aber es wird eine Zeit sicher gewonnen, die für die Konzentration der Kräfte zur Hauptschlacht entscheidend sein kann und die besonders wichtig ist für ein so langgestrecktes und eisenbahnarmes Land wie Italien gegenüber einem kompakten, mit einem vortrefflichen strategischen Eisenbahnnetz überzogenen Lande wie Frankreich; und diese Zeit ist sicher verloren, wenn Frankreich Savoyen schon vor dem Kriege besitzt. Italien wird aber nie allein einen Krieg gegen Frankreich führen; und wenn es Bundesgenossen hat, so ist die Möglichkeit vorhanden, daß die beiden Armeen in Savoyen schon sich das Gleichgewicht halten. Die Folge davon wird sein, daß der Kampf um den Besitz der Alpenkette sich in die Länge zieht; daß im schlimmsten Falle die Italiener den nördlichen Abhang des Kammes einige Zeit behaupten und nach seinem Verlust den Franzosen den südlichen Abhang streitig machen, denn Herr eines Gebirgskammes ist nur, wer beide Abhänge besitzt und ihn passieren kann. Ob dann der Angreifer noch stark und entschlossen genug sein wird, dem Verteidiger in die Ebene zu folgen, steht sehr dahin.

<585> Die Feldzüge von 1792 bis 1795 in Savoyen geben uns ein Beispiel eines solchen unentschiedenen Gebirgskriegs, wenn auch die Aktion auf beiden Seiten schlaff, ungewiß und herumtappend war.

Am 21. September 1792 fiel General Montesquiou in Savoyen ein. Die 10.000 Sarden, die es verteidigten, waren nach der beliebten Mode der Zeit so sehr in einer Postenkette zersplittert, daß sie nirgends hinreichende Kräfte zum Widerstand vereinigen konnten. Chambéry und Montmélian wurden besetzt und die Franzosen durchzogen die Täler bis an den Fuß der Hauptalpenkette. Der Kamm selbst blieb gänzlich in den Händen der Sarden, die am 15. August 1793 nach einigen kleinen Gefechten unter General Gordon wieder auf die durch Versendungen zur Belagerung von Lyon geschwächten Franzosen vordrangen und sie aus dem Arc- und Isèretal nach Montmélian zurücktrieben. Hier sammelten sich die geschlagenen Kolonnen auf ihre Reserven, Kellermann kam von Lyon zurück, ging sofort (11. September) zum Angriff über und warf die Sarden mit geringer Mühe wieder bis auf die Alpenpässe zurück; hier war indes auch seine Kraft erschöpft, er mußte am Fuß der Kette stehnbleiben. Aber im Jahre 1794 wurde die Alpenarmee auf 75.000 Mann gebracht, denen die Piemontesen nur 40.000 nebst einer vielleicht disponiblen Reserve von 10.000 Österreichern entgegenstellen konnten. Trotzdem waren die ersten Angriffe der Franzosen sowohl auf den Kleinen Bernhard wie auf den Mont Cenis erfolglos, bis endlich am 23. April der Bernhard und am 14. Mai der Mont Cenis genommen wurden und dadurch der ganze Kamm in ihre Hände kam.

Es hatte also dreier Feldzüge bedurft, um den Piemontesen auf dieser Seite den Zugang zu Italien zu entreißen. Wenn auch eine solche entscheidungslose Kriegführung heutzutage unmöglich auf so kleinem Terrain sich durch mehrere Feldzüge fortschleppen könnte, so wird es doch immer bei einigem Gleichgewicht der Kräfte den Franzosen schwer werden, die Alpenpässe nicht nur zu forcieren, sondern auch stark genug zu bleiben, um ohne weiteres in die Ebene hinabzusteigen. Mehr als das leistet Savoyen nicht für Italien; das ist aber auch schon genug.

Nehmen wir dagegen an Savoyen werde mit Frankreich vereinigt. Wie steht dann Italien da? Der nördliche Abhang der Alpenkette ist in den Händen der Franzosen, die Italiener können nur noch den südlichen verteidigen, dessen Sperrpunkte und Stellungen vom hohen Rücken beherrscht oder doch eingesehen und meist auch in ziemlicher Nähe umgangen werden können. Die Gebirgsverteidigung ist auf ihren letzten und zugleich verlustreichsten Akt reduziert. Die Gelegenheit, Nachrichten zu <586> sammeln, die der Gebirgskrieg in Savoyen gibt, fällt ganz weg. Damit nicht genug. Solange Savoyen zu erobern war, konnte Frankreich unter Umständen sich damit begnügen, dies zu tun und dadurch Italien auf die passive Defensive zu beschränken; man hatte schon ein Resultat; die Truppen waren vielleicht anderswo besser zu verwenden; es war ein Interesse für Frankreich vorhanden, auf diesem Kriegstheater nicht zuviel Kräfte zu engagieren. Umgekehrt, ist Savoyen einmal definitiv eine französische Provinz, so ist es der Mühe wert, es nach französischer Weise offensiv zu verteidigen. Die passive Verteidigung kann in einer Kampagne ebensoviel Leute kosten wie ein Angriff auf Italien; so sehr viel mehr Truppen werden doch nicht zum Angreifen gebraucht, und welche ganz andern Resultate stehn in Aussicht!

Am Morgen nach der Annexation wird man französische Generalstabsoffiziere das Arc- und Isèretal hinaufreisen, die Seitentäler durchforschen, die Bergrücken besteigen, die besten Alpenführer ausfragen, Distanzen abschreiten, Steigerungen aufnehmen und sich alles sorgsam notieren sehn; alles das nicht mit Touristenwillkür, sondern nach einem sichtbaren, schon jetzt wahrscheinlich fertigen Plane. Ihnen werden bald nachfolgen Ingenieure und Entrepreneurs, und es wird nicht lange dauern, so werden im tiefsten Hochgebirge Straßen gebaut und Gebäude aufgemauert von denen weder der Landbewohner noch der Reisende wird sagen können, was sie zu bedeuten haben. Sie gehen auch weder Bauern noch Touristen etwas an, sie haben nur den Zweck, die strategischen Naturanlagen Savoyens zu entwickeln.

Der Mont-Cenis-Paß, wie der des Mont Genèvre führen beide auf Susa. Werden die südlichen Abhänge beider von französischen Kolonnen angegriffen, so kommen die sie verteidigenden italienischen Abteilungen in eine vollständige Zwickmühle. Von welcher Seite der Hauptangriff kommen wird, können sie nicht wissen; so viel aber wissen sie von vornherein, daß, wenn einer der beiden Pässe forciert und Susa genommen wird, die den andern Paß verteidigenden Truppen abgeschnitten sind. Wird der Mont Cenis zuerst forciert, so können sich die Truppen am Mont Genèvre allenfalls noch mit Hinterlassung ihrer Artillerie, Bagage und Pferde auf Fußsteigen in das Tal von Fenestrelle retten; dringen aber die Angreifer über den Mont Genèvre bis Susa vor, so sind die am Mont Cenis befindlichen Truppen ohne allen Rückzug. Unter solchen Umständen beschränkt sich die Verteidigung dieser beiden Pässe auf eine bloße Demonstration. Nun aber laufen die Operationslinien der beiden französischen Abteilungen, die Straßen von Grenoble noch Briançon und von Chambéry nach Lans-le-Bourg, im ganzen parallel und sind nur durch einen vom Mont Thabor <587> abzweigenden Bergrücken getrennt, über den viele Fuß- und Saumpfade laufen. Sobald die Franzosen eine Querstraße über diesen Rücken bauen, die nur vier deutsche Meilen lang zu sein braucht, so können sie ihre Massen beliebig von der einen auf de andere Straße werfen, die Zwickmühle wird noch wirksamer, und die Verteidigung der Alpenlinie gegen einen Anfall von Italien gewinnt auf dieser Seite enorm an Stärke.

Gehen wir weiter. Savoyen besitzt noch einen zweiten Alpenpaß, den Kleinen St. Bernhard. Viele französische Autoritäten behaupten, daß Napoleon besser getan hätte, statt des Großen Bernhard diesen Paß zu seinem Zuge über die Alpen zu verwenden. Der Paß ist niedriger, wird also im Frühjahr eher schneefrei und ist überhaupt leichter zu übersteigen. Die Kolonnen konvergieren von Lyon und Besançon aus mit mindestens ebenderselben Leichtigkeit nach Albertville wie nach Lausanne; und beide Pässe führen auf Aosta und Ivrea. Schon das einzige Faktum, das eine Polemik über den Vorzug des einen oder des andern Passes für Napoleons Zwecke im Feldzug von 1800 entstehen konnte, beweist, von welcher Wichtigkeit dieser Kleine Bernhard für die Kriegführung ist. Allerdings werden ganz eigentümliche Verhältnisse vorausgesetzt, ehe der Kleine Bernhard zu einer Wiederholung der strategischen Umgehung von Marengo dienen kann. Man hat jetzt größere Heere, die ein Hochgebirge nie in einer einzigen Kolonne durchziehen können; eine Umgehung mit nur 30.000 Mann würde heutzutage in den meisten Fällen sich ihren eigenen Ruin bereiten. Dies ist alles richtig für den ersten und zweiten Feldzug. Wenn aber, wie es den Anschein hat, alle von beiden Seiten mit Ausdauer geführten Kriege durch die Festungsgruppen und verschanzten Lager der neuesten Zeit einen andern, langwierigeren Charakter bekommen, wenn ein Krieg nicht mehr wirklich ausgefochten werden kann, ehe in mehreren Kampagnen die Streitenden sich langsam aneinander abgerungen haben, dann werden auch die Armeen schließlich kleiner und kleiner werden. Nehmen wir den Fall an, ein Krieg habe mehrere Jahre in der oberitalischen Ebene hin und her gewogt; die Franzosen, die unterdessen Casale oder Alessandria oder beide genommen, würden über die Alpen geworfen und der Kampf komme hier mit beiderseits ziemlich abgeschwächten Kräften zum Stehen. Wird es auch dann, mit unsern Eisenbahnen, mit der sich jetzt schon überall erleichternden Artillerie eine solche Kunst sein, 30.000 bis 40.000 Mann und selbst mehr über den Kleinen Bernhard rasch nach Ivrea zu werfen? Von Ivrea können sie sich auf ihren festen Depotplatz in der Ebene ziehen, wo sie das Nötigste finden und sich durch die Garnison verstärken; sollte dies nicht möglich sein, so kann ihnen der Weg nach Turin und die Rück- <588> zugsstraße über die nächsten beiden Pässe sicher nicht durch eine stärkere Macht verlegt werden. Diese 30.000 bis 40.000 Mann, mit den Garnisonen, werden aber zu solcher Zeit schon eine sehr respektable Macht sein und im schlimmsten Falle und nach Zersprengung der nächsten feindlichen Korps den Krieg um ihr verschanztes Lager mit aller Aussicht auf Erfolg führen können. Man bedenke doch, wie die Armeen schon 1814 zusammengeschrumpft waren und mit wie wenigen Kräften Napoleon in jenem Jahr so Großes leistete.

