Zurück zum Gesamtverzeichnis Karl Marx/Friedrich Engels - Werke

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 225-268.

1. Korrektur
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Po und Rhein

Geschrieben Ende Februar/Anfang März 1859.
Erschienen 1859 als anonyme Broschüre bei Franz Duncker, Berlin.

Der vorliegende Text fußt auf dieser Ausgabe. Die Korrektur sinnverändernder Druckfehler wird in Anmerkungen verzeichnet.


I

<227> Seit Anfang dieses Jahres ist es zum Stichwort eines großen Teils der deutschen Presse geworden, daß der Rhein am Po verteidigt werden muß.

Dies Stichwort hatte seine volle Berechtigung gegenüber den bonapartischen Rüstungen und Drohungen. Mit richtigem Instinkt wurde es in Deutschland herausgefühlt, daß, wenn der Po für Louis-Napoleon der Vorwand war, der Rhein unter allen Umständen sein Endziel sein mußte. Nur ein Krieg um die Rheingrenze kann möglicherweise den Blitzableiter abgeben gegen die beiden den Bonapartismus im Innern Frankreichs bedrohenden Elemente: die "patriotische Überkraft" der revolutionären Massen und das gärende Mißbehagen der "Bourgeoisie". Den einen gäbe es nationale Beschäftigung, den andern die Aussicht auf einen neuen Markt. Das Gerede von der Befreiung Italiens konnte daher in Deutschland nicht mißverstanden werden. Es war der Fall des alten Sprichworts: Man schlägt den Sack und meint den Esel. Fand Italien sich veranlaßt, den Sack vorzustellen, so hatte doch Deutschland diesmal keine Lust, den Esel abzugeben.

Die Behauptung des Po hatte also im vorliegenden Fall einfach die Bedeutung: daß Deutschland, mit einem Angriff bedroht, bei dem es sich in letzter Instanz um den Besitz einiger seiner besten Provinzen handelte, in keiner Weise daran denken konnte, eine seiner stärksten, ja geradezu seine stärkste militärische Position ohne Schwertstreich aufzugeben. In diesem Sinn war allerdings ganz Deutschland bei der Verteidigung des Po interessiert. Am Vorabend eines Kriegs wie im Kriege selbst besetzt man jede benutzbare Stellung. von der aus man den Feind bedrohen und ihm schaden kann, ohne moralische Reflexionen darüber anzustellen, ob dies mit der ewigen Gerechtigkeit und dem Nationalitätsprinzip vereinbar ist. Man wehrt sich eben seiner Haut.

Diese Art, den Rhein am Po zu verteidigen, ist aber sehr zu unterscheiden von der Tendenz sehr vieler deutscher Militärs und Politiker, den Po, d.h. die Lombardei und Venedig, für ein unentbehrliches strategisches <228> Komplement und sozusagen für einen integrierenden Teil Deutschlands zu erklären. Diese Ansicht ist besonders seit den Feldzügen in Italien 1848 und 1849 aufgestellt und theoretisch verteidigt worden; so vom General von Radowitz in der Paulskirche, vom General von Willisen in seinem "Italienischen Feldzug des Jahres 1848". Im außeröstreichischen Süddeutschland hat besonders der bayerische General von Hailbronner mit einer gewissen an Begeistrung streifenden Vorliebe dies Thema behandelt. Das Hauptargument ist immer politischer Natur: Italien sei total außerstande, unabhängig zu bleiben; entweder Deutschland oder Frankreich müsse in Italien herrschen; zögen sich die Östreicher heute aus Italien zurück, so ständen morgen die Franzosen im Etschtale und an den Toren von Triest, und die ganze Südgrenze Deutschlands sei entblößt dem "Erbfeinde" preisgegeben. Darum behaupte Östreich die Lombardei im Namen und Interesse Deutschlands.

Man sieht, die militärischen Autoritäten für diese Ansicht gehören zu den ersten Deutschlands. Trotzdem müssen wir ihr entschieden entgegentreten.

Zu einem mit wahrem Fanatismus verteidigten Glaubensartikel aber wird diese Ansicht in der Augsburger "Allgemeinen Zeitung", die sich zum Moniteur der deutschen Interessen in Italien aufgeworfen hat. Dies christlich-germanische Blatt, trotz seines Hasses gegen Juden und Türken, ließe eher sich selbst beschneiden als das "deutsche" Gebiet in Italien. Was von den politisierenden Generälen schließlich doch nur als eine prächtige militärische Position in den Händen Deutschlands verteidigt wird, das ist in der Augsburger "Allg[emeinen] Zeitung" ein wesentlicher Bestandteil einer politischen Theorie. Wir meinen jene "mitteleuropäische Großmachtstheorie", die aus Östreich, Preußen und dem übrigen Deutschland einen Bundesstaat unter Östreichs vorwiegendem Einfluß errichten, Ungarn und die slawisch-rumänischen Donauländer durch Kolonisation, Schulen und sanfte Gewalt germanisieren, den Schwerpunkt dieses Länderkomplexes dadurch mehr und mehr nach Südosten, nach Wien verlegen und nebenbei auch Elsaß und Lothringen wiedererobern möchte. Die "mitteleuropäische Großmacht" soll eine Art Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation sein und scheint unter andern auch den Zweck zu haben, die weiland östreichischen Niederlande sowie Holland sich als Vasallenstaaten einzuverleiben. Des Deutschen Vaterland wird ungefähr zweimal so weit reichen, als jetzt die deutsche Zunge klingt; und wenn das alles in Erfüllung gegangen ist, dann ist Deutschland der Schiedsrichter und Herr Europas. Daß sich dies alles aber erfülle, dafür ist auch schon gesorgt. Die Romanen sind im akuten Verfall begriffen, die Spanier und Italiener sind bereits total <229> zugrunde gegangen, und die Franzosen erleben in diesem Augenblicke ebenfalls ihre Auflösung. Auf der andern Seite sind die Slawen unfähig zur wahren modernen Staatenbildung und haben den welthistorischen Beruf, germanisiert zu werden, wobei dann das hauptsächlichste Werkzeug der Vorsehung wieder das verjüngte Östreich ist. Der einzige Stamm, der sich noch sittliche Kraft und historische Befähigung bewahrt hat, sind also die Germanen, und von diesen sind die Engländer auch so tief in insularen Egoismus und Materialismus versunken, daß man ihren Einfluß, ihren Handel und ihre Industrie durch kräftige Schutzzölle, durch eine Art rationellen Kontinentalsystems vom europäischen Festland entfernt halten muß. Auf diese Weise kann es dem deutschen sittlichen Ernst und der jugendlichen mitteleuropäischen Großmacht gar nicht fehlen, daß diese letztere binnen kurzem die Weltherrschaft zu Wasser und zu Lande an sich reißt und eine neue geschichtliche Ära einweiht, bei der Deutschland seit langer Zeit endlich einmal wieder die erste Violine spielt und die übrigen Nationen nach ihr tanzen.

Franzosen und Russen gehört das Land,
Das Meer gehört den Briten;
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft unbestritten.

Auf die politische Seite dieser patriotischen Phantasien einzugehn, kann uns hier nicht einfallen. Wir haben sie nur eben im Zusammenhang skizziert, damit man uns nicht etwa später diese sämtlichen Herrlichkeiten als neue Beweisgründe für die Notwendigkeit der "deutschen" Herrschaft in Italien wieder vorführt. Uns interessiert hier einzig die militärische Frage: Bedarf Deutschland zu seiner Verteidigung die permanente Herrschaft über Italien und speziell den vollen militärischen Besitz der Lombardei und Venedigs?

Die Frage auf ihren reinsten militärischen Ausdruck reduziert, lautet: Bedarf Deutschland zur Verteidigung seiner Südgrenze den Besitz der Etsch, des Mincio und des unteren Po, mit den Brückenköpfen Peschiera und Mantua?

Ehe wir sie zu beantworten versuchen, bemerken wir vorher noch ausdrücklich: Wenn wir hier von Deutschland reden, so verstehen wir darunter eine einige Macht, deren militärische Kräfte und Aktionen <(1859) Nation> von einem Zentrum aus geleitet werden - Deutschland nicht als einen idealen, sondern als einen wirklichen politischen Körper. Unter andern Voraussetzungen kann von den politischen und militärischen Bedürfnissen Deutschlands überhaupt keine Rede sein.

II

<230> Noch mehr als Belgien ist Oberitalien seit Jahrhunderten das Schlachtfeld, auf dem Deutsche und Franzosen ihre Kriege gegeneinander ausgefochten haben. Der Besitz Belgiens und des Po-Tals für den Angreifer ist notwendige Bedingung sei es einer deutschen Invasion Frankreichs, sei es einer französischen Invasion Deutschlands; erst dieser Besitz sichert vollständig Flanken und Rücken der Invasion. Nur der Fall einer ganz sichern Neutralität dieser Länder könnte eine Ausnahme bilden, und dieser Fall hat bis jetzt nie existiert.

Wenn auf den Schlachtfeldern des Po-Tals indirekt und mittelbar das Geschick Frankreichs und Deutschlands seit dem Tage von Pavia entschieden wurde, so wurde das Geschick Italiens dort gleichzeitig direkt und unmittelbar entschieden. Mit den großen stehenden Heeren der neueren Zeit, mit der wachsenden Macht Frankreichs und Deutschlands, mit dem politischen Zerfallen Italiens verlor das eigentliche alte Italien, südlich des Rubikon, alle militärische Bedeutung, und der Besitz des alten Cisalpinischen Galliens zog die Herrschaft über die schmale, langgestreckte Halbinsel unvermeidlich nach sich. In den Bassins des Po und der Etsch, an der genuesischen, romagnolischen und venetianischen Küste saß die dichteste Bevölkerung, konzentrierte sich der blühendste Ackerbau, die tätigste Industrie, der lebhafteste Handel Italiens. Die Halbinsel, Neapel und der Kirchenstaat, blieben verhältnismäßig stationär in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung; ihre Kriegsmacht hatte seit Jahrhunderten nicht mehr gezählt. Wer das Po-Tal besaß, schnitt die Landverbindung der Halbinsel mit dem übrigen Festland ab und konnte sie gelegentlich mit leichter Mühe unterwerfen. So die Franzosen zweimal im Revolutionskriege, so die Östreicher zweimal in diesem Jahrhundert. Daher hat nur das Bassin des Po und der Etsch Bedeutung für den Krieg.

Eingefaßt auf drei Seiten von der ununterbrochenen Gebirgskette der Alpen und Apenninen und auf der vierten, von Aquileja bis Rimini, vom <231> Adriatischen Meer, bildet dies Bassin einen von der Natur sehr scharf markierten Bodenabschnitt, den der Po von West nach Ost durchläuft. Die südliche oder apenninische Abgrenzung hat kein Interesse für uns hier; die nördliche oder alpinische desto mehr. Ihr schneebedeckter Rücken ist nur an wenigen Stellen auf chaussierten Wegen zu passieren; selbst die Zahl der Fahr- und Saumwege und der Fußpfade ist beschränkt; langgestreckte Taldefileen führen zu den Pässen über das Hochgebirg.

Die deutsche Grenze umfaßt Norditalien von der Mündung des Isonzo bis zum Stilfser Joch; von da bis Genf reicht die Grenze der Schweiz; von Genf bis zur Mündung des Var stößt Frankreich an. Vom Adriatischen Meer bis zum Stilfser Joch, nach Westen gerechnet, führt jeder folgende Paß immer tiefer ins Herz des Po-Bassins, umgeht also alle weiter östlich liegenden Stellungen einer italienischen oder französischen Armee. Die Grenzlinie des Isonzo wird gleich durch den ersten Paß von Karfreit (Caporetto) auf Cividale umgangen. Der Paß von Pontafel umgeht die Stellung am Tagliamento, die auch noch von zwei nichtchaussierten Pässen aus Kärnten und Cadore in die Flanke genommen wird. Der Brennerpaß umgeht die Piavelinie durch den Peutelsteiner Paß von Brunecken auf Cortina d'Ampezzo und Belluno, die Brentalinie durch die Val Sugana auf Bassano, die Etschlinie durch das Etschtal, den Chiese durch Judikarien, den Oglio auf nichtchaussierten Wegen über den Tonale und endlich alles Gebiet östlich der Adda über das Stilfser Joch und durch das Veltlin.

Man sollte sagen, daß bei einer so günstigen strategischen Lage der wirkliche Besitz der Ebenen bis zum Po uns Deutschen ziemlich gleichgültig sein könnte. Wo will, bei gleichen Kräften, die feindliche Armee sich östlich von der Adda oder nördlich vom Po aufstellen? Alle ihre Stellungen sind umgangen; wo sie den Po oder die Adda auch überschreitet, ihre Flanke ist bedroht; zieht sie sich südlich vom Po, so gefährdet sie ihre Verbindung mit Mailand und Piemont, geht sie hinter den Tessin, so riskiert sie ihren Zusammenhang mit der ganzen Halbinsel. Wäre sie verwegen genug, offensiv in der Richtung auf Wien vorzugehn, so kann sie jeden Tag abgeschnitten und genötigt werden, mit dem Rücken nach dem feindlichen Lande, mit der Front nach Italien eine Schlacht zu liefern. Wird sie dann geschlagen, so ist es ein zweites Marengo mit gewechselten Rollen; schlägt sie die Deutschen, so müssen diese sich sehr albern anstellen, wenn sie ihren Rückzug nach Tirol verlieren.

Der Bau der Straße über das Stilfser Joch ist der Beweis, daß die Östreicher aus ihrer Niederlage von Marengo das Richtige gelernt haben. Napoleon baute die Simplonstraße, um einen gedeckten Aufgang nach dem Herzen <232> Italiens zu haben; die Östreicher ergänzten ihr System offensiver Verteidigung in der Lombardei durch die Straße von Stilfs nach Bormio. Man wird sagen, dieser Paß sei zu hoch, um im Winter praktikabel zu bleiben; die ganze Route sei zu schwierig, indem sie auf einer Entfernung von mindestens fünfzig deutschen Meilen (von Füssen in Bayern bis Lecco am Comer See) fortwährend durch unwirtbares Hochgebirg geht und auf diese Strecke drei Gebirgspässe kommen; daß sie endlich in dem langen Defilee am Comer See und im Hochgebirge selbst leicht zu sperren sei. Sehen wir zu.

Der Paß ist allerdings der höchste fahrbare in der ganzen Alpenkette, 8.600 Fuß, und mag im Winter stark verschneien. Wenn wir uns indes der Winterkampagne Macdonalds 1800 bis 1801, an Splügen und Tonale erinnern, so werden wir auf solche Hindernisse nicht viel geben. Alle Alpenpässe verschneien im Winter und werden darum doch passiert. Die jetzt seit Armstrongs Herstellung einer brauchbaren, von hinten geladenen, gezogenen Kanone schwerlich noch aufschiebbare Umgestaltung aller Artillerien wird auch leichteres Geschütz in die Feldartillerie einführen und dadurch die Beweglichkeit erleichtern. Ein ernsthafteres Hindernis ist der lange Marsch im Hochgebirge und die wiederholte Gebirgsübersteigung. Der Stilfser Paß geht nicht über die Wasserscheide der nord- und südalpinischen Flüsse, sondern über die zwei adriatischen Gewässer der Etsch und Adda, und setzt daher voraus, daß die Hauptkette der Alpen vorher am Brenner- oder Finstermünzpaß überstiegen worden, um vom Inntal ins Etschtal zu gelangen. Da nun der Inn in Tirol ziemlich von Westen nach Osten zwischen zwei Bergketten läuft, so müssen Truppen vom Bodensee und aus Bayern auch noch die nördlichere dieser Bergketten übersteigen, so daß wir im ganzen zwei oder drei Bergpässe auf dieser einen Route haben. So beschwerlich dies ist, so ist dies doch kein entscheidendes Hindernis, eine Armee auf diesem Wege nach Italien zu führen. Eine Eisenbahn im Inntal, die schon teilweise fertig, und die im Etschtal projektierte Bahn wird diesen Übelstand bald auf ein Minimum reduzieren. Napoleons Weg über den Bernhard von Lausanne bis Ivrea führte zwar nur ungefähr 30 Meilen durchs Hochgebirge; aber der Weg von Udine nach Wien, auf dem Napoleon 1797 vordrang und auf dem 1809 Eugène und Macdonald sich mit Napoleon bei Wien vereinigten, läuft über 60 Meilen lang durchs Hochgebirg und führt ebenfalls über drei Alpenpässe. Der Weg von Pont-de-Beauvoisin über den Kleinen Bernhard nach Ivrea, die Route, die, ohne die Schweiz zu berühren, direkt von Frankreich am weitesten nach Italien hineinführt, also zum Umgehen die geschickteste ist, zieht sich <233> auch über 40 Meilen durchs Hochgebirg, und ebenso die Simplonstraße von Lausanne nach Sesto Calende. - Was endlich das Sperren der Straße im Passe selbst oder am Comer See angeht, so ist man seit den Feldzügen der Franzosen in den Alpen nicht so geneigt mehr, an die Wirksamkeit von Sperrpunkten zu glauben. Dominierende Höhen und die Möglichkeit der Umgehung machen sie ziemlich nutzlos; die Franzosen nahmen viele mit Sturm und sind nie ernstlich durch die Befestigungen der Pässe aufgehalten worden. Die etwaigen Befestigungen des Passes auf der italienischen Seite sind über den Cevedale, den Monte Corno und Gavia und den Tonale und Aprica zu umgehen. Aus dem Veltlin führen viele Saumwege nach der Bergamasca, und die Absperrung des langen Defilees am Comer See ist teils hierdurch, teils von Dervio aus oder von Bellano durch die Val Sassina zu umgehen. Im Gebirgskrieg ist ein Vordringen mit mehreren Kolonnen ohnehin geboten, und wenn eine durchdringt, ist der Zweck gewöhnlich erreicht.

Wie sehr die schwierigsten Pässe so ziemlich zu allen Jahreszeiten praktikabel sind, wenn man nur gute Truppen und entschlossene Generale hinschickt; wie sehr also auch geringfügige Nebenpässe, selbst nicht fahrbare, als gute Operationslinien besonders zu Umgehungen zu gebrauchen sind; und wie wenig Sperrpunkte nützen - das beweisen am besten die Feldzüge in den Alpen von 1796 bis 1801. Damals war noch kein einziger Alpenpaß chaussiert, und trotzdem gingen die Armeen in allen Direktionen über die Berge. 1799 ging schon anfangs März Loison mit einer französischen Brigade auf Fußpfaden über die Wasserscheide zwischen Reuß und Rhein, während Lecourbe über den Bernhardin und die Viamala ging, von dort den Albula-Julier-Paß überstieg (7.100 Fuß hoch) und schon am 24. März das Defilee von Martinsbruck durch Umgehung nahm, indem er Dessolle durch das Münstertal über den Pisoc und das Wormser Joch (Fußweg 7.850 Fuß hoch) ins obere Etschtal und von dort auf die Reschen-Scheideck sandte. Anfangs Mai zog Lacourbe sich wieder über den Albula zurück.

Im September desselben Jahres erfolgte Suworows Zug, auf dem, wie der alte Soldat sich in seiner gewaltsamen Bildersprache ausdrückte, das russische Bajonett durch die Alpen drang (Ruskij štyk prognal cres Alpow). Er sandte seine Artillerie größtenteils über den Splügen, ließ eine Umgehungskolonne durch die Val Blegno über den Lukmanier (Fußpfad, 5.948 Fuß) und von dort über den Sixmadun (6.500 Fuß ungefähr) in das obere Reußtal eindringen, während er selbst den damals kaum fahrbaren Weg des Sankt Gotthard passierte (6.594 Fuß). Den Sperrpunkt der Teufelsbrücke erstürmte er am 24. bis 26. September; aber bei Altdorf angekommen, vor sich den See und auf allen andern Seiten die Franzosen, blieb ihm nichts als das Schächen- <234> tal hinauf über den Kinzig-Kulm ins Muotatal zu gehen. Dort angekommen, nachdem er alle Artillerie und Bagage im Reußtal gelassen, fand er die Franzosen wieder in Übermacht vor sich, während Lecourbe ihm auf den Fersen saß. Suworow ging über den Pragel ins Klöntal, um auf diesem Wege die Rheinebene zu gewinnen. Im Defilee von Näfels stieß er auf unüberwindlichen Widerstand, und blieb ihm nichts übrig, als auf dem Fußpfad über den Panixer Paß, 8.000 Fuß hoch, das obere Rheintal und die Verbindung mit dem Splügen zu gewinnen. Am 6. Oktober begann der Übergang, am 10. war das Hauptquartier in Ilanz. Diese Passage war bis dahin der großartigste aller modernen Alpenübergänge.

Von Napoleons Übergang über den Großen Bernhard wollen wir nicht viel sagen. Gegen die übrigen ähnlichen Operationen jener Zeit steht sie zurück. Die Jahreszeit war günstig, und das einzig Bemerkenswerte ist die geschickte Manier, wie der Sperrpunkt Fort Bard umgangen wurde.

Dagegen verdienen besonders rühmliche Erwähnung Macdonalds Operationen im Winter 1800/1801. Bestimmt, mit 15.000 Mann als linker Flügel der französischen Armee von Italien den rechten Flügel der Östreicher an Mincio und Etsch zu umgehen, passierte er im tiefsten Winter mit allen Waffengattungen den Splügen (6.510 Fuß). Unter den größten Mühseligkeiten, oft durch Lawinen und Schneestürme unterbrochen, führte er vom 1. bis 7. Dezember seine Armee über den Paß und marschierte die Adda hinauf durchs Veltlin an den Aprica. Die Östreicher scheuten sich ebensowenig vor dem Hochgebirgswinter. Sie behielten den Albula, Julier und Braulio (Wormser Joch) besetzt und machten am letzteren sogar einen Überfall, bei dem sie ein Detachement demontierter französischer Husaren gefangennahmen. Nachdem Macdonald den Apricapaß vom Adda- ins Ogliotal überstiegen hatte, erstieg er den sehr hohen Paß des Tonale auf Fußpfaden und griff die Östreicher am 22. Dezember an, die das Defilee im Paß mit Eisblöcken verschanzt hatten. Sowohl an diesem Tage wie im zweiten Angriff (31. Dezember - er war also neun Tage im Hochgebirge geblieben!) zurückgeworfen, ging er die Val Camonica herab bis zum Lago d'Iseo, schickte Kavallerie und Artillerie <(1859) Infanterie> durch die Ebene und überstieg mit der Infanterie die drei Bergrücken, die nach Val Trompia, Val Sabbia und nach Judikarien führten, wo er, in Storo, schon am 6. Januar ankam. Baraguay d'Hilliers war gleichzeitig aus dem Inntal über die Reschen-Scheideck (Finstermünzpaß) ins obere Etschtal gegangen. - Wenn solche Manöver vor sechzig Jahren mög- <235> lich waren, was können wir jetzt nicht tun, wo wir in den meisten Pässen die schönsten Chausseen haben!

Schon aus diesen Skizzen sehen wir, daß von allen Sperrpunkten nur diejenigen einige Haltbarkeit besaßen, die aus Ungeschick oder Mangel an Zeit nicht umgangen wurden. Der Tonale z.B. war unhaltbar, sobald Baraguay d'Hilliers im oberen Etschtal erschien. Die übrigen Kampagnen beweisen, daß sie entweder durch Umgehung, aber oft auch durch Sturm genommen wurden. Luziensteig wurde zwei- oder dreimal gestürmt, ebenso Malborgeth im Pontafelpaß 1797 und 1809. Die Tiroler Sperrpunkte hielten weder Joubert 1797 noch Ney 1805 auf. Man weiß, was Napoleon behauptet, daß auf Wegen umgangen werden könne, die für eine Ziege praktikabel seien. Und seitdem man auf diese Weise Krieg führt, sind alle Sperrpunkte zu umgehen.

Es ist demnach nicht abzusehen, wie bei gleichen Kräften eine feindliche Armee die Lombardei östlich von der Adda gegen eine über die Alpen vordringende deutsche Armee im freien Felde verteidigen kann. Es bliebe ihr nur noch die Chance, sich zwischen den bestehenden oder neu zu errichtenden Festungen aufzustellen und zwischen diesen zu manövrieren. Diese Möglichkeit werden wir weiter unten erwägen.

Welche Pässe stehen nun Frankreich offen, um in Italien einzudringen? Während Deutschland die eine Hälfte der Nordgrenze Italiens ganz umfaßt, läuft die französische Grenze in ziemlich grader Linie von Norden nach Süden, umfaßt und umgeht gar nichts. Erst wenn Savoyen und ein Teil des genuesischen Küstenlandes erobert ist, können über den Kleinen Bernhard und einige Seealpenpässe Umgehungen vorbereitet werden, deren Wirkung indes bloß bis an die Sesia und die Bormida geht, also weder die Lombardei noch die Herzogtümer, geschweige denn die Halbinsel erreicht. Nur eine Landung in Genua, die indes für eine große Armee doch wohl ihre Schwierigkeiten haben wird, könnte zu einer Umgehung von ganz Piemont führen; eine Landung weiter östlich, z.B. in der Spezia, könnte sich schon nicht mehr auf Piemont und Frankreich basieren, sondern nur auf die Halbinsel und wäre daher in demselben Maße umgangen, wie sie selbst umginge.