Die Bernhardstraße läuft, wie gesagt, im Tal der Isère wie die des Mont Cenis in dem der Arc. Beide Flüsse entspringen am Mont Iseran. Oberhalb Bourg-Saint-Maurice verläßt die Bernhardstraße den Fluß, um sich gradeaus über den Berg zu wenden, während die Talschlucht (Val de Tignes) rechts nach Süden hinauf verläuft. Unterhalb Lans-le-Bourgeoisie, bei Termignon, mündet ein kleines Nebental (Val Saint-Barthélemy) in das Arctal. Aus dem Val de Tignes laufen drei Fußpfade über den Bergrücken, zwischen dem Mont Iseran und dem Mont Chaffequarré, ins Val Saint-Barthélemy. Eine dieser drei Einsattelungen wird wohl chaussierbar sein. Wird hier eine Straße gebaut, so ist in Verbindung mit der früher angedeuteten Querstraße das strategische Straßensystem Savoyens - als französische Grenzprovinz - schon ziemlich weit entwickelt. Dicht hinter dem Hauptkamm der Alpen würde eine Straße laufen, die die drei wichtigsten Pässe untereinander verbindet und es möglich macht, in zwei Tagen die Hauptmassen vom Bernhard und Mont Genèvre in die Nähe des Mont Cenis, in vier bis fünf Tagen sie von einer Flanke auf die andere zu versetzen. Wird dies System noch durch eine Straße von Moutiers über den Paß von Pralognan nach Saint-Barthélemy und Lans-le-Bourg und eine zweite von Moutiers auf Saint-Jean-de-Maurienne vervollständigt, so würde schwerlich noch etwas zuzusetzen sein. Es käme nur noch darauf an, die zur Unterstützung - nicht zur absoluten Sperrung - nötigen Befestigungen anzulegen und Moutiers, den Hauptstraßenknoten, als Zentraldepot vor dem gewaltsamen Angriff sicherzustellen. Dabei handelt es sich in allem um weniger als fünfundzwanzig deutsche Meilen neuer Straßenanlagen.

Werden diese oder ähnliche Anlagen gemacht - und daß der französische Generalstab schon jetzt einen Plan zur vollen strategischen Ausbeutung Savoyens fertig hat, ist unbezweifelbar -, was wird dann aus der Verteidigung des südlichen Alpenabhanges? Und welche gewaltigen Streiche würde nicht - im Falle der Verteidigung - ein neuer Lecourbe, gestützt auf ein festes Zentraldepot und auf kleine Forts, ausführen können, wenn ihm ein solches Straßennetz die Beweglichkeit sicherte? Man sage nicht, daß der <589> Gebirgskrieg bei unseren jetzigen großen Heeren nicht mehr vorkommen kann. Solange die Heere wirklich groß und entscheidende Überlegenheit auf einer Seite, ist das richtig genug. Aber die Heere werden sich an den modernen Festungen schon kleinreiben, und es werden Fälle genug eintreten, wo die Überlegenheit dem Gleichgewicht Platz macht. Man geht natürlich nicht ins Gebirge, wenn man nicht muß, aber der Weg von Paris nach Italien und von Italien nach Paris wird immer durch Savoyen oder das Wallis führen.

Fassen wir zusammen. Durch seine geographische Lage und speziell durch seine Alpenpässe würde Savoyen, als französische Provinz, einer nur wenig überlegenen französischen Armee erlauben, sich in den Besitz des italienischen Abhanges der Alpen zu setzen, Streifzüge in die Täler zu machen und eine weit größere Bedeutung anzunehmen, als ihr nach ihren Streitkräften zukäme. Mit einiger Vorbereitung des Kriegstheaters aber würde die französische Armee so günstig gestellt werden, daß sie bei sonstigem vollem Gleichgewicht der Kräfte ihrem Gegner sofort überlegen würde; und zudem würde der Kleine Bernhard die Italiener zu einer entfernten Detachierung zwingen, während er unter Umständen den Franzosen die Gelegenheit zu entscheidenderen Offensivstößen bietet.

Savoyen, in der Hand Frankreichs, ist Italien gegenüber ein ausschließlich offensives Werkzeug.

Wie steht es nun um die Interessen der Schweiz?

Bei der gegenwärtigen Lage der Dinge kann die Schweiz von keinem einzelnen ihrer Grenznachbarn anders als in der Front angegriffen werden. Wir rechnen hierbei Süddeutschland ohne Österreich für einen und Österreich für einen zweiten Grenznachbarn, da wir ja erst eben gesehen haben, daß diese beiden nicht immer notwendig zusammengehen. Süddeutschland kann nur auf der Linie Basel-Konstanz angreifen, Österreich nur auf der Linie Rheineck-Münster, Italien auf der Linie Poschiavo-Genf und Frankreich auf der Linie Genf-Basel. Überall hat die Schweizer Armee ihre Rückzugslinie senkrecht hinter ihrer Front; überall deckt ihr neutrales Grenzgebiet mehr oder weniger die Flanken. Eine strategische Umgehung kann also nicht schon vor Beginn des Kampfes eingeleitet werden, solange nur einer der Grenznachbarn die Schweiz angreift. Österreich allein besitzt Flankenvorteile über Graubünden, aber die Schweizer würden ohnehin unter keinen Umständen dem österreichischen Angriff in Graubünden den Entscheidungskampf liefern, sondern weiter nordwestlich, im Vorgebirge der Alpen. Die Abtretung der Lombardei durch Österreich hat diesen Vorteil für die Schweiz bedeutend erhöht; bis vor einem Jahr besaß Österreich <590> allerdings Mittel zu einem im Hochgebirge bei überlegenen Kräften durchaus nicht immer verwerflichen konzentrischen Angriff auf die südwestliche Schweiz. Indessen beschränkte sich die Wirkung eines solchen Angriffs doch nur auf Graubünden, Tessin, Uri und Glarus, also den mindestbevölkerten und ärmsten Teil des Landes, und setzte schon eine starke Zersplitterung der feindlichen Kräfte voraus, wenn sie, von Italien her, über den Gotthard hinausgehen sollte. Die gegenwärtige günstige Verteilung der Grenznachbarn ist für die Schweiz mehr wert als die europäischen Neutralitätsgarantien. Sie gibt ihr die Chance, bei dem Angriff durch ein einziges ihrer Grenzländer die Verteidigung möglichst in die Länge zu ziehen, und das ist doch am Ende das einzige, worauf ein so kleines Land rechnen kann.

Von dem Augenblick an, wo Savoyen französisch oder nur von französischen Truppen besetzt wird, ist von einer Verteidigung der ganzen französischen Schweiz, vom Bernischen Jura bis zum Niederwallis, keine Rede mehr. Genf kann schon jetzt innerhalb 24 Stunden in ein französisches Depot umgewandelt werden; der Jura ist umgangen, ebensowohl wie die Linie der Zihl und des Neuchâteler und Bieler Sees; die Franzosen, statt sich in den Defilees herumzuschlagen und dann den schmalen Weg zwischen diesen beiden Seen und durchs Große Moos zu forcieren, werden gemächlich durch das reiche Hügelland der Waadt herummarschieren, und die erste Position für ernsten Widerstand fällt zusammen mit derjenigen, in der die erste Hauptschlacht angenommen werden muß, mit der Stellung vor Bern hinter Saane und Sense; denn eine Umgehungskolonne aus Savoyen über Villeneuve und Vevey wird jeden Widerstand in der Waadt nutzlos machen.