Bis jetzt haben wir die Schweiz als neutral vorausgesetzt. Für den Fall, daß sie in den Krieg hineingezogen würde, bekäme Frankreich einen Paß mehr zur Verfügung: den Simplon (der Große Bernhard, auf Aosta führend wie der Kleine, würde keine neuen Vorteile bieten außer der kürzeren Linie). Der Simplon führt an den Tessin und deckt dadurch den Franzosen Piemont. Die Deutschen erhielten in derselben Weise den untergeordneten Splügen, der am Comer See mit der Stilfser Straße zusammenstößt, und den Bernhardin, dessen Wirkung bis an den Tessin reicht. Der Gotthard könnte nach <236> Umständen beiden Parteien dienen, würde ihnen aber wenig neue Flankenvorteile eröffnen. So sehen wir, daß der Einfluß einer französischen Umgehung durch die Alpen einerseits und der einer deutschen andererseits bis zur jetzigen lombardisch-piemontesischen Grenze, bis an den Tessin reicht. Wenn aber die Deutschen am Tessin, wenn sie nur bei Piacenza und Cremona stehen, so verlegen sie den Franzosen den Landweg nach der italienischen Halbinsel. Mit andern Worten: Wenn Frankreich Piemont dominiert, so dominiert Deutschland das ganze übrige Italien.

Ein taktischer Vorteil kommt den Deutschen außerdem noch zugut: Auf der ganzen deutschen Grenzlinie ist bei allen wichtigen Passen - das Stilfser Joch ausgenommen - die Wasserscheide auf deutschem Gebiet. Der Fella im Pontafelpaß entspringt in Kärnten, der Boite im Peutelsteiner Paß in Tirol. In dieser letzteren Provinz ist der Vorteil entscheidend. Das obere Brentatal (Val Sugana), das obere Chiesetal (Judikarien) und mehr als die Hälfte des Laufs der Etsch gehören zu Tirol. Wenn auch im einzelnen Fall nicht ohne genaues Studium der Lokalität zu entscheiden ist, ob wirklich taktischer Vorteil aus dem Besitz der Wasserscheide bei Hochgebirgspässen hervorgeht, so ist doch so viel sicher, daß im Durchschnitt die Chancen der Überhöhung wie der Umgehung auf seiten dessen sind, der den Gebirgskamm und ein Stück des Abhangs auf der feindlichen Seite besetzt hält; und daß man ferner dadurch in den Stand gesetzt wird, die unpraktikabelsten Stellen der Nebenpässe schon vor Ausbruch des Kriegs für alle Waffen gangbar zu machen, was in Tirol von entscheidender Wichtigkeit für die Verbindungen werden kann. Wenn dies Vordringen unseres Gebiets auf die feindliche Seite erst die Ausdehnung erhält, die das deutsche Bundesgebiet in Südtirol hat, wenn, wie hier, die beiden Mauptpässe, der Brenner- und Finstermünzpaß, weitab von der feindlichen Grenze zurückliegen; wenn außerdem entscheidende Nebenpässe wie die durch Judikarien und die Val Sugana ganz dem deutschen Gebiet angehören, so sind dadurch die taktischen Bedingungen einer Invasion Oberitaliens so enorm erleichtert, daß sie im Kriegsfall nur mit Verstand benutzt zu werden brauchen, um den Erfolg sicherzustellen.

Solange die Schweiz neutral bleibt, ist also Tirol, und sobald die Neutralität der Schweiz aufhört, ist Graubünden und Tirol (das Inntal und Rheintal) der geradeste Weg für ein deutsches Heer, das gegen Italien operiert. Auf dieser Linie drangen die Hohenstaufen nach Italien; auf keiner andern kann ein militärisch wie ein Staat agierendes Deutschland mit raschen Schlägen entscheidend in Italien wirken. Für diese Linie aber ist nicht Inneröstreich, sondern Oberschwaben und Bayern, vom Bodensee bis Salzburg, die Opera- <237> tionsbasis. Im ganzen Mittelalter hat dies gegolten. Erst als Östreich sich an der Mitteldonau konsolidierte, als Wien Zentralpunkt der Monarchie wurde, als das deutsche Reich zerfiel und in Italien nicht mehr deutsche, sondern nur noch östreichische Kriege geführt wurden, erst da wurde die alte, kurze, grade Linie von Innsbruck auf Verona und von Lindau auf Mailand verlassen, erst da trat die lange, krumme, schlechte Linie von Wien über Klagenfurt und Treviso auf Vicenza an ihre Stelle, eine Linie, auf die sich früher eine deutsche Armee nur im äußersten Notfall des bedrohten Rückzugs, nie aber für den Angriff verlassen hätte.

Solange das deutsche Reich als eine wirkliche Militärmacht bestand, solange es demgemäß seine Angriffe gegen Italien auf Oberschwaben und Bayern basierte, solange mochte es die Unterwerfung Oberitaliens aus politischen Gründen anstreben, nie aber aus rein militärischen. In den langen Kämpfen um Italien ist die Lombardei bald deutsch, bald unabhängig, bald spanisch, bald östreichisch gewesen; die Lombardei aber, was nicht zu vergessen ist, war von Venedig getrennt, und Venedig war unabhängig. Und obwohl die Lombardei Mantua besaß, so schloß sie doch grade die Minciolinie und das Gebiet zwischen Mincio und Isonzo aus, ohne dessen Besitz, wie uns jetzt versichert wird, Deutschland nicht ruhig schlafen kann. Deutschland (durch Vermittelung Östreichs) ist erst seit 1814 in den vollen Besitz der Minciolinie gekommen. Und wenn auch Deutschland, als politischer Körper, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eben nicht die brillanteste Rolle gespielt hat, so war doch der mangelnde Besitz der Minciolinie jedenfalls nicht schuld daran.

Allerdings ist die strategische Arrondierung der Staaten und ihre Begrenzung durch verteidigungsfähige Linien mehr in den Vordergrund getreten, seit die Französische Revolution und Napoleon beweglichere Armeen geschaffen und mit diesen Armeen Europa in allen Richtungen durchzogen haben. War im Siebenjährigen Kriege noch das Operationsfeld einer Armee auf eine bloße Provinz beschränkt, drehten sich monatelange Manöver um einzelne Festungen, Stellungen oder Operationsbasen, so kommt heute in jedem Kriege die Terrainkonfiguration ganzer Länder in Betracht, und die Wichtigkeit, die früher an einzelne taktische Positionen geknüpft war, klebt jetzt nur noch an großen Festungsgruppen, langen Flußlinien oder hohen, stark ausgesprochenen Gebirgsketten. Und in dieser Beziehung sind Linien wie die des Mincio und der Etsch allerdings von weit größerer Bedeutung als früher.

Sehen wir uns also diese Linien einmal an.

Alle Flüsse, die östlich vom Simplon von den Alpen in die oberitalienische Ebene zum Po oder direkt zum Adriatischen Meer fließen, bilden mit dem <238> Po oder allein einen nach Osten konkaven Bogen. Sie sind dadurch der Verteidigung einer im Osten stehenden Armee günstiger als der einer im Westen stehenden. Man sehe den Tessin, die Adda, den Oglio, den Chiese, den Mincio, die Etsch, die Brenta, die Piave, den Tagliamento darauf an; jeder Fluß, allein oder mit dem anstoßenden Teil des Po zusammen, bildet einen Kreisbogen, dessen Zentrum nach Osten zu liegt. Dadurch wird die auf dem linken (östlichen) Ufer stehende Armee befähigt, eine Zentralstellung rückwärts zu nehmen, von der aus sie jeden ernsthaft angegriffenen Punkt des Flußlaufs in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichen kann; sie hält die Jominische "innere Linie", sie marschiert auf dem Radius oder der Sehne, während der Feind auf der längeren Peripherie manövrieren muß. Findet sich die Armee des rechten Ufers in der Defensive, so wird umgekehrt dieser Umstand ihr ungünstig sein; der Feind ist in seinen falschen Angriffen durch die Lokalität unterstützt, und dieselben kürzeren Entfernungen von den einzelnen Punkten der Peripherie die ihm bei der Verteidigung zugut kommen, geben nun seinem Angriff ein entscheidendes Übergewicht. So sind also die lombardisch-venetianisch Flußlinien durchaus für eine deutsche Armee in Defensive und Offensive günstig, für eine italienische oder italienisch-französische Armee ungünstig; und wenn hierzu noch der schon entwickelte Umstand kommt, daß die Tiroler Pässe diese sämtlichen Linien umgehen, so ist wahrlich kein Grund vorhanden, an der Sicherheit Deutschlands zu verzweifeln, selbst wenn kein östreichischer Soldat mehr auf italienischem Boden stände; denn dieser lombardische Boden gehört uns sooft wir wollen.

Diese lombardischen Flußlinien sind übrigens meist sehr unbedeutend und zur ernsthaften Verteidigung wenig geeignet. Abgesehen vom Po selbst, über den wir weiter unten sprechen werden, finden sich im ganzen Bassin nur zwei für Frankreich oder Deutschland wirklich bedeutende Positionen; sie sind von den betreffenden Generalstäben richtig in ihrer Stärke erfaßt und befestigt worden und werden im nächsten Kriege unbedingt die entscheidende Rolle spielen. In Piemont, eine Meile unterhalb Casale, biegt der Po seinen bis dahin östlichen Lauf nach Süden, verläuft auf stark drei Meilen nach Südsüdost und wendet sich dann wieder nach Osten. An der nördlichen Biegung fließt von Norden die Sesia, an der südlichen von Südwesten der Tanaro ein. Mit diesem vereinigen sich unmittelbar vor ihrem Einfluß, dicht bei Alessandria, die Bormida, die Orba und der Belbo und bilden zusammen ein System strahlenförmig nach einem Mittelpunkt zusammenströmender Flußlinien, deren wichtigster Knotenpunkt durch das verschanzte Lager von Alessandria gedeckt wird. Von Alessandria aus kann eine Armee beliebig die Ufer der kleineren Flüsse wechseln, kann die vor der Front liegende Linie <239> des Po verteidigen, kann bei dem ebenfalls befestigten Casale über den Po gehn oder auf dem rechten Po-Ufer flußabwärts operieren. Diese Stellung, durch hinreichende Befestigungen verstärkt, ist die einzige, die Piemont deckt oder zur Basis offensiver Operationen gegen die Lombardei und die Herzogtümer dienen kann. Sie leidet indes daran, daß sie keine Tiefe hat, und da sie sowohl umgangen als in der Front durchbrochen werden kann, so ist dieser Umstand sehr ungünstig; ein kräftiger und geschickter Angriff würde sie bald auf das noch unvollendete verschanzte Lager von Alessandria reduzieren, und wieweit dies die Verteidiger vor der Notwendigkeit schützen würde, sich unter ungünstigen Umständen zu schlagen, darüber fehlen alle Anhaltspunkte, da weder die neuesten dortigen Befestigungsanlagen noch der erreichte Grad ihrer Vollendung bekannt sind. Die Wichtigkeit dieser Position für die Verteidigung Piemonts gegen Angriffe von Osten hatte schon Napoleon erkannt und Alessandria demzufolge neu befestigen lassen. 1814 bewährte der Platz seine schützende Kraft nicht; wieweit er dies heutzutage vermag, werden wir vielleicht bald zu sehn Gelegenheit haben.

Die zweite Position, die für das Venetianische dasselbe und noch viel mehr gegen Angriffe aus Westen leistet, was Alessandria für Piemont, ist die des Mincio und der Etsch. Aus dem Gardasee heraustretend, fließt der Mincio vier Meilen weit, bis Mantua, in südlicher Richtung, erleidet bei Mantua eine seeartige, von Sümpfen umgebene Ausbuchtung und fließt dann in südöstlicher Richtung dem Po zu. Die Flußstrecke unterhalb der Mantuaner Sümpfe bis zur Mündung ist zu kurz, um einer Armee zum Übergang zu dienen, indem der aus Mantua debouchierende Feind sie in den Rücken nehmen und zu einer Schlacht unter den ungünstigsten Umständen zwingen könnte. Eine Umgehung von Süden her müßte weiter ausholen und bei Revere oder Ferrara über den Po gehn. Von Norden ist die Stellung am Mincio durch den Gardasee auf weithin vor Umgehung geschützt, so daß die wirklich zu verteidigende Linie des Mincio von Peschiera bis Mantua nur vier Meilen lang ist und an jedem Flügel sich an eine Festung anlehnt, die ein Debouché auf das rechte Ufer sichert. Der Mincio selbst ist kein beträchtliches Hindernis, und die Ufer überhöhen sich je nach der Lokalität wechselseitig; hierdurch war die Linie vor 1848 einigermaßen in Verruf gekommen, und wenn sie nicht durch einen besondern Umstand bedeutend verstärkt würde, so hätte sie schwerlich je große Berühmtheit erlangt. Dieser besondere Umstand ist aber der, daß vier Meilen weiter rückwärts der zweite Fluß Oberitaliens, die Etsch, in einem mit dem Mincio und unteren Po ziemlich parallelen Bogen läuft und so eine zweite, stärkere Stellung bildet, die durch die beiden Etschfestungen Verona und Legnago verstärkt wird. Die beiden Flußlinien <240> aber, mit ihren vier Festungen, bilden zusammen für eine deutsche oder östreichische, von Italien oder Frankreich angegriffene Armee eine so starke Defensivposition, daß keine zweite in Europa ihr an die Seite gesetzt werden kann und daß eine Armee, die nach Abgabe der Garnison noch im Felde auftreten kann, ruhig dem Angriff einer doppelt so starken Macht in dieser Stellung entgegensehen kann. Was diese Position leistet, hat Radetzky 1848 bewiesen. Nach der Mailänder Märzrevolution, dem Abfall der italienischen Regimenter und dem Übergang der Piemontesen über den Tessin zog er sich mit dem Rest seiner Truppen, ungefähr 45.000 Mann, nach Verona. Nach Abzug der 15.000 Mann starken Garnisonen blieben ihm etwas über 30.000 Mann disponibel. Ihm gegenüber standen zwischen Minci und Etsch ungefähr 60.000 Piemontesen, Toskaner, Modeneser und Parmesaner. In seinem Rücken erschien Durandos Armee, ungefähr 45.000 Mann päpstliche und neapolitanische Truppen und Freiwillige. Nur die Verbindung durch Tirol war ihm geblieben, und auch diese war, wenn auch nur leicht, durch lombardische Freischaren im Gebirg bedroht. Trotzdem hielt sich Radetzky. Die Beobachtung Peschieras und Mantuas nahm den Piemontesen so viel Truppen weg, daß sie am 6. Mai bei dem Angriff auf die Stellung von Verona (Schlacht bei Santa Lucia) nur mit vier Divisionen, 40.000 bis 45.000 Mann, auftreten konnten; Radetzky mochte, mit der Garnison von Verona, 36.000 Mann verwenden. Das Gleichgewicht auf dem Schlachtfeld war also, wenn die taktische starke Defensivstellung der Östreicher in Erwägung gezogen wird, schon wieder hergestellt, und die Piemontesen wurden geschlagen. Die Kontrerevolution vom 15. Mai in Neapel befreite Radetzky von der Gegenwart der 15.000 Neapolitaner und reduzierte die Armee des venetianischen Festlandes auf ungefähr 30.000 Mann, wovon aber nur 5.000 päpstliche Schweizer und ungefähr ebensoviel päpstliche italienische Linientruppen im offenen Felde zu verwenden waren; den Rest bildeten Freischaren. Die Nugentsche Reservearmee, die sich im April am Isonzo gebildet hatte, schlug sich leicht durch diese Truppen durch und vereinigte sich am 25. Mai mit Radetzky bei Verona, beinahe 20.000 Mann stark. Jetzt konnte der alte Feldmarschall endlich aus der passiven Verteidigung heraustreten. Um Peschiera zu entsetzen, das die Piemontesen belagerten, und um sich selbst mehr Luft zu verschaffen, unternahm er den berühmten Flankenmarsch nach Mantua mit seiner ganzen Armee (27. Mai), debouchierte von hier am 29. auf dem rechten Ufer des Mincio, erstürmte die feindliche Linie am Curtatone und drang am 30. gegen Goito, in den Rücken und die Flanke der Italiener vor. Aber an demselben Tag fiel Peschiera; das Wetter wurde ungünstig, und zu einer Entscheidungsschlacht fühlte Radetzky sich noch <241> nicht stark genug. Er marschierte also am 4. Juni wieder durch Mantua nach der Etsch zurück, sandte das Reservekorps nach Verona und ging mit dem Rest seiner Truppen über Legnago gegen Vicenza, das von Durando verschanzt und mit 17.000 Mann besetzt war. Am 10. griff er Vicenza mit 30.000 Mann an, am 11. kapitulierte Durando nach tapferer Gegenwehr. Das zweite Armeekorps (d'Aspre) unterwarf Padua, das obere Brentatal und das venetianische Festland überhaupt und folgte dann dem ersten nach Verona; eine zweite Reservearmee unter Weiden rückte vom Isonzo heran. Während dieser Zeit und bis zur Entscheidung des Feldzuges konzentrierten die Piemontesen mit abergläubischer Hartnäckigkeit alle ihre Aufmerksamkeit auf das Plateau von Rivoli, das sie seit Napoleons Sieg für den Schlüssel Italiens anzusehen schienen, das aber 1848 gar keine Bedeutung mehr hatte, seitdem die Östreicher sich eine sichere Verbindung mit Tirol durch die Vallarsa und namentlich auch die direkte Verbindung mit Wien über den Isonzo wieder eröffnet hatten. Zu gleicher Zeit indes sollte auch etwas gegen Mantua geschehen; es wurde also auf der rechten Mincioseite blockiert - eine Operation, die gar keinen andern Zweck haben konnte, als die im piemontesischen Lager herrschende Ratlosigkeit zu dokumentieren, die Armee auf der ganzen, acht Meilen langen Strecke von Rivoli bis Borgoforte zu verzetteln und sie obendrein durch den Mincio in zwei Hälften zu teilen, die sich nicht gegenseitig unterstützen konnten.

Als nun der Versuch gemacht wurde, Mantua auch auf dem linken Ufer zu blockieren, entschloß sich Radetzky, der inzwischen 12.000 Mann von Weldens Truppen an sich gezogen hatte, die Piemontesen in ihrem geschwächten Zentrum zu durchbrechen und die sich sammelnden Truppen dann einzeln zu schlagen. Am 22. Juli ließ er Rivoli angreifen, das die Piemontesen am 23. räumten; am 23. rückte er selbst von Verona mit 40.000 Mann gegen die bloß von 14.000 Piemontesen verteidigte Stellung von Sona und Sommacampagna, nahm sie und sprengte dadurch die ganze feindliche Linie. Der linke piemontesische Flügel wurde am 24. vollends über den Mincio zurückgeworfen, und der inzwischen konzentrierte und gegen die Östreicher vordringende rechte am 25. bei Custozza geschlagen; am 26. ging die ganze östreichische Armee über den Mincio und schlug die Piemontesen noch einmal bei Volta. Damit war der Feldzug beendigt; fast ohne Widerstand gingen die Piemontesen hinter den Tessin zurück.

Diese kurze Erzählung des Feldzugs von 1848 beweist schlagender als alle theoretischen Gründe die Stärke der Stellung am Mincio und an der Etsch. Im Viereck zwischen den vier Festungen angekommen, mußten die Piemontesen so viel Truppen detachieren, daß ihre Offensivkraft, wie die <242> Schlacht von Santa Lucia beweist, dadurch schon gebrochen war, während Radetzky, sobald die ersten Verstärkungen kamen, sich mit vollkommener Freiheit zwischen den Festungen bewegen, sich bald auf Mantua, bald auf Verona basieren, heute auf dem rechten Mincio-Ufer den Rücken des Feindes bedrohen, wenige Tage darauf Vicenza erobern und fortwährend die Initiative des Feldzugs ausüben konnte. Die Piemontesen haben allerdings Fehler über Fehler begangen; aber es ist gerade die Stärke einer Stellung, die den Feind in Verlegenheit setzt und ihn fast zwingt, Fehler zu begehen. Die Beobachtung, noch mehr die Belagerung der einzelnen Festungen nötigt ihn, sich zu teilen, seine disponible Offensivkraft zu schwächen; die Flüsse zwingen ihn, diese Teilung zu wiederholen, und setzen seine verschiedenen Korps mehr oder weniger in die Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu Hülfe zu kommen. Welche Kräfte gehören dazu, Mantua zu belagern, solange eine für das Feld disponible Armee jeden Augenblick aus den detachierten Forts von Verona vorbrechen kann?

Mantua allein war imstande, 1797 die siegreiche Armee des Generals Bonaparte aufzuhalten. Nur zweimal imponierte ihm eine Festung: Mantua und zehn Jahre später Danzig. Der ganze zweite Teil der Kampagne von [1796 und] 1797: Castiglione, Medole, Calliano, Bassano, Arcole, Rivoli - alles dreht sich um Mantua und erst nachdem diese Festung gefallen, wagt der Sieger nach Osten und über den Isonzo vorzudringen. Damals war Verona nicht befestigt; 1848 war von Verona auf dem rechten Etschufer nur die Ringmauer fertig, und die Schlacht von Santa Lucia wurde auf dem Terrain geschlagen, wo gleich darauf die östreichischen Redeuten und seitdem permanente detachierte Forts angelegt worden sind, und erst hierdurch wird das verschanzte Lager von Verona der Kern, das Reduit der ganzen Stellung, die hierdurch enorm an Stärke gewonnen.

Man sieht, wir denken nicht daran, die Wichtigkeit der Minciolinie zu bemäkeln. Aber vergessen wir nicht: Diese Linie ist erst von Wichtigkeit geworden, seitdem Östreich auf eigne Faust in Italien Kriege führt und seitdem die Verbindung Bozen - Innsbruck - München durch die andere, Treviso - Klagenfurt - Wien in den Hintergrund gedrängt worden ist. Und für Östreich in seiner jetzigen Gestalt ist der Besitz der Minciolinie allerdings eine Lebensfrage. Östreich als selbständiger Staat, der als europäische Großmacht auch unabhängig von Deutschland agieren will, muß entweder den Mincio und unteren Po beherrschen oder auf die Verteidigung Tirols verzichten; Tirol wäre sonst nach beiden Seiten umgangen und nur durch den Toblacher Paß mit dem Rest der Monarchie verbunden (die Straße von Salzburg nach Innsbruck geht durch Bayern). Nun existiert zwar eine Ansicht unter älteren <243> Militärs, daß Tirol eine große Verteidigungsfähigkeit besitze und sowohl das Donau- wie das Po-Bassin beherrsche. Aber diese Ansicht ist unbedingt auf Phantasterei basiert und nie durch die Erfahrung bewährt, denn ein Insurrektionskrieg wie der von 1809 beweist nichts für die Operationen einer regelmäßigen Armee.

Der Urheber dieser Ansicht ist Bülow; er spricht sie unter anderm in seiner Geschichte der Feldzüge von Hohenlinden und Marengo aus. Ein Exemplar der französischen Übersetzung dieses Buches, einem englischen Ingenieuroffizier Emmett gehörig, der zu Napoleons Zeit in St. Helena kommandiert war, fiel dem gefangenen Feldherrn 1819 in die Hände. Er machte zahlreiche Randglossen dazu, und Emmett ließ das Buch 1831 mit Napoleons Noten wieder abdrucken.

Napoleon ging offenbar mit günstigen Eindrücken an die Lektüre. Bei Bülows Vorschlag, die ganze Infanterie in Tirailleurs aufzulösen, bemerkt er wohlwollend: "De l'ordre, toujours de l'ordre - les tirailleurs doivent toujours être soutenus par des lignes." <"Ordnung, zu jeder Zeit Ordnung - die Schützen müssen stete durch Linientruppen unterstützt werden."> Dann folgt ein paarmal: "Bien - c'est bien" <"Das ist gut">- und wieder: "Bien". Aber von der zwanzigsten Seite an wird es Napoleon doch zu toll, wenn er den armen Bülow sich abarbeiten sieht, alle Wechselfälle des Kriegs aus seiner Theorie der exzentrischen Rückzüge und konzentrischen Angriffe mit seltnem Unglück und Ungeschick sich zu erklären und durch eine schülerhafte Interpretation die meisterhaftesten Schachzüge ihres Sinns zu berauben. Erst ein paarmal: "Mauvais - cela est mauvais - mauvais principe" <"Schlecht - das ist schlecht - schlechtes Prinzip"> - dann heißt es: "Cela n'est pas vrai - absurde - mauvais plan bien dangereux - restez unis si vous voulez vaincre - il ne faut jamais séparer son armée par un fleuve - tout cet échafaudage est absurde" <"Das ist nicht richtig - unsinnig - schlechter, sehr gefährlicher Pan - bleiben Sie vereint wenn Sie siegen wollen - man darf nie seine Armee durch einen Fluß teilen - dieses ganze Gerede ist unsinnig "> usw. Und wenn Napoleon gar fortwährend findet, daß Bülow stets schlechte Operationen lobt und gute tadelt, daß er den Generälen die närrischsten Motive unterschiebt und ihnen die komischsten Ratschläge gibt, daß er endlich das Bajonett abschaffen und dafür das zweite Glied der Infanterie mit Lanzen bewaffnen will, so ruft er aus: "Bavardage inintelligible, quel absurde bavardage, quelle absurdité, quel misérable bavardage, quelle ignorance de la guerre." <"Unverständliches Geschwätz, welch unsinniges Geschwätz, welche Abgeschmacktheit, welch miserables Geschwätz, welche Unkenntnis des Krieges.">

<244> Bülow wirft hier der östreichischen Donauarmee unter Kray vor, nach Ulm statt nach Tirol gegangen zu sein. Tirol, diese uneinnehmbare Bastion von Bergen und Felsen, beherrsche Bayern und einen Teil der Lombardei zu gleicher Zeit, sobald es von hinreichenden Truppen besetzt sei (Napoleon: "On n'attaque pas les montagnes, pas plus le Tirol que la Suisse, on les observe et on les tourne par les plaines" <"Man greift die berge nicht an, weder Tirol noch die Schweiz, man beobachtet sie nur und umgeht sie durch die Ebene">). Dann wirft Bülow Moreau vor, er habe sich durch Kray bei Ulm festhalten lassen, statt ihn stehenzulassen und Tirol, das schwach besetzt war, zu erobern: Die Eroberung Tirols hätte die östreichische Monarchie niedergeworfen (Napoleon: "Absurde, quand même le Tirol eût été ouvert, il ne fallait pas y entrer" <"Unsinnig, selbst wenn Tirol offen gewesen wäre, dürfte man nicht dort einrücken">).