Bis jetzt ist die erste Verteidigungslinie der Schweiz gegen Frankreich der Jura, ein vortreffliches Terrain für ungeübte, des Landes kundige und von der Bevölkerung unterstützte Milizen. Er ist aber schon wegen der vielgezackten Grenzlinie, die seine parallelen Kämme oft quer durchschneidet, nicht ernstlich zu halten. Die zweite wichtigere Linie ist die der Zihl, die den Neuchâteler und Bieler See verbindet und vom Bieler See in die Aare fließt. Sie wird rechts durch den unteren Lauf der Aare, links durch die Orbe fortgesetzt, welche sich in das obere Ende des Neuchâteler Sees, bei Yverdon, ergießt. Die Zihl ist zwischen den Seen nur eine halbe Meile und vom Bieler See bis zur Aare nur eine Meile lang. Die eigentliche Front der Stellung liegt zwischen den Seen und ist noch verstärkt durch das in der Niederung liegende Große Moos, das sich vom Neuenburger See bis gegen Aarberg erstreckt und nur auf der Hauptstraße zu passieren ist. Eine <591> Umgehung dieser Front auf der rechten Flanke über Büren wird durch die Reserve bei Aarberg zu paralysieren sein; eine weiter ausholende setzt den Brückenschlag über die Aare voraus und exponiert leicht ihre Verbindungen. Eine Umgehung links kann nur durch die Waadt geschehen und kann nacheinander an der Orbe, der Mentue und der Broye aufgehalten werden. Dieser Widerstand kann nicht durch eine Umgehung längs des Genfer Sees auf Freiburg gelähmt werden, weil die längs des Neuenburger Sees sich zurückziehenden Schweizer immer den kürzeren Weg dorthin behalten. So ist die Stellung an der Zihl zwar nur unter besonderen Umständen, bei großen Fehlern des Feindes, zu einer Hauptschlacht brauchbar, aber sie erfüllt doch alles, was die Schweiz von ihr verlangen kann: Sie gibt Gelegenheit, den Feind aufzuhalten, und namentlich die Kontingente der Südwestschweiz einzuziehen.

Sobald aber Savoyen in den Händen des Feindes ist, macht eine von Saint-Gingolph über Villeneuve und Châtel-Saint-Denis vordringende Kolonne jeden Widerstand in der Waadt nutzlos, denn sie ist schon bei Vevey kaum zwei Meilen weiter von Freiburg als die Schweizer an der Orbe, kann ihnen also den Rückzug verlegen. Von Saint-Gingolph bis Freiburg sind ungefähr zwölf Meilen; Freiburg liegt einen Tagemarsch hinter der linken Flanke der Zihlstelleng zwischen den Seen und drei Meilen von Peterlingen (Payerne), wo die durch die Waadt marschierenden französischen Kolonnen mit der savoyischen in Verbindung treten können. In drei bis vier Tagen kann also der Angreifer, wenn ihm Savoyen zu Gebote steht, die Verbindung des Wallis durch das Rhônetal abschneiden, Genf, Waadt und Freiburg bis zur Saane erobern und der Zihlstellung mit der Hauptmacht in den Rücken kommen, wodurch Basel, Solothurn, der Bernische Jura und Neuenburg ihm in die Hände fallen. Und dies sind keine unwirtbaren Hochgebirgsländer, sondern gerade die reichsten und industriellsten Kantone der Schweiz.

Die Schweiz fühlte so sehr den strategischen Druck, den Savoyen auf sie ausübt, daß sie 1814 die bekannte Neutralisierung des nördlichen Teils erwirkte und 1816 sich von Sardinien die Zusage kontraktlich ausstellen ließ, es wolle das Chablais, Faucigny und Genévois nie an eine andre Macht abtreten als an die Schweiz selbst. Louis-Napoleon läßt auch überall das Gerücht ausbreiten, er verlange nur das südliche Savoyen; das Chablais, Faucigny und ein Teil des Genévois bis an den Bach les Usses solle an die Schweiz fallen. Da ein Geschenk das andre wert ist, so benutzt er nach der "Times" Herrn Vogt dazu, bei der Schweizer Landesvertretung unterderhand anzuklopfen, ob man ihm nicht dafür den freien Gebrauch der <592> Simplonstraße zugestehen wolle. Erste Andeutung, daß der Simplon auch ein natürlicher Grenzpfahl Frankreichs ist, wie er dies unter dem Ersten Kaiserreich auch wirklich war.

Nehmen wir an, die Schweiz würde durch den neuen Kanton Nordsavoyen bereichert. Die Grenze würde gebildet durch den Bergrücken, der, zwischen dem Kleinen Bernhard und dem Mont Blanc sich vom Hauptstock trennend, nach der Rhôneklause (Fort l'Ecluse) läuft, wäre also scheinbar ganz "natürlich". Aber über diesen Bergrücken laufen aus dem Isère- und Rhônetal folgende Straßen: 1. Seyssel nach Genf; 2. Annecy nach Genf; 3. Annecy nach Bonneville; 4. Albertville nach Sallanches. Von Bonneville wie von Sallanches laufen Straßen über den nördlichen Bergrücken des Arvetals nach Thonon. Das Land liegt also einer auf Thonon am südlichen Ufer des Genfer Sees gerichteten Offensive ganz offen, und da die Entfernungen von Seyssel oder Albertville bis Thonon nicht über fünfzehn Meilen betragen, so wurde der Besitz Nordsavoyens der schweizerischen Defensive nur höchstens fünf Tage Zeit mehr einbringen. Da aber an eine Verteidigung dieses neuen Kantons durch andere Truppen als einen Landsturm doch nicht zu denken ist, so kann die angreifende Kolonne ebensogut von Genf direkt auf Thonon - fünf Meilen gehen, von wo sie nur noch etwa vier Meilen von Saint-Gingolph entfernt ist. In diesem Falle verschafft Nordsavoyen der Schweiz also nur drei Tage Frist. Außerdem kann es nur dazu dienen, die schweizerischen Verteidigungskräfte zu zersplittern. Die Rückzugslinie einer von Frankreich aus angegriffenen schweizerischen Armee geht offenbar über Bern durchs Niederland, wo möglich der Aare entlang auf Zürich, wo nicht, auf Luzern, und von beiden Orten ins Oberrheintal. Die Armee darf sich also nicht so weit südlich stellen, daß sie von diesen Linien ab- und ins Hochgebirge gedrängt werden kann. Wie wir sahen, kann die Waadt noch füglich ins schweizerische Verteidigungssystem gezogen werden; Nordsavoyen und das durch Aufhören der savoyischen Neutralität geöffnete Wallis sicher nicht. Man weiß aber, wie in einem bedrohten, von Milizen verteidigten Föderativstaat jeder seine eigne Heimat verteidigt haben will. Man weiß, die Truppen werden murren, die Nationalräte werden schreien, wenn ganze Städte und Kantone ohne Widerstand preisgegeben werden, und nun gar ein neuer Kanton, den die Schweiz bloß um ihrer Verteidigung willen erhalten hat. Im Generalstab selbst will jeder dazu beitragen, daß seine Gegend speziell gedeckt werde, und in einer Milizarmee, wo im besten Falle die Disziplin von der gemütlichen Friedenskneiperei her lax genug ist, wird durch alle diese Einflüsse dem Chef das Zusammenhalten der Truppen schwer genug gemacht. In <593> neun aus zehn Fällen ist zu wetten, daß der Chef sich schwach finden läßt oder nachgeben muß und daß Nordsavoyen durch Truppen besetzt wird, die der Verteidigung durchaus nicht nützen können, die aber jedenfalls auf dem Rückzug leiden und teilweise ins Wallis geworfen werden, wo sie dann sehen mögen, wie sie über den Gemmi oder die Furka wieder zur Hauptarmee kommen.

Die einzige Sicherheit für die Schweiz ist die, daß Nordsavoyen weder ihr noch Frankreich gehört; dann ist es in einem Krieg dieser beiden Staaten in der Tat neutral und deckt die Schweiz wirklich. Gehört es aber der Schweiz, so ist das nicht viel besser für sie, als wenn es Frankreich gehörte. Sein Wert beläuft sich auf drei, höchstens fünf Tage Zeitgewinn, von denen der größte Teil aber nachher in der Verteidigung der Waadt wieder verlorengeht. Was ist das gegen die Sicherheit, unter allen Umständen nur zwischen Basel und Genfer See angegriffen werden zu können?

Nordsavoyen ist für die Schweiz ein Danaergeschenk, es ist mehr als das: Dies Geschenk impliziert eine Drohung. Frankreich beherrscht im vorausgesetzten Falle die ganze französische Schweiz militärisch und verbietet jede auch nur halbernste Verteidigung derselben. Die Annexation Südsavoyens durch Frankreich stellt sofort die Forderung der Einverleibung der französischen Schweiz auf.

III

<594> Die Grafschaft Nizza liegt bekanntlich am Fuße der Seealpen, und ihre Grenze gegen das Genuesische senkt sich eine Meile östlich von Oneglia, bei Cervo, ans Meer hinab. Die westliche Hälfte spricht einen provenzalischen, die östliche, jenseits der Roja, einen italienischen Dialekt. Mit Ausnahme einiger Dörfer am Var ist aber das Italienische überall Schriftsprache, nur in der Stadt Nizza hält ihm, infolge des starken Fremdenzuflusses, das Französische die Waage.

Wir müssen hier, um die Nationalitätsfrage richtig zu behandeln, einen Augenblick auf die Sprachverhältnisse der westlichen Alpen eingehen.

Auf allen Punkten, wo das Italienische in den Alpen mit anderen Sprachen zusammenstößt, hat es sich als der schwächere Teil erwiesen. An keinem einzigen Punkte dringt es über die Alpenkette vor; die romanischen Dialekte Graubündens und Tirols sind durchaus unabhängig vom Italienischen. Dagegen haben alle angrenzenden Sprachen ihm südlich der Alpen Gebiet abgewonnen. In den westlichen Gebirgsdistrikten der venetianischen Provinz Udine wird krainisch-slowenisch gesprochen. In Tirol ist das deutsche Element Herr des ganzen südlichen Abhanges und des ganzen oberen Etschtales; weiter südlich, mitten in italienischem Gebiet, finden sich die deutschen Sprachinseln der sette comuni und der tredici comuni; am südlichen Fuße des Gries, sowohl in der tessinischen Val di Cavergno wie in der piemontesischen Val Formazza, im oberen Val [di] Vedro am Fuße des Simplon, endlich am ganzen südöstlichen Abhang des Monte Rosa, in der Val de Lys, der oberen Val Sesia und Val Anzasca wird deutsch gesprochen. Von der Val de Lys an beginnt die französische Sprachgrenze, die das ganze Tal von Aosta und den östlichen Abhang der Cottischen Alpen, vom Mont Cenis an, umfaßt, so daß nach gewöhnlicher Annahme die Quellen sämtlicher Flüsse des oberen Po-Bassins ihr angehören. <595> Der gewöhnlichen Annahme nach geht diese Grenze von Demonte (an der Stura) etwas westlich vom Col di Tenda vorbei an die Roja und folgt ihr bis ans Meer.