Nachdem Napoleon die Lektüre des ganzen Buchs beendigt, charakterisierte er das System der exzentrischen Rückzüge und konzentrischen Angriffe und der Beherrschung der Ebenen durch die Berge mit folgenden Worten: "Si vous voulez apprendre la manière de faire battre une armée supérieure par une armée inférieure, étudiez les maximes de cet écrivain; vous aurez des idées sur la science de la guerre, il vous prescrit le contre-pied de ce qu'il faut enseigner." <"Wenn Sie lernen wollen, wie man es anstellt, eine überlegene Armee von einer schwächeren Armee schlagen zu lassen, so studieren Sie nur die Grundsätze dieses Schriftstellers, Sie werden schöne Begriffe von der Kriegswissenschaft bekommen, er schreibt Ihnen das Gegenteil von dem vor, was man lehren muß.">

Drei- bis viermal wiederholte Napoleon die Warnung: "Il ne faut jamais attaquer les pays des montagnes." <"Man darf niemals die Bergländer angreifen."> Diese Scheu vor dem Gebirg datiert offenbar aus seinen späteren Jahren, wo seine Armeen eine so kolossale Stärke erreichten und sowohl der Verpflegung wie der taktischen Entwicklung halber an die Ebenen gebunden waren. Spanien und Tirol mögen auch das ihrige dazu beigetragen haben. Sonst fürchtete er sich doch nicht so sehr vor den Bergen. Die erste Hälfte seines Feldzugs von [1796 und] 1797 wurde ganz im Gebirge geschlagen, und in den folgenden Jahren bewiesen Masséna und Macdonald hinlänglich, daß man auch im Gebirgskrieg - und grade da am allerersten - mit geringen Kräften Großes leisten kann. Aber im ganzen ist es klar, daß unsre modernen Armeen im gemischten Terrain der Ebnen und des niederen Hügellandes ihre Kräfte am besten zur Geltung bringen können und daß eine Theorie falsch ist, die vorschreibt, eine große Armee ins Hochgebirg zu werfen - nicht zum Durchzug, sondern um dort dauernd Stellung zu nehmen -, solange rechts und links Ebenen wie die bayerische und lombardische <245> frei liegen, in denen man den Krieg entscheiden kann. Wie lange kann eine Armee von 150.000 Mann in Tirol ernährt werden? Wie bald würde der Hunger sie in die Ebene hinuntertreiben, wo sie inzwischen dem Gegner Zeit gelassen hat, sich festzusetzen, wo sie gezwungen werden kann, eine Schlacht unter den ungünstigsten Bedingungen zu schlagen? Und wo könnte sie in den engen Tälern eine Position finden in der sie ihre ganze Starke entwickeln kann?

Für Östreich wäre, sobald es den Mincio und die Etsch nicht mehr besitzt, Tirol ein verlorner Posten, den es aufzugeben genötigt wäre, sobald er von Norden oder Süden angegriffen wird. Für Deutschland umgeht Tirol die Lombardei bis an die Adda durch seine Pässe; für ein separat handelndes Östreich umgeht die Lombardei und das Venetianische bis an die Brenta Tirol. Nur solange Bayern Tirol im Norden und der Besitz der Minciolinie es im Süden deckt, ist es für Östreich haltbar. Die Stiftung des Rheinbunde machte es für Östreich unmöglich, selbst Tirol und das Venetianische zusammengenommen ernsthaft zu verteidigen, und daher war es ganz konsequent, wenn Napoleon im Preßburger Frieden beide Provinzen von Östreich trennte.

Für Östreich also ist der Besitz der Minciolinie mit Peschiera und Mantua eine absolute Notwendigkeit. Für Deutschland als Ganzes ist ihr Besitz keineswegs notwendig, obwohl er militärisch immer noch ein großer Vorteil ist. Worin dieser Vorteil besteht, liegt auf der Hand. Nur darin, daß er uns von vornherein eine starke Position in der lombardischen Ebene sichert, die wir dann nicht erst zu erobern brauchen, und daß er unsere Verteidigungsstellung bequem arrondiert, unsre Offensive aber bedeutend unterstützt.

Wenn aber Deutschland die Minciolinie nicht hat?

Nehmen wir an, ganz Italien sei unabhängig, einig und mit Frankreich zum Offensivkriege gegen Deutschland verbündet. Aus allem, was wir bisher gesagt haben, geht hervor, daß in diesem Falle die Operations- und Rückzugslinie der Deutschen nicht Wien - Klagenfurt - Treviso sondern München - Innsbruck - Bozen und München - Füssen - Finstermünz - Glurus wären, und daß ihre Debouchés in der lombardischen Ebene zwischen der Val Sugana und der Schweizer Grenze liegen. Wo ist nun der entscheidende Angriffspunkt? Offenbar derjenige Teil Oberitaliens, der die Verbindung der Halbinsel mit Piemont und Frankreich vermittelt, der mittlere Po von Alessandria bis Cremona. Aber die Pässe zwischen Gardasee und Comer See reichen vollständig hin, um den Deutschen das Vordringen in diese Gegend zu gestatten und ihnen den Rückzug auf demselben Wege, im schlimmsten Fall über das Stilfser Joch, offenzuhalten. In diesem Fall würden die Mincio- und Etschfestungen, die wir im Besitz der Italiener angenommen haben, weitab vom <246> entscheidenden Schlachtfeld liegen. Eine Besatzung des verschanzten Lagers von Verona mit entsprechenden, zur Offensive hinlänglichen Kräften würde nur eine unnütze Zersplitterung der feindlichen Truppen sein. Oder erwartet man, daß die Italiener in Masse auf dem vielbeliebten Plateau von Rivoli den Deutschen das Etschtal verlegen würden? Seitdem die Stelviostraße (über das Stilfser Joch) gebaut ist, hat das Debouché aus dem Etschtal viel von seiner Wichtigkeit verloren. Aber gesetzt den Fall, daß Rivoli wieder als Schlüssel Italiens figurieren sollte und daß die Deutschen von der Attraktionskraft der dort stehenden italienischen Armee stark genug angezogen würden, um den Angriff zu machen - wozu sollte dann noch Verona dienen? Es schließt das Etschtal nicht, sonst wäre der Marsch der Italiener nach Rivoli überflüssig. Um den Rückzug im Fall einer Niederlage zu decken, ist Peschiera hinlänglich, das einen sichern Übergang über den Mincio bietet und damit den weiteren Marsch nach Mantua oder Cremona sicherstellt. Eine Massenaufstellung der ganzen italienischen Streitmacht zwischen den vier Festungen, etwa um die Ankunft der Franzosen hier zu erwarten, ohne zur Schlacht provoziert werden zu können, würde aber gerade von Anbeginn des Feldzugs an die uns feindlichen Kräfte in zwei Hälften teilen und es uns möglich machen, auf ihre Vereinigungslinie mit gesammelten Kräften erst gegen die Franzosen vorzudringen und, nachdem diese geschlagen, den allerdings etwas langwierigen Prozeß der Delogierung der Italiener aus ihren Festungen vorzunehmen. Ein Land wie Italien, dessen nationale Armee bei jedem erfolgreichen Angriff aus Norden und Osten sofort in das Dilemma versetzt ist, zwischen der Basis Piemont und der Basis der Halbinsel zu wählen, solch ein Land muß offenbar seine großen Defensivanlagen in der Gegend haben, wo die Armee in dies Dilemma kommen kann. Hier bieten der Einfluß des Tessin und der Adda in den Po Anhaltspunkte dar. Der General von Willisen ("Italienischer Feldzug des Jahres 1848") wünschte beide Punkte von den Östreichern befestigt. Abgesehen davon, daß dies schon deswegen nicht geht, weil ihnen das nötige Terrain nicht gehört (bei Cremona ist das rechte Po-Ufer parmesanisch, und in Piacenza haben sie nur das Garnisonsrecht), so sind auch beide Punkte für eine große Defensivstellung zu weit vorgeschoben in einem Lande, wo die Östreicher in jedem Kriege von Insurrektionen umgeben sein werden; ferner vergißt Willisen, der nie zwei Flüsse sich vereinigen sehen kann, ohne gleich für ein großes verschanztes Lager Pläne zu machen, daß weder Tessin noch Adda verteidigungsfähige Linien sind, also auch nach seiner eignen Ansicht das dahinterliegende Land nicht decken. Aber was für die Östreicher nutzlose Verschwendung wäre, das ist für die Italiener unbedingt eine gute Position. Für sie ist der Po die Haupt- <247> verteidigungslinie; das Dreieck Pizzighettone - Cremona - Piacenza, mit Alessandria links und Mantua rechts, würde eine wirksame Verteidigung dieser Linie herstellen und der Armee erlauben, sowohl gedeckt die Ankunft entfernter Bundesgenossen zu erwarten als auch im gegebnen Fall offensiv in der entscheidenden Ebene zwischen Sesia und Etsch vorzugehn.

Der General von Radowitz sprach sich in der Frankfurter Nationalversammlung dahin aus: Wenn Deutschland die Minciolinie nicht mehr besitze, so sei es in die Stellung versetzt, in die es jetzt erst nach einem ganzen unglücklichen Feldzug komme. Der Krieg sei dann sofort auf deutsches Gebiet gespielt; er fange am Isonzo und in Welschtirol an, und alles süddeutsche Gebiet bis nach Bayern hinein sei umgangen, so daß der Krieg auch in Deutschland statt am Oberrhein dann an der Isar ausgefochten werden müsse.

Der General von Radowitz scheint die militärischen Kenntnisse seines Publikums ziemlich richtig beurteilt zu haben. Es ist richtig: Wenn Deutschland die Minciolinie aufgibt, so gibt es an Terrain und Positionen so viel auf, als den Franzosen und Italienern ein ganzer glücklicher Feldzug einbringen würde. Aber damit ist Deutschland denn doch noch lange nicht in die Stellung versetzt, in die ein unglücklicher Feldzug es bringen würde. Oder ist eine starke, intakte deutsche Armee, die sich am bayrischen Fuß der Alpen versammelt und über die Tiroler Pässe marschiert, um in die Lombardei einzufallen, in derselben Lage wie ein durch eine unglückliche Kampagne ruiniertes und demoralisiertes Heer, das vom Feinde gejagt dem Brenner zueilt? Ist die Chance einer erfolgreichen Offensive von einer Position aus, die den Vereinigungspunkt der Franzosen und Italiener in vieler Beziehung beherrscht, gleich der Chance einer geschlagenen Armee, ihre Artillerie über die Alpen zu bringen? Ehe wir die Minciolinie hatten, haben wir Italien viel öfter erobert, als seitdem wir sie haben; wer will bezweifeln, daß wir im Notfall das Kunststück noch einmal machen?

Was nun den Punkt betrifft, daß ohne die Minciolinie der Krieg sofort nach Bayern und Kärnten hineingespielt wird, so ist auch das nicht richtig. Unsre ganze Darstellung läuft darauf hinaus, daß ohne die Minciolinie die Verteidigung der deutschen Südgrenze nur offensiv geschehen kann. Dazu führt die gebirgige Natur der deutschen Grenzprovinzen, die nicht zum entscheidenden Schlachtfeld dienen können: dazu fuhrt die günstige Lage der Alpenpässe. Das Schlachtfeld liegt in den Ebenen vor ihnen. Dort müssen wir hinabsteigen, und das kann uns keine Macht der Erde wehren. Eine günstigere Einleitung der Offensive als diejenige, die uns hier für den ungünstigsten Fall einer französisch-italienischen Allianz geboten wird, ist nicht <248> leicht zu denken. Unterstützt kann sie werden durch Verbesserung der Alpenstraßen und durch Befestigungen an den Straßenknoten in Tirol, die ansehnlich genug sein müssen, um im Fall des Rückzugs den Feind, wo nicht ganz aufzuhalten, doch zu starken Detachierungen zum Schutz seiner Verbindungen zu nötigen. Was die Alpenstraßen angeht, so beweisen uns sämtliche Kriege in den Alpen, daß auch die meisten nichtchaussierten Hauptwege und viele Saumpfade für alle Waffengattungen ohne übergroße Mühe passierbar sind. Unter diesen Umständen sollte eine deutsche Offensive in die Lombardei doch wahrlich so einzurichten sein, daß sie alle Aussicht auf Erfolg hat. Freilich, wir können trotzdem geschlagen werden; und dann würde der Fall eintreten, von dem Radowitz spricht. Wie steht es dann mit dem Entblößen Wiens und dem Umgehen Bayerns durch Tirol?

Erstens ist es klar, daß kein feindliches Bataillon wagen darf, über den Isonzo zu gehn, solange nicht die deutsche Armee von Tirol ganz und unwiederbringlich über den Brenner zurückgeworfen ist. Von dem Augenblick an, wo Bayern die deutsche Operationsbasis gegen Italien bildet, von dem Augenblick an hat eine italienisch-französische Offensive in der Richtung auf Wien gar keinen Zweck mehr, sie wäre eine nutzlose Zersplitterung der Kräfte. Wäre aber auch Wien dann noch ein so wichtiges Zentrum, daß es der Mühe wert wäre, die Hauptmacht der feindlichen Armee zu seiner Eroberung zu detachieren, so beweist das bloß, daß Wien befestigt werden muß. Napoleons Zug 1797 <(1859) 1798>, die Invasionen in Italien und Deutschland 1805 und 1809 hätten sehr schlimm für die Franzosen endigen können, wäre Wien befestigt gewesen. Eine auf solche Entfernungen vorgedrungene Offensive läuft immer Gefahr, an einer befestigten Hauptstadt ihre letzten Kräfte zu zerschellen, Übrigens angenommen, der Feind habe die deutsche Armee über den Brenner geworfen, welches Maß von Überlegenheit wird nicht vorausgesetzt, um eine wirksame Detachierung nach Inneröstreich möglich zu machen!

Wie steht es aber mit der Umgehung von ganz Süddeutschland durch Italien? In der Tat, wenn die Lombardei Deutschland bis München umgeht, wie weit umgeht dann Deutschland Italien? Doch jedenfalls bis Mailand und Pavia. Die Chancen sind also soweit gleich. Aber infolge der viel größeren Breite Deutschlands braucht eine Armee am Oberrhein, die über Italien auf München umgangen wird, darum nicht sogleich zurückzugehen. Ein verschanztes Lager in Oberbayern oder eine passagere Befestigung Münchens würde die geschlagene Tiroler Armee aufnehmen und die Offensive des nachdringenden Feindes bald zum Stehen bringen, während der Oberrhein- <249> armee die Wahl bliebe, sich auf Ulm und Ingolstadt oder auf den Main zu basieren, schlimmstenfalls also die Operationsbasis zu wechseln. In Italien dagegen ist das alles anders. Ist eine italienische Armee durch die Tiroler Pässe im Westen umgangen, so braucht sie nur noch aus ihren Festungen vertrieben zu werden, und ganz Italien ist erobert. Deutschland, in einem Kriege gegen Frankreich und Italien zusammen, hat stets mehrere Armeen, mindestens drei, und der Sieg oder die Niederlage hängt ab von dem Gesamtresultat aller drei Feldzüge. Italien bietet nur Raum für eine Armee; jede Teilung wäre ein Fehler; und ist diese eine Armee vernichtet, so ist damit Italien erobert. Für eine französische Armee in Italien ist die Verbindung mit Frankreich unter allen Umständen Hauptsache; und solange diese Verbindungslinie nicht auf den Col di Tenda und Genua beschränkt wird, solange bietet sie den Deutschen in Tirol die Flanke dar - und um so mehr, je weiter die Franzosen in Italien vorrücken. Der Fall eines Eindringens der Franzosen und Italiener nach Bayern durch Tirol muß allerdings von dem Augenblick an vorgesehen werden, wo wieder deutsche Kriege in Italien geführt werden und die Operationsbasis von Östreich nach Bayern verlegt wird. Aber mit geeigneten fortifikatorischen Anlagen im modernen Sinn, wo die Festungen um der Armeen, nicht aber die Armeen um der Festungen willen da sind, kann dieser Invasion weit leichter die Spitze abgebrochen werden als einer deutschen Invasion nach Italien. Und darum brauchen wir aus dieser sogenannten "Umgehung" von ganz Süddeutschland kein Schreckbild zu machen. Der Feind, der eine deutsche Oberrheinarmee durch Italien und Tirol umgeht, muß bis an die Ostsee vorrücken, ehe er die Früchte dieser Umgehung pflücken kann. Der Marsch Napoleons von Jena nach Stettin läßt sich aber in der Richtung von München auf Danzig schwerlich wiederholen.

Daß Deutschland, wenn es die Etsch- und Minciolinie aufgibt, einer sehr starken Defensivposition entsagt, dies bestreiten wir in keiner Weise. Daß aber diese Position zur Sicherheit der deutschen Südgrenze notwendig sei, dies bestreiten wir durchaus. Wenn man freilich, wie die Vertreter der entgegengesetzten Ansicht zu tun scheinen, von der Voraussetzung ausgeht, daß eine deutsche Armee, wo sie sich auch zeigt, jedesmal geschlagen wird - dann mag man sich einbilden, daß Etsch, Mincio und Po uns unbedingt nötig seien. Dann aber können sie in Wirklichkeit erst recht nichts nützen; dann helfen uns weder Festungen nach Armeen, dann gehen wir am besten gleich durch das Kaudinische Joch. Wir haben andre Ansichten von der Wehrkraft Deutschlands, und wir sind deshalb ganz zufrieden, unsre Südgrenze gesichert zu sehn durch die Vorteile, die sie der Offensive auf lombardischem Boden darbietet.

<250> Hier aber kommen auch politische Erwägungen ins Spiel, die wir nicht beiseite lassen können. Die nationale Bewegung in Italien ist seit 1820 aus jeder Niederlage verjüngt und gewaltiger hervorgegangen. Es gibt wenig Länder, deren sogenannte natürliche Grenzen so nahe mit den Grenzen der Nationalität zusammenfallen und zugleich so prononciert sind. Wenn in einem solchen Lande, das obendrein an fünfundzwanzig Millionen Einwohner zählt, die nationale Bewegung einmal erstarkt ist, so kann sie nicht wieder ruhen, solange einer der besten, politisch und militärisch wichtigsten Landesteile und damit beinahe ein Viertel der Gesamteinwohnerzahl einer antinationalen Fremdherrschaft unterworfen ist. Seit 1820 herrscht Östreich in Italien nur noch durch die Gewalt, durch das Niederschlagen wiederholter Insurrektionen, durch den Terrorismus des Belagerungszustandes. Um seine Herrschaft in Italien zu behaupten, ist Östreich genötigt, seine politischen Gegner, d.h. jeden Italiener, der sich als Italiener fühlt, schlimmer als gemeine Verbrecher zu behandeln. Die Art und Weise, wie die italienischen politischen Gefangenen von Östreich behandelt wurden und noch stellenweise behandelt werden, ist in zivilisierten Ländern unerhört. Die Östreicher haben politische Verbrecher in Italien mit besonderer Vorliebe durch Stockprügel zu infamieren gesucht, sei es um Geständnisse zu erpressen, sei es unter dem Vorwand der Strafe. Man hat über den italienischen Dolch, über den politischen Meuchelmord viel sittliche Entrüstung ergossen; man scheint aber ganz vergessen zu haben, daß der östreichische Stock ihn provozierte. Die Mittel, deren Östreich sich bedienen muß, um seine Herrschaft in Italien zu behaupten, sind der allerbeste Beweis, daß diese Herrschaft unmöglich von Dauer sein kann; und Deutschland, das trotz Radowitz, Willisen und Hailbronner nicht dasselbe Interesse an ihr hat als Östreich, Deutschland ist allerdings in den Fall versetzt, sich zu fragen, ob denn dies Interesse groß genug ist, um die vielen Nachteile aufzuwiegen, die mit ihr verbunden sind.

Oberitalien ist ein Anhängsel, das Deutschland unter allen Umständen nur im Kriege nutzen, im Frieden aber nur schaden kann. Die zu seiner Niederhaltung nötigen Armeen sind seit 1820 immer stärker geworden und übersteigen seit 1848 im tiefsten Frieden 70.000 Mann, die sich fortwährend wie in Feindesland befinden, jeden Augenblick auf Angriffe gefaßt sein müssen. Der Krieg 1848 und 1849 und die Okkupation Italiens bis heute - trotz der piemontesischen Kriegskontribution, trotz der wiederholten lombardischen Kontributionen, Zwangsanleihen und Extrasteuern - hat Östreich offenbar weit mehr gekostet, als ihm Italien seit 1848 eingebracht hat. Und doch ist von 1848 bis 1854 das Land systematisch als eine bloß provisorische Besitzung behandelt worden, aus der man zieht, soviel man kann, ehe man sie <251> räumt. Erst seit dem orientalischen Krieg ist die Lombardei auf ein paar Jahre in einen weniger abnormen Zustand getreten; und wie lange wird der dauern, bei den jetzigen Verwicklungen, wo das italienische Nationalgefühl wieder so heftig pulsiert?

Was aber viel wichtiger ist, wiegt der Besitz der Lombardei all den Haß, alle die fanatische Feindschaft auf, die er uns in ganz Italien zugezogen hat? Wiegt er die Mitverantwortlichkeit auf für die Maßregeln, durch die Östreich - im Namen und Interesse Deutschlands, wie uns versichert wird - seine Herrschaft dort sicherstellt? Wiegt er die fortwährenden Einmischungen in die inneren Angelegenheiten des übrigen Italiens auf, ohne die, nach der bisherigen Praxis und den östreichischen Versicherungen, die Lombardei nicht festgehalten werden kann und die den Haß der Italiener gegen uns Deutsche nur noch flammender machen? In allen bisherigen militärischen Erwägungen haben wir immer den schlimmsten Fall, den einer Allianz Frankreichs mit Italien, vorausgesetzt. Solange wir die Lombardei behalten, ist Italien unbedingt der Bundesgenosse Frankreichs in jedem französischen Kriege gegen Deutschland. Sobald wir sie aufgeben, hört das auf. Ist es aber unser Interesse, vier Festungen zu behalten und uns dagegen die fanatische Feindschaft und den Franzosen die Allianz von 25 Millionen Italienern zu sichern?

Das interessierte Gerede von der politischen Unfähigkeit der Italiener und ihrem Beruf, unter deutscher oder französischer Herrschaft zu stehn, sowie die verschiedenen Spekulationen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines einigen Italiens kommen uns im Munde von Deutschen etwas befremdlich vor. Wie lange ist es denn her, daß wir, die große deutsche Nation, die doppelt soviel Seelen zählt als die Italiener, seit wir dem "Beruf" entgangen sind, entweder unter französischer oder unter russischer Herrschaft zu stehn? Und hat die Praxis von heute die Frage von der Einheit oder Uneinheit Deutschlands gelöst? Stehen wir nicht in diesem Augenblick aller Wahrscheinlichkeit nach am Vorabend von Ereignissen, die über unsre Zukunft nach beiden Richtungen hin erst die Frage der Entscheidung entgegenreifen werden? Haben wir denn Napoleon in Erfurt ganz vergessen oder den östreichischen Appell an Rußland auf den Warschauer Konferenzen oder die Schlacht von Bronzell?

Wir wollen für den Augenblick zugeben, daß Italien entweder unter deutschem oder französischem Einfluß stehen muß. In diesem Fall entscheidet außer den Sympathien namentlich auch noch die militärgeographische Lage der beiden beeinflussenden Länder. Die Streitkräfte Frankreichs und Deutschlands wollen wir für gleich stark annehmen, obwohl Deutschland offenbar weit stärker sein könnte. Nun aber glauben wir bewiesen zu haben, daß im <252> allergünstigsten Fall, wenn nämlich das Wallis und der Simplon den Franzosen offenstehn, ihr unmittelbarer kriegerischer Einfluß nur Piemont umfaßt und sie erst eine Schlacht gewinnen müssen, um ihn auf weiterliegende Gebiete auszudehnen, während unser Einfluß sich auf die ganze Lombardei und auf den Verbindungspunkt zwischen Piemont und der Halbinsel erstreckt und man uns erst schlagen muß, um uns diesen Einfluß zu nehmen. Wo aber eine solche geographische Anlage zur Herrschaft gegeben ist, da hat der Einfluß Deutschlands nichts von der französischen Konkurrenz zu fürchten.