Über die Grenze zwischen deutscher oder slawischer und italienischer Volkssprache kann kein Zweifel sein. Anders aber ist es, wo zwei romanische Sprachen aneinanderstoßen, und zwar nicht die italienische Schriftsprache, il vero toscano <das eigentliche Toskanisch>, und nicht das gebildete Nordfranzösisch, sondern der piemontesische Dialekt des Italienischen und die in tausend verkommenen Patois untergegangene südfranzösische Sprache der Troubadours, die wir der Kürze halber mit dem ungenauen, aber bekannten Ausdruck Provenzalisch bezeichnen wollen. Wer jemals auch nur oberflächlich die vergleichende Grammatik der romanischen Sprachen oder provenzalische Literatur getrieben, dem muß in der Lombardei und Piemont sofort eine große Ähnlichkeit der Volkssprache mit dem Provenzalischen auffallen. Im Lombardischen beschränkt sich diese Ähnlichkeit freilich nur auf den äußerlichen Habitus der Mundart; die Abstoßung der männlichen vokalischen Endungen, während die weiblichen im Singular beibehalten werden, sowie der meisten vokalischen Endungen in der Konjugation geben ihr einen provenzalischen Klang, während andrerseits das nasale n, die Aussprache des u und œu ans Nordfranzösische erinnern. Aber die Wortbildung und Lautlehre ist wesentlich italienisch, und wo Abweichungen vorkommen, erinnern sie sonderbarerweise oft, wie auch im Rätoromanischen, ans portugiesische.(3) Der piemontesische Dialekt stimmt in seinen Grundzügen ziemlich mit dem lombardischen überein, nähert sich indes schon mehr dem Provenzalischen und wird ohne Zweifel in den Cottischen und Seealpen ihm so nahekommen, daß es schwer sein wird, <596> eine bestimmte Grenze zu ziehen.(4) Dazu stehen die meisten südfranzösischen Patois der nordfranzösischen Schriftsprache nicht viel näher als die piemontesische selbst. Hier kann also die Volkssprache wenig über die Nationalität entscheiden; der provenzalisch redende Alpenbauer lernt ebenso leicht Italienisch wie Französisch und braucht das eine eben so selten wie das andre; ihm ist das Piemontesische ganz gut verständlich, mit dem er weit genug kommt. Wenn indes ein Anhalt gefunden werden soll, so kann ihn nur die Schriftsprache geben, und diese ist allerdings in ganz Piemont und Nizza italienisch - die einzige Ausnahme bilden etwa das Tal von Aosta und die Waldensertäler, wo stellenweise französische Schriftsprache vorherrscht.

Die französische Nationalität Nizzas behaupten zu wollen auf Grund eines provenzalischen Patois, das zudem nur die halbe Provinz umfaßt, ist also von vornherein unsinnig. Noch unsinniger aber wird diese Behauptung, wenn man bedenkt, daß die provenzalische Sprache sich auch über die Pyrenäen hinaus erstreckt, Aragon, Katalonien und Valencia umfaßt und in diesen spanischen Provinzen, trotz einiger kastilischen Anklänge, sich nicht nur im ganzen weit reiner erhalten hat als irgendwo in Frankreich, sondern auch noch eine Existenz als Schriftsprache in der Volksliteratur behauptet. Was soll aus Spanien werden, wenn Louis Bonaparte nächstens diese drei Landstriche ebenfalls als nationalfranzösisch in Anspruch nimmt?

Französische Sympathien in der Grafschaft Nizza zustande zu bringen, scheint noch schwieriger als in Savoyen. Vom Lande hört man gar nichts, in der Stadt fallen alle Versuche noch eklatanter durch als in Chambéry, obwohl es viel leichter ist, in diesem Seebad einen Haufen Bonapartisten zu konzentrieren. Die Idee, den Nizzaner Garibaldi zum Franzosen zu machen, ist in der Tat nicht übel.

Wenn Savoyen von der höchsten Bedeutung für die Verteidigung Piemonts ist, so ist es Nizza noch viel mehr. Von Nizza führen drei Straßen nach Italien: die Straße der Corniche längs der Küste nach Genua, die <597> über den Col di Nava von Oneglia nach dem Tal des Tanaro nach Ceva und die über den Col di Tenda nach Cuneo (Coni). Die erste wird zwar schließlich durch Genua gesperrt, gibt aber einer vordringenden Kolonne schon bei Albenga und wieder bei Savona Gelegenheit, auf gut chaussierten Wegen über die Apenninen zu gehn, und bietet außerdem eine Menge Saumpfade und Fußsteige übers Gebirge dar; wie diese im Kriege zu benutzen sind, davon hat Napoleon 1796 ein Beispiel gegeben. Die dritte über den Col di Tenda ist für Nizza, was der Mont Cenis für Savoyen; sie führt direkt auf Turin, gibt aber wenig oder keine Flankenvorteile. Die mittlere über den Col di Nava dagegen führt gradewegs auf Alessandria und wirkt daher im Süden wie der Kleine Bernhard im Norden, nur weit direkter und mit viel weniger Umständen. Sie hat zudem noch den Vorteil, daß sie der Küstenstraße nahe genug liegt, um von ihr bedeutende Unterstützung beim Angriff zu empfangen. Die auf der Navastraße vordringende Kolonne kann bereits bei Garessio wieder in Verbindung treten mit der auf der Küstenstraße bis Albenga vorgeschrittenen Kolonne, da hier die Querstraße von Albenga einmündet; hat sie Ceva passiert, so führt der Weg nach Alessandria über Carcare, wo die Straße von Savona einmündet und das halbwegs zwischen Ceva und Savona liegt. Zwischen Ceva, Savona und Oneglia aber liegt hohes Gebirge, wo sich die Verteidigung nicht halten kann. Dazu kommt, daß der nördliche Abhang des Col di Nava mit den Tanaroquellen auf nizzanishem Gebiet liegt, der Paß also von vornherein demjenigen gehört, der vor dem Krieg Nizza besaß.

Eine französische Armee, der Nizza schon vor Ausbruch des Krieges zu Gebote gestanden, bedroht von dort aus Flanke, Rücken und Verbindungen jeder westlich von Alessandria vorgeschobenen italienischen Abteilung. Die Abtretung Nizzas an Frankreich bedeutete also, für den Krieg, die Zurückverlegung des Sammelpunktes der italienischen Streitkräfte bis Alessandria, die Verzichtleistung auf die Verteidigung des eigentlichen Piemonts, die überhaupt nur in Nizza und Savoyen geführt werden kann.

Die Geschichte des Revolutionskriegs gibt auch hier das beste Beispiel.

Am 1. Oktober 1792 passierte General Anselme mit einer Division von 9.000 Mann den Var, während gleichzeitig die französische Flotte (12 Linienschilfe und Fregatten) innerhalb 1.000 Schritt vor Nizza Anker warf. Die Einwohner, der Revolution günstig, insurgierten sich, und die piemontesische schwache Besatzung (2.000 Mann) zog eiligst nach dem Col di Tenda ab, wo sie bei Saorgio Stellung nahm. Die Stadt Nizza nahm die Franzosen mit offenen Armen auf, diese aber plünderten das ganze Land <598> aus, verbrannten den Bauern ihre Häuser, notzüchtigten ihre Weiber und waren weder durch Anselmes Tagesbefehle noch durch die Proklamationen der Konvents-Kominissäre in Ordnung zu halten. Es war dies der ursprüngliche Kern der späteren Armee von Italien, mit der sich der General Bonaparte seine ersten Lorbeeren holte. Der Bonapartismus scheint in seinen Anfängen sich stets auf das Lumpentum stützen zu müssen; ohne eine Gesellschaft vom zehnten Dezember kommt er nirgends auf die Beine. - Die kriegführenden Parteien blieben lange untätig einander gegenüber; die Franzosen hielten die Stadt und Umgegend besetzt, die Piemontesen, verstärkt durch eine östreichische Division, blieben Herren des Gebirges und standen in einer stark verschanzten Stellung mit dem Zentrum bei Saorgio. Im Juni 1793 machten die Franzosen einige im ganzen fruchtlose Angriffe; im Juli nahmen sie den Col d'Argentera, der in den Rücken der feindlichen Stellung führt. Nach der Einnahme von Toulon (Dezember 1793) erhielt die Armee von Italien bedeutende Verstärkungen, und General Bonaparte wurde ihr attachiert. Im nächsten Frühling kombinierte er einen Angriff auf das Lager von Saorgio, der am 28. April mit dem vollständigsten Erfolg ausgeführt wurde und den Franzosen den Besitz sämtlicher Seealpenpässe eintrug. Jetzt schlug Bonaparte vor, die Alpenarmee mit der von Italien im Tal der Stura zu vereinigen und Piemont zu erobern; aber der Plan wurde nicht angenommen. Bald darauf verlor Bonaparte durch den neunten Thermidor seinen mächtigsten Beschützer, den jüngeren Robespierre, und damit seinen Einfluß im Kriegsrat; er blieb nur noch einfacher Divisionär. Die Armee trat in die Defensive, erst als der östreichische General Colloredo mit gewöhnlicher Langsamkeit gegen Savona vorrückte, um den Franzosen die höchst wichtige Verbindung mit dem neutralen Genua abzuschneiden, fand Bonaparte Gelegenheit, über ihn herzufallen und ihm eine Schlappe beizubringen. Trotzdem blieb der Weg nach Genua bedroht, und die Kampagne von 1795 wurde eröffnet mit der Vertreibung der Franzosen aus der ganzen genuesischen Riviera. Die Armee der Ostpyrenäen war inzwischen durch den Frieden mit Spanien disponibel geworden und wurde nach Nizza dirigiert, wo sie bis zum November ganz versammelt war. Schérer, der jetzt in den Seealpen kommandierte, ging nun nach einem von Masséna ausgearbeiteten Plan sofort zum Angriff über. Während Sérurier die Piemontesen am Col di Tenda beschäftigte, ging Masséna im hohen Gebirg zur Umgehung von Loano vor, das von Augereau in der Front angegriffen wurde (23. November). Der Plan gelang vollkommen, die Östreicher verloren 2.000 Tote, 5.000 Gefangene und 40 Kanonen und wurden vollständig von den Piemontesen getrennt. <599> Die Verbindung mit Genua war jetzt wieder sichergestellt, und der Besitz des Gebirges verblieb den Franzosen unbestritten während des Winters. Im Frühling 1796 endlich erhielt Bonaparte den Oberbefehl der Armee von Italien, und nun nahm die Sache eine andere Wendung. Gestützt auf den Besitz Nizzas und der Riviera di Ponente, zog er von Savona aus ins Gebirg, schlug die Östreicher bei Montenotte, Millesimo und Dego und trennte sie dadurch von den Piemontesen, die nun, von einer überlegenen französischen Macht umgangen und isoliert, nach ein paar Rückzugsgefechten sofort Frieden schlossen. So trugen vier glückliche Gefechte in den oberen Tälern der Bormida und des Tanaro den Franzosen den militärischen Besitz von ganz Piemont ein, ohne daß der direkte Stoß auf Turin nötig wurde; der Krieg wälzte sich sofort nach der Lombardei, und Piemont wurde Teil der französischen Operationsbasis.