Der General Hailbronner sagte in der A[ugsburger] "A[llgemeinen] Z[eitung]" neulich ungefähr: Deutschland hat einen andern Beruf, als zum Blitzableiter für die Donnerschläge zu dienen, die sich über dem Haupt der bonapartischen Dynastie zusammenziehn. Mit demselben Recht können die Italiener sagen: Italien hat einen andern Beruf, als den Deutschen zum Puffer zu dienen gegen die Stöße, die Frankreich gegen sie führt, und zum Dank dafür von den Östreichern mit Stockprügeln regaliert zu werden. Wenn aber Deutschland ein Interesse daran hat, sich hier einen solchen Puffer zu erhalten, so geschieht das jedenfalls viel besser dadurch, daß es sich mit Italien auf einen guten Fuß stellt, der nationalen Bewegung ihr Recht widerfahren laßt und die italienischen Dinge solange den Italienern überläßt, als sie sich nicht in deutsche Dinge mischen. Die Radowitzsche Behauptung, daß Frankreich morgen in Oberitalien herrschen müsse, wenn Östreich heute hinausgeht, war zu ihrer Zeit ebenso unbegründet, als sie es noch vor drei Monaten war; wie die Dinge heute stehn, scheint sie eine Wahrheit werden zu wollen, aber in einem dem Radowitzschen entgegengesetzten Sinn. Wenn die fünfundzwanzig Millionen Italiener nicht ihre Unabhängigkeit behaupten können, so müssen es die zwei Millionen Dänen, die vier Millionen Belgier, die drei Millionen Holländer noch weniger. Trotzdem hören wir die Verteidiger der deutschen Herrschaft in Italien nicht über französische oder schwedische Herrschaft in diesen Ländern lamentieren und verlangen, daß sie durch deutsche Herrschaft ersetzt werde.

Was die Einheitsfrage angeht, so denken wir: Entweder kann Italien einig werden, und dann hat es eine eigne Politik, die notwendigerweise weder deutsch noch französisch ist und daher uns nicht schädlicher sein kann als den Franzosen; oder es bleibt zersplittert, und dann sichert uns die Zersplitterung Bundesgenossen in Italien bei jedem Krieg mit Frankreich.

Soviel ist jedenfalls sicher: Ob wir die Lombardei haben oder nicht, einen bedeutenden Einfluß in Italien haben wir immer, solange wir zu Hause stark sind. Überlassen wir es Italien, seine eignen Sachen selbst abzumachen, so <253> hört der Haß der Italiener gegen uns von selbst auf, und unser natürlicher Einfluß auf sie wird jedenfalls viel bedeutender und kann sich unter Umständen zur wirklichen Hegemonie steigern. Statt also unsre Stärke im Besitz fremden Bodens zu suchen und in der Unterdrückung einer fremden Nationalität, der nur das Vorurteil die Zukunftsfähigkeit absprechen kann, werden wir besser tun, dafür zu sorgen, daß wir in unsrem eignen Hause eins und stark sind.

III

<254> Was dem einen recht, das ist dem andern billig. Verlangen wir den Po und den Mincio zum Schutz nicht sowohl gegen die Italiener als gegen die Franzosen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Franzosen ebenfalls Flußlinien zum Schutz gegen uns in Anspruch nehmen.

Der Schwerpunkt Frankreichs liegt nicht im Zentrum an der Loire, bei Orléans, sondern im Norden, an der Seine, in Paris; und zweimalige Erfahrung beweist, daß mit Paris ganz Frankreich fällt. Die militärische Bedeutung der Grenzkonfiguration Frankreichs richtet sich also vor allem nach dem Schutz, den sie Paris gewährt.

Von Paris bis Lyon, Basel, Straßburg, Lauterburg in gerader Linie ist [es] ungefähr gleich weit, fünfundfünfzig Meilen etwa. Jede Invasion Frankreichs von Italien aus, mit Paris zum Objekt, muß aber in der Gegend von Lyon, zwischen Rhône und Loire, oder nördlicher vordringen, wenn sie nicht ihre Verbindungen gefährden will. Die Alpengrenze Frankreichs also, südlich von Grenoble, kommt bei einem Vorrücken gegen Paris nicht in Betracht; Paris ist von dieser Seite her vollständig gedeckt.

Von Lauterburg an verläßt die französische Grenze den Rhein und wendet sich, im rechten Winkel gegen ihn, nach Nordwesten; sie bildet von Lauterburg bis Dünkirchen eine so gut wie gerade Linie. Der Kreisbogen, den wir mit dem Radius Paris - Lyon über Basel und Straßburg bis Lauterburg beschrieben, wird also hier unterbrochen; die französische Nordgrenze bildet vielmehr die Sehne zu diesem Bogen, und das Kreissegment jenseits dieser Sehne gehört nicht zu Frankreich. Die kürzeste Verbindungslinie von Paris nach der Nordgrenze, die Linie Paris - Mons, ist nur halb so lang wie der Radius Paris - Lyon oder - Straßburg.

In diesen einfachen geometrischen Verhältnissen ist der Grund gegeben, warum Belgien das Schlachtfeld aller im Norden geführten Kriege zwischen Deutschland und Frankreich sein muß. Belgien umgeht das ganze östliche Frankreich von Verdun und der Obermarne bis an den Rhein. Das heißt: Eine <255> von Belgien eindringende Armee kann eher bei Paris sein als eine über Verdun oder Chaumont hinaus nach dem Rhein zu stehende französische Armee zurück sein kann; die aus Belgien vordringende Armee kann sich also bei erfolgreicher Offensive stets zwischen Paris und die französische Mosel-oder Rheinarmee einkeilen; um so mehr, als der Weg von der belgischen Grenze nach den die Umgehung entscheidenden Punkten an der Marne (Meaux, Château-Thierry, Epernay) noch kürzer ist als der nach Paris selbst.

Damit nicht genug. Auf der ganzen Linie, von der Maas bis zur See, steht in der Richtung auf Paris dem Feinde nicht das allergeringste Terrainhindernis entgegen, bis er an die Aisne und die untere Oise kommt, die aber für die Verteidigung von Paris gegen Norden ziemlich ungünstig verlaufen. Weder 1814 noch 1815 legten sie dem Angriff ernsthafte Schwierigkeiten in den Weg. Aber auch zugegeben, daß sie in den Bereich des durch die Seine und ihre Nebenflüsse gegebenen Verteidigungssystems gezogen werden können und 1814 teilweise hineingezogen wurden, so ist doch damit gleichzeitig als Tatsache ausgesprochen, daß die eigentliche Verteidigung Nordfrankreichs erst bei Compiègne und Soissons anfängt und daß die erste Defensivposition, die Paris gegen Norden deckt, nur zwölf Meilen von Paris liegt.

Eine schwächere Grenze als die französische gegen Belgien ist für einen Staat nicht leicht zu denken. Man weiß, welche Mühe sich Vauban gegeben hat, den Mangel natürlicher Verteidigungsmittel durch künstliche zu ersetzen; man weiß auch, wie 1814 und 1815 der Angriff durch den dreifachen Festungsgürtel hindurchdrang, fast ohne Notiz von ihm zu nehmen. Man weiß, wie 1815 Festung auf Festung den Angriffen eines einzigen preußischen Korps nach unerhört kurzer Belagerung und Beschießung erlag. Avesnes ergab sich am 22. Juni 1815, nachdem es einen halben Tag aus zehn Feldhaubitzen beschossen worden. Guise ergab sich an zehn Feldgeschütze, ohne einen Schuß zu tun. Maubeuge kapitulierte nach 14 Tagen offener Tranchee am 13. Juli. Landrecies öffnete seine Tore am 21. Juli nach 36 Stunden offener Tranchee und zweistündiger Beschießung, nachdem nur 126 Bomben und 52 Vollkugeln von den Belagerern abgefeuert waren. Mariembourg verlangte nur pro forma die Ehren einer offenen Tranchee und einer einzigen vierundzwanzigpfündigen Kugel und kapitulierte am 28. Juli. Philippeville hielt zwei Tage offener Tranchee und einige Stunden Beschießung, Rocroi 26 Stunden offener Laufgräben und zwei Stunden Bombardement aus. Nur Mézières hielt sich 18 Tage lang nach Eröffnung der Laufgräben. Es war eine Kapitulationswut unter den Kommandanten, die der in Preußen nach der Schlacht von Jena nicht viel nachgab; und wenn man anführt, daß diese Plätze 1815 verfallen, schwach garnisoniert und schlecht ausgerüstet waren, so ist doch nicht <256> zu vergessen, daß mit einzelnen Ausnahmen diese Festungen stets vernachlässigt sein müssen. Der Vaubansche dreifache Gürtel hat heutzutage allen Wert verloren er ist ein positiver Schaden für Frankreich. Keine der Festungen westlich der Maas deckt, für sich, irgendeinen Terrainabschnitt, und nirgends lassen sich vier oder fünf auffinden, die zusammen eine Gruppe bilden, innerhalb deren eine Armee Deckung findet und zugleich Manövrierfähigkeit behält. Dies kommt daher, daß keine an einem großen Flusse liegt. Die Lys, die Schelde, die Sambre bekommen Bedeutung für den Krieg erst auf belgischem Gebiet; und so erstreckt sich die Wirkung dieser im freien Felde zerstreut liegenden Festungen nicht über die Schußweite ihrer Kanonen hinaus. Mit Ausnahme von ein paar großen Depotplätzen an der Grenze, die einer Offensive nach Belgien zur Basis dienen können, und einigen Punkten an der Maas und Mosel, die strategische Wichtigkeit haben, dienen alle übrigen festen Plätze und Forts an der französischen Nordgrenze nur zur nutzlosesten Verzettelung der Streitkräfte. Jede Regierung, die sie schleifte, würde Frankreich einen Dienst tun; aber was würde der französische traditionelle Aberglaube dazu sagen?

Die französische Nordgrenze ist also im höchsten Grade ungünstig zur Verteidigung, sie ist in der Tat gar nicht zu verteidigen, und der Vaubansche Festungsgürtel, statt sie zu verstärken, ist heutzutage nur noch ein Eingeständnis und Denkmal ihrer Schwache.

Wie die mitteleuropäischen Großmachtstheoretiker in Italien, so sehen sich auch die Franzosen jenseits ihrer Nordgrenze nach einer Flußlinie um, die ihnen eine gute Defensivstellung gewähren würde. Welche könnte dies sein?

Die erste Linie, die sich darbietet, wäre die der Unterschelde und der Dyle, fortgesetzt bis an die Mündung der Sambre in die Maas. Diese Linie würde die bessere Hälfte Belgiens zu Frankreich schlagen. Sie würde fast alle berühmten belgischen Schlachtfelder in sich schließen, auf denen Franzosen und Deutsche sich bekämpft haben: Oudenarde, Jemappes, Fleurus, Ligny, Waterloo. Aber sie bildet nach immer keine Defensivlinie, sie ließe zwischen Schelde und Maas eine große Lücke, durch die der Feind ungehindert eindringen kann.

Die zweite Linie wäre die Maas selbst. Wenn Frankreich das linke Maasufer hätte, so würde es noch nicht einmal so günstig gestellt sein wie Deutschland, wenn es in Italien nur die Etschlinie besäße. Die Etschlinie arrondiert ziemlich vollständig, die Maas nur sehr unvollkommen. Wenn sie von Namur nach Antwerpen flösse, so würde sie eine viel bessere Grenzlinie bilden. Statt dessen aber verläuft sie von Namur aus nordöstlich und strömt erst jenseits Venlo in einem großen Bogen der Nordsee zu.

<257> Das ganze nördlich von Namur zwischen Maas und See gelegene Gebiet würde im Kriege nur durch seine Festungen gedeckt sein; denn ein feindlicher Maasübergang würde die französische Armee immer in der Ebene von Südbrabant finden, und eine französische Offensive auf das deutsche linke Rheinufer stieße sofort auf die starke Rheinlinie, und zwar ganz direkt auf das verschanzte Lager von Köln. Der einspringende Winkel der Maas zwischen Sedan und Lüttich trägt ferner dazu bei, die Linie zu schwächen, trotzdem er durch die Ardennen ausgefüllt wird. Die Maaslinie gibt also den Franzosen an einer Stelle zuviel, an der andern zuwenig für eine gute Grenzverteidigung. Gehen wir also weiter.

Setzen wir den einen Fuß unseres Zirkels auf der Karte wieder auf Paris und beschreiben mit dem Radius Paris - Lyon einen Bogen von Basel bis an die Nordsee, so finden wir, daß der Lauf des Rheins von Basel bis zu seiner Mündung mit einer merkwürdigen Genauigkeit diesem Bogen folgt. Bis auf wenige Meilen sind alle wichtigen Punkte am Rhein gleich weit von Paris entfernt. Dies ist der eigentliche, reelle Grund des französischen Verlangens nach der Rheingrenze.

Hat Frankreich den Rhein, so ist Paris, Deutschland gegenüber, wirklich der Mittelpunkt Frankreichs. Alle Radien, die von Paris der angreifbaren Grenze zulaufen, sei es an den Rhein, sei es an den Jura, sind gleich lang. Überall wird dem Feind die konvexe Peripherie des Kreises dargeboten, hinter der er auf Umwegen manövrieren muß, während die französischen Armeen auf der kürzeren Sehne sich bewegen und dem Feind zuvorkommen können. Die gleich langen Operations- und Rückzugslinien der verschiedenen Armeen erleichtern einen konzentrischen Rückzug ungemein und damit an einem gegebenen Punkt die Möglichkeit, zwei dieser Armeen zu einem Hauptschlage gegen den noch getrennten Feind zu vereinigen.