Während der ersten drei Kriegsjahre also wurde Italien vollkommen durch Nizza geschützt. Erst im dritten Feldzug gingen die Pässe der Seealpen verloren, und erst im vierten kamen sie in Wirksamkeit - dann aber auf eine sofort entscheidende Weise. Nach den Gefechten der ersten Woche im Gebirge war eine bloße kräftige Demonstration gegen die Piemontesen hinreichend, um ihnen ihre hülflose Lage und die Notwendigkeit der Kapitulation klarzumachen. Der eigentliche Stoß konnte fast ohne Unterbrechung in der Richtung auf Mailand fortgehen; alles zwischen Bormida, Tessin und Alpen gelegene Gebiet fiel den Franzosen von selbst in die Hände.

Ist Nizza französische Provinz, so befindet sich Italien Frankreich gegenüber in der Lage, in der es sich am Schlusse des Feldzugs von 1794 befand. Den Franzosen steht nicht nur durch den Col di Tenda das Sturatal, durch den Col di Nava das Tanarotal offen; einer überlegenen angreifenden französischen Armee kann der Weg nach Albenga und Savona nicht streitig gemacht werden, und damit steht sie, drei bis vier Tage nach Eröffnung des Feldzuges, wieder am Ausgangspunkt der Kampagne von 1796. Wo soll sich ihr die italienische Hauptmacht gegenüberstellen? In der Riviera von Genua hat sie keinen Raum zur Entwickelung; westlich vom Belbo und Tanaro gefährdet sie ihre Verbindungen mit Alessandria, der Lombardei, und der Halbinsel. Das einzige was sie tun kann, ist, von Alessandria südlich vorgehen und die aus dem Gebirge debouchierenden einzelnen Kolonnen mit vereinigter Macht anfallen. Dies setzt aber voraus, daß die Verteidigung der Alpengrenze schon von vornherein aufgegeben ist, denn alle am Col di Tenda und weiter westlich und nordwestlich stehenden Abteilungen wären sonst abgeschnitten. Mit anderen Worten, der Besitz von <600> Nizza gibt Frankreich die Herrschaft über die Alpen, die dann für Italien keine Schutzmauer mehr sind, und damit die militärische Herrschaft über Piemont.

Nizza gibt Frankreich dieselben Flankenvorteile im Süden, die ihm Savoyen im Norden gibt, nur noch vollständiger und direkter. Wenn nun aber schon Nizza oder Savoyen, jedes für sich, das eigentliche Piemont einem französischen Angriff vollständig bloßlegen, welche Gewalt wird Frankreich erst über Piemont haben, wenn es beide Provinzen besitzt! Piemont wird von ihnen eingeklemmt wie in einer Zange; auf der ganzen Linie vom Kleinen Bernhard bis herum zum Col di Nava und den Bergwegen oberhalb Savona kann das Zwickmühlenspiel der Scheinangriffe in endlosen Variationen gespielt werden, bis endlich der wirkliche Angriff auf einem der Flankenpunkte erfolgt und alle italienischen Abteilungen abschneidet, die sich im Gebirge zu fest verbissen haben. Es bliebe einer italienischen Armee nur übrig, sich bei Alessandria und Casale zu konzentrieren, die Alpen nur bewachen zu lassen und, sobald die Hauptrichtung des Angriffs sich herausstellt, mit gesammelter Kraft auf sie zu werfen. Ist dies zugegeben, so heißt das mit anderen Worten, daß nicht nur die Alpenkette, sondern auch das ganze piemontesische Po-Bassin von vornherein dem Feinde preisgegeben wird und daß die erste Defensivstellung einer italienischen Armee gegen Frankreich hinter den Wällen von Alessandria ist. Mit Savoyen und Nizza als Vormauern ist Piemont erste Operationsbasis der italienischen Armee; ohne sie gehört Piemont, militärisch gesprochen, der französischen Offensive und muß ihr erst durch einen Sieg auf piemontesischem Boden und durch die Eroberung der savoyischen und nizzanischen Pässe wieder entrissen werden.

Die Annexation Savoyens und Nizzas ist gleichbedeutend, wo nicht mit der politischen, doch mit der militärischen Annexation Piemonts an Frankreich. Wenn künftig Viktor Emanuel an der Villa della Regina bei Turin die prächtige Alpenkette überschaut, von der ihm dann kein Berg mehr gehören wird, so wird ihm dies klar genug werden.

Aber, heißt es, sobald ein kräftiger Militärstaat in Oberitalien sich bildet, bedarf Frankreich Nizzas und Savoyens zu seiner eigenen Verteidigung.

Daß Savoyen das französische Verteidigungssystem bedeutend verstärken würde, haben wir gesehen. Nizza würde ihm nur insofern Verstärkung bringen, als auch diese Provinz erobert sein müßte, ehe die jetzigen französischen Alpendepartements angegriffen werden könnten. Die Frage ist aber, ob ein starker italienischer Militärstaat Frankreich überhaupt so bedrohen würde, daß es eines besonderen Schutzes gegen ihn bedürfte.

<601> Italien, selbst wenn es ganz vereinigt wäre, könnte mit seinen 26 Millionen Einwohnern nie anders als im Bunde mit Deutschland einen Angriffskrieg gegen Frankreich fuhren. In einem solchen Kriege aber würde Deutschland stets die große Masse der Streitkräfte stellen und Italien die untergeordnete Macht sein. Die allein würde hinreichen, das Hauptgewicht des Angriffs von den Alpen an den Rhein und die Maas zu verlegen. Nun kommt aber noch die Lage des entscheidenden Angriffspunktes, Paris, im Norden Frankreichs hinzu. Der empfindlichste Angriff auf Frankreich wird immer der von Belgien aus sein; ist Belgien neutral, der vom deutschen linken Rheinufer und vom badischen Oberrhein aus. Jeder andere macht einen Umweg und ist schon etwas exzentrisch, nicht direkt auf Paris gerichtet. Und wenn Clausewitz schon ("Vom Kriege", VI. Buch, Kap. 23) sich darüber lustig macht, wie 1814 eine Armee von 200.000 Mann, statt gerades Weges nach Paris zu marschieren, sich am Narrenseil einer törichten Theorie auf dem Umwege durch die Schweiz nach dem Plateau von Langres führen läßt, was würde er erst zu Feldzugsplänen sagen, die den Hauptangriff gegen Paris durch Oberitalien und Savoyen oder gar Nizza dirigieren wollten? Jeder Angriff durch Savoyen steht im entschiedenen Nachteil gegen den vom Rhein wegen der längeren Verbindungslinie, die noch dazu über die Alpen geht, wegen des längeren Weges bis Paris und endlich wegen der Attraktionskraft des großen verschanzten Lagers von Lyon, das ihn in den meisten Fällen zum Stehen bringen wird. Im Feldzuge von 1814 spielen daher auch die durch Italien in Frankreich eindringenden Korps so gut wie gar keine Rolle.

Mit solchen Verteidigungsmitteln braucht Frankreich an dieser seiner ohnehin gedecktesten Grenze und gegen einen seiner schwächsten Nachbarn in der Tat keine Gebietsausdehnung. Wäre Frankreichs jetzige Grenze überall ebenso weit von Paris entfernt, ebenso stark durch Natur und Kunst und durch Erschwerung der feindlichen Verbindungen, wie sie es gegen Italien ist, Frankreich wäre unangreifbar. Wenn aber der Bonapartismus gerade diesen Punkt hervorsucht, um hier die sogenannten natürlichen Grenzen in Anspruch zu nehmen unter dem Vorwand, Frankreich könne sie zu seiner Verteidigung nicht entbehren - um wieviel leichter wird es ihm da erst werden, sein Ansprüche auf den Rhein zu begründen!

Nizza wird stets italienisch bleiben, mag es auch momentan an Frankreich abgetreten werden. Savoyen mag und wird wahrscheinlich später einmal selbst seine Einverleibung mit Frankreich wünschen, wenn die großen europäischen Nationalitäten sich mehr konsolidiert haben. Es ist aber etwas ganz anderes, ob Savoyen freiwillig französisch wird, wenn Deutschland <602> und Italien ihre nationale Einheit auch politisch und militärisch verwirklicht und dadurch ihre europäische Machtstellung bedeutend erhöht haben - oder ob ein auf Eroberung angewiesener Herrscher wie Louis-Napoleon es sich von einem noch geteilten Italien erhandelt, um seine Oberherrlichkeit über dies Italien zu verewigen und zugleich für die Theorie der natürlichen Grenzen den ersten Präzedenzfall hinzustellen

IV

<603> Uns Deutsche gebt in diesem savoyisch-nizzanischen Schacher hauptsächlich dreierlei an.

Erstens, Louis-Napoleons praktische Erklärung der italienischen Unabhängigkeit: Italien in mindestens drei, womöglich vier Staaten geteilt, Venedig östreichisch, und Frankreich durch den Besitz Savoyens und Nizzas Herr von Piemont. Das päpstliche Gebiet, nach Abtrennung der Romagna, wird Neapel vom oberitalischen Staat gänzlich abtrennen und jede Vergrößerung des letzteren nach Süden zu verhindern, da dem Papst sein übriger Territorialbesitz "garantiert" werden soll. Zu gleicher Zeit wird dem oberitalischen Staate Venedig als nächste Lockspeise vorgehalten, die nationale Bewegung Italiens behält in Östreich ihren unmittelbarsten und ersten Gegner; und damit das neue Königreich nach Belieben von Louis-Napoleon gegen Östreich in Bewegung gesetzt werden kann, bemächtigen sich die Franzosen aller die Westalpen beherrschenden Stellungen und schieben ihre Vorposten bis neun Meilen von Turin vor. Dies ist die Stellung, die der Bonapartismus sich in Italien gemacht hat und die ihm bei einem Krieg um die Rheingrenze eine Armee aufwiegt. Sie gibt Österreich den besten Vorwand, höchstens sein Bundeskontingent zu liefern - wenn überhaupt soviel. Hier könnte nur eins helfen: ein gänzlicher Umschwung der deutschen Politik mit Bezug auf Italien. Daß Deutschland Venedig bis an den Mincio und Po nicht braucht, glauben wir an einem andern Orte nachgewiesen zu haben. An dem Bestand der päpstlichen und neapolitanischen Herrschaft haben wir ebenfalls kein Interesse, wohl aber an der Herstellung eines starken und einigen Italiens, das eine eigene Politik haben kann. Unter gegebenen Umständen können wir also Italien mehr bieten als der Bonapartismus; es treten vielleicht bald Zeitumstände ein, wo es wichtig wird, dies im Gedächtnis zu haben.

<604> Zweitens, die unumwundene Proklamation der Theorie von den natürlichen Grenzen Frankreichs. Daß diese Theorie von der französischen Presse nicht nur mit Bewilligung, sondern auf direkten Befehl der Regierung wieder auf die Fahne geschrieben worden, daran kann niemand zweifeln. Vorderhand wendet man die Theorie nur auf die Alpen an; es ist dies noch ziemlich unverfänglich; Savoyen und Nizza sind kleine Länder, die nur 575.000 und 236.000 Einwohner resp. haben, also Frankreichs Bevölkerung nur um 811.000 Seelen vermehren würden, und ihre politisch-militärische Bedeutung tritt nicht auf den ersten Blick hervor. Daß aber bei dem Anspruch auf diese beiden Provinzen gerade der Gesichtspunkt der natürlichen Grenzen wieder hervorgehoben und dem französischen Volk in Erinnerung gebracht wird, daß das Ohr Europas an das Wort sich wieder gewöhnen soll wie an andere seit zehn Jahren abwechselnd ausgesprochene und wieder fallengelassene bonapartistische Stichworte - das ist es, was uns Deutsche speziell angeht. In dem Französisch des Ersten Kaiserreichs, das nachher so emsig von den Republikanern des "National" fortgeredet wurde, wird unter der natürlichen Grenze Frankreichs par excellence der Rhein verstanden. Noch heute, wenn von natürlicher Grenze die Rede ist, denkt kein Franzose an Savoyen oder Nizza, sondern nur an den Rhein. Welche Regierung, die sich noch dazu auf die Eroberungstraditionen und Eroberungsgelüste in der Nation stützt, dürfte es wagen, den Ruf nach den natürlichen Grenzen wieder zu provozieren und dann Frankreich mit Savoyen und Nizza abspeisen zu wollen?

Die erneuerte Proklamation der Theorie von den natürlichen Grenzen Frankreichs ist eine direkte Drohung gegen Deutschland und eine nicht mehr mißzuverstehende Tatsache, die dem nationalen Gefühl recht gibt, das sich vor einem Jahr in Deutschland äußerte. Zwar nicht Louis-Napoleon, aber die von ihm geleitete Presse erklärt jetzt jedem, der es hören will, daß es sich allerdings um nichts anders gehandelt hat und noch handelt, als um den Rhein.

Drittens und hauptsächlich, die Stellung Rußlands zu der ganzen Intrige. Als der Krieg im vorigen Jahre losbrach, als Gortschakow selbst eingestanden, daß Rußland "schriftliche Verpflichtungen" gegen Louis-Napoleon eingegangen war, da drangen Gerüchte ins Publikum über den Inhalt dieser Verpflichtungen. Sie kamen aus verschiedenen Quellen und bestätigten sich im wesentlichen wechselseitig. Rußland verpflichtete sich, vier Armeekorps mobil zu machen und an der preußischen und österreichischen Grenze aufzustellen, um dadurch Louis-Napoleons Spiel zu erleichtern. Für den Verlauf des Krieges selbst, hieß es, waren drei Fälle vorgesehen:

<605> Entweder macht Österreich am Mincio Frieden; in diesem Falle verliert es die Lombardei und wird, von Preußen und England isoliert, leicht zu bewegen sein, in die russisch-französische Allianz einzutreten, deren weitere Zwecke (Teilung der Türkei, Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich) dann auf anderem Wege verfolgt werden.

Oder es kämpft weiter um den Besitz von Venetien; dann wird es ganz aus Italien vertrieben, und Ungarn wird insurgiert, das unter Umständen dem russischen Großfürsten Konstantin übergeben wird; Lombardei und Venedig fallen an Piemont, Savoyen und Nizza an Frankreich.

Oder aber Östreich kämpft fort und der Deutsche Bund steht ihm bei; dann tritt Rußland aktiv in den Kampf ein, Frankreich erhält das linke Rheinufer, und Rußland bekommt freie Hand in der Türkei.

Wir wiederholen es: Diese Angaben über den wesentlichen Inhalt der russisch-französischen Allianz waren bereits beim Ausbruch des Kriegs bekannt und veröffentlicht. Ein bedeutender Teil davon hat durch die Ereignisse seine Bestätigung erhalten. Wie steht es um den Rest?

Dokumentarische Beweise dafür zu liefern, ist der Natur der Sache nach vorderhand unmöglich. Diese kommen erst ans Tageslicht, wenn die betreffenden Ereignisse selbst der Geschichte angehören. Die durch Tatsachen und Dokumente über frühere Geschichtsperioden (z.B. die 1830 in Warschau gefundenen russischen Aktenstücke) festgestellte Politik Rußlands kann allein als Wegweiser in diesem Intrigengewirr dienen; dazu genügt sie aber vollständig.

Zweimal in diesem Jahrhundert hat sich Rußland mit Frankreich verbündet, und jedesmal hatte die Allianz die Teilung Deutschlands zum Zweck oder zur Basis.

Das erstemal auf dem Floß bei Tilsit. Rußland gab Deutschland vollständig dem französischen Imperator preis und nahm sogar, zum Unterpfand dafür, ein Stück von Preußen an. Dafür erhielt es freie Hand in der Türkei; es beeilte sich, Bessarabien und die Moldau zu erobern und seine Truppen über die Donau zu schicken. Daß Napoleon bald nachher "die türkische Frage studierte" und seine Meinung über den Gegenstand bedeutend veränderte, war für Rußland einer der Hauptgründe zum Krieg von 1812.

Das zweitemal 1829. Rußland schloß mit Frankreich einen Vertrag, wonach Frankreich das linke Rheinufer und Rußland dafür wieder freie Hand in der Türkei bekommen sollte. Diesen Vertrag zerriß die Julirevolution; die betreffenden Papiere fand Talleyrand vor, als die Anklage gegen das Ministerium Polignac vorbereitet wurde, und warf sie ins Feuer, um der französischen und russischen Diplomatie den kolossalen Skandal zu <606> ersparen. Dem exoterischen Publikum gegenüber bilden die Diplomaten aller Länder einen Geheimbund und werden sich nie gegenseitig öffentlich kompromittieren.

Im Kriege von 1853. verließ sich Rußland auf die Heilige Allianz, die es durch die Intervention in Ungarn und die Demütigung von Warschau hergestellt und durch das Mißtrauen Östreichs und Preußens gegen Louis-Napoleon gekräftigt glaubte. Es täuschte sich. Östreich erstaunte die Welt durch die Größe seines Undankes (es hatte seine Schuld gegen Rußland inzwischen mit Wucherzinsen in Schleswig-Holstein und in Warschau abbezahlt) und durch die konsequente Wiederaufnahme seiner traditionellen antirussischen Politik an der Donau. Der russische Kalkül schlug fehl nach dieser Seite hin; nach der andern rettete ihn wieder Verrat im feindlichen Lager.

Soviel war klar: Die fixe Idee der Eroberung Konstantinopels konnte jetzt nur noch durch eine französische Allianz durchgeführt werden. Andrerseits hatte noch nie eine Regierung in Frankreich bestanden, der die Eroberung der Rheingrenze so sehr Bedürfnis war, als der von Louis-Napoleon. Die Lage war noch günstiger als 1829. Rußland hatte das Spiel in der Hand; Louis-Napoleon konnte nicht anders, als ihm die Kastanien aus dem Feuer holen.

Vor allen Dingen galt es, Östreich zu vernichten. Mit derselben Zähigkeit, mit der Östreich den Franzosen von 1792 bis 1809 im Felde widerstanden, mit derselben Zähigkeit hatte es von 1814 an - und dies ist sein einziges, aber unleugbares Verdienst - den russischen Eroberungsgelüsten an der Weichsel und der Donau diplomatisch Widerstand geleistet. 1848/49, als die Revolution in Deutschland, Italien und Ungarn Östreich an den Rand des Zerfalls brachte, da rettete Rußland Östreich - nicht durch eine Revolution sollte es zerfallen, denn diese hätte ja der russischen Politik die Leitung der frei gewordenen Bestandteile aus der Hand gewunden. Trotzdem hatte die selbständig gewordene Bewegung der einzelnen Nationalitäten von 1848 an Östreich unfähig gemacht, fernerhin Rußland entgegenzutreten, und damit den letzten inneren, historischen Grund für den Bestand Östreichs aufgehoben.

Dieselbe anti-östreichische, nationale Bewegung sollte jetzt der Hebel werden, um Östreich aus seinen Fugen zu heben. In Italien zuerst; später, wenn nötig, in Ungarn. Rußland operiert nicht wie der erste Napoleon; gegen Westen namentlich, wo es auf dichte, seinem eigenen Volk an Zivilisation überlegene Bevölkerungen stößt, geht es nur langsam vor. Die Anfänge der Unterjochung Polens datieren von Peter dem Großen, und noch <607> ist sie nur teilweise vollendet. Langsame, aber sichere Erfolge sind ihm ebenso erwünscht als rasche, entscheidende Schläge mit großen Resultaten; aber beide Möglichkeiten sind stets vorgesehen. In der Verwendung der ungarischen Insurrektion im Kriege von 1859, in ihrer Zurückstellung in die Reserve für den zweiten Akt zeigt sich deutlich die russische Hand.

Wenn aber Rußland in einem Falle mit der Schwächung Östreichs durch den kurzen Feldzug von 1859 zufrieden war, hatte es darum keine andern Eventualitäten vorgesehen? Hatte es seine vier ersten Armeekorps mobilisiert, bloß um diese Genugtuung zu haben? Wie, wenn Östreich nicht nachgab? Wenn die militärischen und politischen Kombinationen Preußen und das übrige Deutschland - wie dies bei Fortführung des Krieges nicht anders möglich war - zwangen, für Östreich einzutreten? Wie dann? Welche Verpflichtungen konnte Rußland für diesen Fall mit Frankreich eingegangen sein?

Der Vertrag von Tilsit und der von 1829 geben die Antwort. Frankreich muß ebenfalls seinen Teil an der Beute haben, wenn Rußland sich an der Donau ausdehnt und direkt oder indirekt in Konstantinopel herrscht. Die einzige Kompensation, die Rußland Frankreich bieten kann, ist das linke Rheinufer; die Opfer müssen wieder von Deutschland getragen werden. Die natürliche wie die traditionelle Politik Rußlands gegenüber Frankreich ist: Frankreich den Besitz des linken Rheinufers zu versprechen oder ihm dazu im gegebenen Fall zu verhelfen gegen die Gestattung und Unterstützung russischer Eroberungen an der Weichsel und der Donau; und dann Deutschland, das zum Dank die russischen Eroberungen anerkennt, in der Wiedereroberung des an Frankreich verlorenen Gebiets zu unterstützen. Zur Ausführung dieses Programmes kann es natürlich nur in großen geschichtlichen Krisen kommen, was aber durchaus nicht verhindert, daß solche Eventualitäten 1859 ebensogut vorgesehen waren wie 1829.

Daß die Eroberung Konstantinopels das unverrückbare Ziel der russischen auswärtigen Politik, daß ihm zur Erreichung dieses Ziels jedes Mittel recht ist, das heute noch beweisen zu wollen, wäre lächerlich. Wir wollen hier nur an eins erinnern. Rußland kann nie die Teilung der Türkei fertigbringen, außer durch eine Allianz mit Frankreich oder mit England. Als direkte Offerten an England 1844 passend erschienen, ging der Kaiser Nikolaus nach England und brachte selbst ein russisches Memoire über die Teilung der Türkei mit, worin den Engländern u.a. Ägypten versprochen wurde. Die Anerbietungen wurden abgelehnt, Lord Aberdeen aber legte <608> das Memoire in ein Kästchen, das er seinem Nachfolger im auswärtigen Ministerium versiegelt übergab; und jeder spätere auswärtige Minister las das Aktenstück, versiegelte es wieder und gab es so seinem Nachfolger, bis die Sache 1853 in den Debatten des Oberhauses endlich an die Öffentlichkeit kam. Gleichzeitig wurde die bekannte Unterhaltung des Kaisers Nikolaus mit Sir Hamilton Seymour über den "kranken Mann" veröffentlicht, worin England ebenfalls Ägypten und Candia angeboten wurden, während Rußland sich scheinbar mit geringen Vorteilen begnügen wollte. Die russischen Versprechungen an England waren also 1853 dieselben wie 1844; die Versprechungen an Frankreich sollten 1859 weniger freigebig gewesen sein als 1829?

Louis-Napoleon ist seiner Persönlichkeit wie seiner Lage nach darauf angewiesen, den Zwecken Rußlands zu dienen. Der vorgebliche Erbe einer großen militärischen Tradition, hat er die Erbschaft der Niederlagen von 1813 bis 1815 ebenfalls übernommen. Die Armee ist seine Hauptstütze, sie muß er befriedigen durch neue kriegerische Erfolge, durch die Züchtigung der Mächte, die in jenen Jahren Frankreich darniederwarfen, durch die Wiederherstellung der natürlichen Grenzen des Landes. Erst wenn die französische Trikolore am ganzen linken Rheinufer weht, erst dann ist die Schmach der zweimaligen Eroberung von Paris ausgewischt. Und um alles dies zu erreichen, dazu ist ein starker Bundesgenosse nötig; die Wahl ist nur zwischen England und Rußland. England mit seinen oft wechselnden Ministerien ist mindestens nicht verläßlich, selbst wenn ein englischer Minister sich zu solchen Projekten hergeben sollte. Aber Rußland? Gegen ein billiges Äquivalent hatte es schon zweimal seine Bereitwilligkeit zu einer Allianz auf ähnlicher Grundlage bewiesen.

Niemals kam der russischen Politik ein Mann gelegener als Louis-Napoleon, nie war ihr eine Situation günstiger als die seine. Auf dem französischen Thron ein Herrscher, der Krieg führen muß, der erobern muß, nur um bestehen zu können, der eine Allianz braucht und für diese Allianz auf Rußland allein angewiesen ist, das war ihr noch nie geboten worden. Von der Zusammenkunft in Stuttgart an sind alle letzten Triebfedern der französischen Politik nicht mehr in Paris, im Kopfe Louis-Napoleons, sondern in Petersburg, im Kabinett des Fürsten Gortschakow, aufzusuchen. Der "geheimnisvolle" Mann, der dem deutschen Philister eine solche ehrfurchtsvolle Scheu einflößt, reduziert sich auf ein Werkzeug, mit dem die russische Diplomatie spielt und dem sie erlaubt, den ganzen Schein des Großmanntums für sich einzustreichen, während sie mit den reellen Vorteilen zufrieden ist. Rußland, das nie eine Kopeke und einen Soldaten opfert, <609> wenn es nicht unbedingt nötig ist, das aber die andern europäischen Mächte sich nach Möglichkeit untereinander zerfleischen und schwächen läßt, Rußland mußte erst durch den Gortschakowschen Vertrag die Erlaubnis geben, ehe Louis-Napoleon sich als Befreier Italiens in die Brust werfen konnte. Und als die Berichte über die Stimmung in Russisch-Polen zu schlecht lauteten, um in nächster Nachbarschaft, in Ungarn irgendeine Schilderhebung zu gestatten, als die versuchte Mobilmachung der vier ersten russischen Armeekorps die noch nicht überwundene Erschöpfung des Landes bewies; als die Bauernbewegung sowohl wie der Widerstand des Adels Dimensionen annahmen, die in einem auswärtigen Kriege gefährlich werden konnten - da erschien ein Generaladjutant des russischen Kaisers im französischen Hauptquartier, und der Friede von Villafranca wurde geschlossen. Vorderhand hatte Rußland genug erreicht. Östreich war hart gezüchtigt für den "Undank" von 1854, härter, als Rußland es je erwarten konnte. Seine Finanzen, vor dem Kriege auf dem Punkt, sich zu ordnen, auf Dezennien ruiniert, sein ganzes inneres Regierungssystem rettungslos zusammengebrochen, seine Herrschaft in Italien vernichtet, sein Gebiet vermindert, sein Heer entmutigt und des Vertrauens auf seine Führer beraubt; die Ungarn, die Slawen und die Venetianer in ihrer nationalen Bewegung so gehoben, daß Losreißung von Östreich jetzt offen als ihr Ziel ausgesprochen wurde; von jetzt an konnte Rußland allerdings die Rücksicht auf Östreichs Widerstand ganz außer Augen lassen und darauf rechnen, es nach und nach in ein Werkzeug zu verwandeln. Das waren die Erfolge für Rußland; Louis-Napoleon nahm nichts heim als eine sehr magere gloire für seine Armee, eine sehr zweifelhafte für sich selbst und eine sehr unsichere Anwartschaft auf Savoyen und Nizza - zwei Provinzen, die ihm im besten Fall Danaergeschenke sind und ihn noch fester an Rußland ketten.

Die weiteren Pläne werden momentan vertagt, nicht aufgegeben. Auf wie lange, wird von der Entwicklung der internationalen Verhältnisse in Europa abhängen, von der Zeitdauer, für die Louis-Napoleon sein Prätorianerheer ruhig zu halten vermag, und von dem größeren oder geringeren Interesse, das Rußland an einem neuen Kriege hat.

Was Rußland uns Deutschen gegenüber für eine Rolle zu spielen gedenkt, das sagt das bekannte Rundschreiben deutlich genug, das Fürst Gortschakow im vorigen Jahr an die deutschen Kleinstaaten richtete. Noch nie ist Deutschland solch eine Sprache geboten werden. Die Deutschen werden es hoffentlich nie vergessen, daß Rußland sich unterfing, ihnen verbieten zu wollen, einem angegriffenen deutschen Staate zu Hülfe zu kommen.

<610> Die Deutschen werden hoffentlich Rußland noch vieles andre nicht vergessen.

1807 im Frieden von Tilsit ließ sich Rußland ein Stück Gebiet seines Bundesgenossen Preußen, den Bezirk Bialystok, abtreten und überlieferte Deutschland an Napoleon.

1814, als sogar Östreich (siehe Castlereaghs Memoiren) die Notwendigkeit eines unabhängigen Polens vertrat, inkorporierte sich Rußland fast das ganze Großherzogtum Warschau (d.h. ehemals östreichische und preußische Provinzen) und nahm dadurch eine Offensivstellung gegen Deutschland ein, die uns so lange bedroht, bis wir es daraus vertrieben haben werden. Die nach 1831 erbaute Festungsgruppe Modlin, Warschau, Iwangorod erkennt sogar der Russophile Haxthausen als eine direkte Drohung gegen Deutschland an.

1814 bis 1815 hat Rußland alles aufgeboten, um die deutsche Bundesakte in der gegenwärtigen Form zustande zu bringen und dadurch die Ohnmacht Deutschlands nach außen hin zu verewigen.

1815 bis 1848 stand Deutschland unter direkter Hegemonie von Rußland. Wenn Östreich ihm an der Donau opponierte, so führte es auf den Kongressen von Laibach, Troppau, Verona alle Wünsche Rußlands im Westen Europas aus. Diese Hegemonie Rußlands war direktes Resultat der deutschen Bundesakte. Als Preußen sich ihr 1841 und 1842 einen Moment zu entziehen suchte, wurde es sofort in seine frühere Stellung zurückgenötigt. Die Folge war, daß beim Ausbruch der Revolution von 1848 Rußland ein Zirkular erließ, worin die Bewegung in Deutschland als eine Revolte in der Kinderstube behandelt wurde.

1829 schloß Rußland mit dem Ministerium Polignac den seit 1823 durch Chateaubriand vorbereiteten (und von ihm öffentlich eingestandenen ) Vertrag, der das linke Rheinufer an Frankreich verschacherte.

1849 unterstützte Rußland Östreich in Ungarn nur unter der Bedingung, daß Östreich den Bundestag herstelle und den Widerstand Schleswig-Holsteins vernichte; das Londoner Protokoll sicherte Rußland die Erbfolge in der ganzen dänischen Monarchie schon in nächster Zeit und gab ihm Aussicht zur Verwirklichung des schon seit Peter dem Großen gehegten Planes, in den Deutschen Bund (früher das Reich) zu kommen.

1850 wurden Preußen und Östreich in Warschau vor den Zar vorgeladen, der zu Gericht über sie saß. Die Demütigung war nicht geringer für Östreich als für Preußen, obschon in den Augen der Kannegießerei Preußen sie allein zu tragen hatte.

1853, in der Unterhaltung mit Sir H. Seymour, verfügte der Kaiser <611> Nikolaus über Deutschland, als wenn es ihm erbeigentümlich gehöre. Östreich, sagte er, sei ihm sicher. Preußen tat er nicht einmal die Ehre der Erwähnung an.

Und endlich 1859, als die Heilige Allianz ganz aufgelöst schien, der Vertrag mit Louis-Napoleon, der Angriff Frankreichs auf Österreich mit russischer Bewilligung und Unterstützung, und das Zirkular Gortschakows, um den Deutschen jede Hülfeleistung an Österreich in der unverschämtesten Weise zu untersagen.

Das ist es, was wir seit dem Anfang dieses Jahrhunderts den Russen zu verdanken haben und was wir Deutschen hoffentlich nie vergessen werden.

In diesem Augenblick noch droht uns die russisch-französische Allianz. Frankreich selbst kann uns nur in einzelnen Momenten gefährlich werden, und auch dann nur durch die Allianz mit Rußland. Aber Rußland bedroht und insultiert uns stets, und wenn Deutschland sich dagegen erhebt, dann setzt es den französischen Gendarmen in Bewegung durch die Aussicht auf das linke Rheinufer.

Sollen wir es uns noch langer gefallen lassen, daß dies Spiel mit uns getrieben wird? Sollen wir fünfundvierzig Millionen es noch länger dulden, daß eine unserer schönsten, reichsten und industriellsten Provinzen fortwährend zum Köder dient, den Rußland der Prätorianerherrschaft in Frankreich vorhält? Hat das Rheinland keinen anderen Beruf, als von Krieg überzogen zu werden, damit Rußland freie Hand an der Donau und Weichsel bekommt?

Das ist die Frage. Wir hoffen, daß Deutschland sie bald mit dem Schwerte in der Hand beantwortet. Halten wir zusammen, dann werden wir den französischen Prätorianern und den russischen Kapustniki schon heimleuchten.

Inzwischen haben wir einen Bundesgenossen bekommen an den russischen Leibeigenen. Der Kampf, der jetzt in Rußland zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse der Landbevölkerung ausgebrochen ist, untergräbt schon jetzt das ganze System der russischen auswärtigen Politik. Nur solange Rußland keine innere politische Entwicklung hatte, war dies System möglich. Aber diese Zeit ist vorbei. Die von der Regierung und dem Adel in jeder Weise gehobene industrielle und agrikole Entwicklung ist auf einen Grad gediehen, der die bestehenden sozialen Zustände nicht mehr erträgt. Ihre Aufhebung ist eine Notwendigkeit einerseits, eine Unmöglichkeit ohne gewaltsame Veränderung andrerseits. Mit dem Rußland, das von Peter dem Großen bis Nikolaus bestand, fällt auch die auswärtige Politik dieses Rußlands.

<612> Wie es den Anschein hat, ist es Deutschland vorbehalten, diese Tatsache den Russen nicht nur mit der Feder, sondern auch mit dem Schwer klarzumachen. Kommt es dahin, so ist das eine Rehabilitation Deutschlands die Jahrhunderte politischer Schmach aufwiegt.


Fußnoten von Friedrich Engels

(1) Siehe den Bericht des "Times"-Korrespondenten im östreichischen Lager über Solferino. Bei Cavriana wandte der alte Feldzeugmeister Nugent, der als Amateur zugegen war, vergebens alles auf, um mehrere Bataillone Grenzer vorzubringen. <=

(2) Siehe die Erklärung des Kapitäns Blakeley, des ersten Korrespondenten der "Times" im östreichischen Lager, in diesem Blatte, worin obige Tatsache mitgeteilt wird. In der Darmstädter "Allg[emeinen] Militär-Z[ei]t[un]g" befindet sieh eine Verteidigung Gyulays, worin der Aufenthalt von fünf Stunden durch ein aus Dienstrücksichten nicht mitteilbares und von Gyulays Zutun unabhängiges Ereignis motiviert und der Verlust der Schlacht hierauf geschoben wird. Blakeley hatte aber schon mitgeteilt, worin das Ereignis bestand. <=

(3) Lat. clavis, ital. chiave, port. chave, lomb. ciàu (sprich: tscháu) = Schlüssel. Die A[ugsburger] "A[llgemeine] Z[eitung]" läßt sich im vorigen Sommer aus Verona schreiben (siehe Berichte aus dem östreichischen Hauptquartier), dort riefen sich die Leute "Tschau, Tschau" auf der Straße an. Das weise Blatt, das überhaupt Sprachschnitzer liebt, war offenbar in Verlegenheit um den Schlüssel zu diesem Tschau, Tschau. Das Wort heißt s-ciau (stschau) und ist die analoge lombardische Form für schiavo = Sklave, Diener, wie man sich auch bei uns grüßt: "Ihr Diener, gehorsamer Diener", usw. - Von wirklich provenzalischen Formen im Lombardischen fallen uns nur zwei ein: das weibliche Partizip der Vergangenheit auf -da (amà, amada) und die erste Person des Präsens auf i (ami = ich liebe, saludi = ich grüße). <=

(4) Entscheidende Kennzeichen ital[ienischer] und provenzal[ischer] Dialekte wären wohl: 1. die italienische Vokalisierung des l nach Konsonanten (fiore, piu, bianco), die dem Provenzalischen fremd ist, 2. die Bildung des Plurals der Hauptwörter aus dem lateinischen Nominativ (donne, cappelli). Das Provenzalische und Altfranzösische hatte zwar im Mittelalter auch diese Bildung für den Nominativ, während alle andern Kasus aus dem lateinischen Akkusativ (Endung -s) abgeleitet waren. Alle modernen prov[enzalischen] Dialekte haben indes nur die letztere Form, soviel wir wissen. Trotzdem könnte es an der Grenze zweifelhaft erscheinen, ob die erhaltene nominativische Form aus dem Italienischen oder dem Provenzalischen herrühre. <=

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