Mit dem Besitz der Rheingrenze würde das Verteidigungssystem Frankreichs, was die natürlichen Voraussetzungen betrifft, eins von denjenigen sein, die der General Willisen "ideale" nennt, die gar nichts mehr zu wünschen übriglassen. Das starke innere Verteidigungssystem des Seinebassins, durch die fächerförmig der Seine zuströmenden Flüsse Yonne, Aube, Marne, Aisne und Oise gebildet, dies Flußsystem, an dem Napoleon 1814 den Alliierten so derbe strategische Lektionen erteilte, wird dadurch erst nach jeder Richtung gleichmäßig gedeckt; der Feind kommt von allen Seiten ziemlich gleichzeitig heran und kann an den Flüssen aufgehalten werden, bis die französischen Armeen mit vereinigten Kräften jede seiner isolierten Kolonnen einzeln anzugreifen imstande sind; während ohne die Rheinlinie am entscheidendsten Punkt, bei Compiègne und Soissons, die Verteidigung erst 12 Meilen von <258> Paris zum Stehen kommen kann. In keinem Gebiet Europas würde die Verteidigung in der plötzlichen Konzentration großer Kräfte so durch die Eisenbahnen unterstützt werden wie in dem Lande zwischen Seine und Rhein. Von dem Zentrum Paris laufen die Eisenbahnradien nach Boulogne, Brügge, Gent, Antwerpen, Maastricht, Lüttich und Köln, nach Mannheim und Mainz über Metz, nach Straßburg, nach Basel, nach Dijon und Lyon. An welchem Punkt auch der Feind am stärksten auftreten möge, überall kann ihm von Paris aus auf der Eisenbahn die ganze Macht der Reservearmee entgegengeworfen werden. Die innere Verteidigung des Seinebassins wird speziell noch dadurch verstärkt, daß innerhalb desselben alle Eisenbahnradien durch die Flußtäler verlaufen (Oise, Marne, Seine, Aube, teilweise Yonne). Damit aber nicht genug. Drei konzentrische Eisenbahnbogen laufen in der Länge mindestens eines Quadranten um Paris in ziemlich gleichen Entfernungen herum: der erste durch die linksrheinischen Eisenbahnen, die nun schon fast ohne Unterbrechung von Neuß bis Basel laufen; der zweite geht von Ostende und Antwerpen über Namur, Arlon, Thionville, Metz und Nancy auf Epinal und ist ebenfalls so gut wie vollendet; der dritte endlich läuft von Calais über Lille, Douai, St.-Quentin, Reims, Châlons-sur-Marne und St.-Dizier nach Chaumont. Hier sind also in allen Ecken und Enden die Mittel gegeben, Massen von Truppen in der kürzesten Zeit auf einem beliebigen Punkt zu konzentrieren, und hier wäre durch Natur und Kunst und ohne alle Festungen die Verteidigung durch Manövrierfähigkeit so stark, daß eine Invasion Frankreichs auf ganz andern Widerstand zu rechnen hätte, als sie 1814 und 1815 fand.

Eins nur würde dem Rhein als Grenzstrom fehlen. Solange das eine Ufer ganz deutsch, das andere ganz französisch ist, solange beherrscht keines der beiden Völker ihn. Einer überlegnen Armee, welcher Nation sie auch angehöre, könnte der Übergang nirgends bestritten werden; das haben wir hundertmal gesehen, und die Strategie gibt die Gründe an, warum dem so sein muß. Bei einer überlegnen deutschen Offensive käme die französische Verteidigung erst weiter zurück zum Stehen: die Nordarmee an der Maas zwischen Venlo und Namur; die Moselarmee an der Mosel, beim Einfluß der Saar etwa; die Oberrheinarmee an der Obermosel und Obermaas. Um den Rhein vollständig zu beherrschen, um einem feindlichen Flußübergang energisch entgegentreten zu können, müßten die Franzosen also Brückenköpfe auf dem rechten Rheinufer haben. Es war von Napoleon also ganz konsequent, daß er Wesel, Kastel und Kehl dem französischen Kaiserreich ohne weiteres einverleibte. Wie die Sachen jetzt stehn, würde sich sein Neffe zur Ergänzung der schönen Festungen, die ihm die Deutschen aufs linke Rheinufer gebaut haben, außer- <259> dem noch Ehrenbreitstein, Deutz und zur Not auch den Germersheimer Brückenkopf ausbitten. Dann wäre das militärgeographische System Frankreichs nach Offensive und Defensive vollkommen, und jedes neue Anhängsel könnte nur schaden. Und wie sehr in der Natur begründet und sich von selbst verstehend dies System aussieht, davon haben die Alliierten 1813 ein schlagendes Zeugnis abgelegt. Seit kaum 17 Jahren hatte Frankreich dies System sich eingerichtet, und doch verstand es sich schon so von selbst, daß die hohen Verbündeten, trotz ihrer Übermacht und der Wehrlosigkeit Frankreichs, zurückschauderten vor dem Gedanken, daran zu rütteln, wie vor einem Sakrileg; und wenn die deutschnationalen Elemente der Bewegung sie nicht fortgerissen hätten, so wäre der Rhein noch heute ein französischer Strom.

Wenn wir aber den Franzosen nicht nur den Rhein, sondern auch die Brückenköpfe des rechten Ufers abgetreten haben, dann erst haben die Franzosen sich selbst gegenüber die Pflicht erfüllt, die wir nach der Meinung von Radowitz, Willisen und Hailbronner gegen uns erfüllen, indem wir Etsch und Mincio mit den Brückenköpfen Peschiera und Mantua behaupten. Dann aber haben wir auch Deutschland den Franzosen gegenüber so total ohnmächtig gemacht, wie Italien es jetzt gegenüber Deutschland ist. Und dann würde, wie 1813, Rußland der natürliche "Befreier" Deutschlands (wie Frankreich oder vielmehr die französische Regierung jetzt als "Befreier" Italiens auftritt) und würde sich zum Lohn seiner uneigennützigen Anstrengungen nur einige kleine Landstriche zur Arrondierung Polens ausbitten - etwa Galizien und Preußen; denn durch diese ist Polen ja auch "umgangen"!

Was für uns die Etsch und der Mincio, das, und noch viel Wichtigeres, ist für Frankreich der Rhein. Umgeht das Venetianische in den Händen Italiens, und eventuell Frankreichs, Bayern und den Oberrhein und legt die Straße nach Wien bloß, so umgeht Belgien und Deutschland durch Belgien ganz Ostfrankreich und legt die Straße nach Paris noch viel wirksamer bloß. Vom Isonzo bis Wien sind immer noch sechzig Meilen, in einem Terrain, wo die Verteidigung immer noch einigermaßen zum Stehen kommen kann; von der Sambre bis Paris sind dreißig Meilen, und erst zwölf Meilen vor Paris, bei Soissons oder Compiègne, findet die Defensive eine einigermaßen deckende Flußlinie. Begibt sich Deutschland, nach Radowitz, durch Aufgeben des Mincio und der Etsch von vornherein in die Lage, in die es sonst durch den

Verlust eines ganzen Feldzugs käme, so ist Frankreich mit seinen jetzigen Grenzen so gestellt, als hätte es die Rheingrenze gehabt und zwei Kampagnen verloren, die eine um die Festungen an Rhein und Maas, die zweite im Feld in der belgischen Ebene. Selbst die starke Position der oberitalischen Festungen findet sich einigermaßen wiederholt am Niederrhein und der Maas; <260> wäre nicht aus Maastricht, Köln, Jülich, Wesel und Venlo mit geringer Nachhülfe und etwa zwei Zwischenpunkten ein ebenso starkes System zu machen, das Belgien und Nordbrabant vollständig deckte, das einer für das Feld zu schwachen französischen Armee erlaubte, eine viel stärkere feindliche durch Manövrieren an den Flüssen festzuhalten und schließlich mittelst der Eisenbahnen sich ungehindert in die belgische Ebene oder auf Douai zurückzuziehen?

Wir haben während dieser ganzen Untersuchung angenommen, daß Belgien den Deutschen zum Angriff auf Frankreich vollständig offenstehe und mit ihnen alliiert sei. Da wir vom französischen Standpunkt aus argumentieren mußten, so hatten wir dasselbe Recht dazu wie unsre Gegner am Mincio, wenn sie Italien - auch ein freies und vereinigtes Italien - als den Deutschen stets feindlich annahmen. In allen solchen Dingen ist es ganz in der Ordnung, daß man den schlimmsten Fall zuerst untersucht, sich auf ihn zunächst gefaßt macht; und so müssen die Franzosen verfahren, wenn sie heute die Verteidigungsfähigkeit und die strategische Konfiguration ihrer Nordgrenze ins Auge fassen. Daß Belgien durch europäische Verträge ein neutrales Land ist, ebenso wie die Schweiz, können wir hier unbeachtet lassen. Erstens muß die geschichtliche Praxis erst noch beweisen, daß diese Neutralität bei einem europäischen Kriege mehr ist als ein Blatt Papier, und zweitens wird Frankreich in keinem Fall so fest auf sie rechnen können, daß es die ganze Grenze gegen Belgien militärisch so behandeln dürfte, als bildete dies Land einen deckenden Meerbusen zwischen Frankreich und Deutschland. Die Schwäche der Grenze bleibt also schließlich dieselbe, ob sie nun wirklich aktiv verteidigt wird oder ob nur Truppen detachiert werden, die sie gegen mögliche Angriffe besetzen.

Wir haben die Parallele zwischen Po und Rhein nun so ziemlich durchgeführt. Abgesehen von den größeren Dimensionen am Rhein, die aber den französischen Anspruch nur verstärken würden, ist die Analogie so vollkommen, wie sie nur gewünscht werden kann. Man muß hoffen, daß im Falle des Kriegs die deutschen Soldaten den Rhein am Po praktisch mit besserem Erfolg verteidigen, als die mitteleuropäischen Großmachtspolitiker dies theoretisch tun. Sie verteidigen am Po allerdings den Rhein, aber - nur für die Franzosen.

Für den Fall übrigens, daß die Deutschen auch einmal so unglücklich sein sollten, ihre "natürliche Grenze", den Po und Mincio, zu verlieren, für diesen Fall wollen wir doch die Analogie noch etwas weiterführen. Die Franzosen besaßen ihre "natürliche Grenze" nur siebenzehn Jahre und haben sich nun schon fast fünfundvierzig Jahre ohne sie behelfen müssen. Während dieser <261> Zeit sind ihre besten Militärs denn auch noch theoretisch zu der Einsicht gekommen, daß die Nutzlosigkeit des Vaubanschen Festungsgürtels gegen eine Invasion in den Gesetzen der modernen Kriegskunst begründet ist, daß also 1814 und 1815 weder Zufall noch die vielbeliebte "trahison" <"Verräterei">den Alliierten erlaubte, unbekümmert zwischen den Festungen durchzumarschieren. Daß zur Sicherung der exponierten Nordgrenze etwas geschehen mußte, war hiernach erst recht augenscheinlich. Trotzdem lag auf der Hand, daß keine Aussicht da war, die Rheingrenze so bald zu erhalten. Was war zu tun?

Die Franzosen halfen sich in einer Weise, die einem großen Volk Ehre macht: Sie befestigten Paris, sie machten zum ersten Male in der neueren Geschichte den Versuch, ihre Hauptstadt in ein verschanztes Lager im kolossalsten Maßstab umzuwandeln. Die Kriegsgelehrten der alten Schule schüttelten den Kopf über dies unverständige Unternehmen. Geld weggeworfen, rein der französischen Großprahlerei zu Gefallen!. Nichts dahinter, pure Windbeutelei, wer hat je von einer Festung gehört, die neun Meilen im Umkreis und eine Million Bewohner hat! Wie soll sie verteidigt werden, wenn man nicht die halbe Armee als Garnison hineinlegt? Wie soll man diese Menschen alle verproviantieren? Wahnsinn, französische Überhebung, gottloser Frevel, Wiederholung des Turmbaus zu Babel! So beurteilte der militärische Zopf das neue Unternehmen, derselbe Zopf, der den Belagerungskrieg an einem Vaubanschen Sechseck studiert und dessen passive Methode der Verteidigung keinen größeren offensiven Rückschlag kennt als den Ausfall eines Zugs Infanterie vom bedeckten Weg bis an den Glacisfuß! Die Franzosen aber bauten ruhig fort und haben die Genugtuung gehabt, daß, obwohl Paris die Feuerprobe noch nicht bestanden, die zopflosen Militärs von ganz Europa ihnen recht gegeben haben, daß Wellington Pläne zur Befestigung von London machte, daß um Wien, wenn wir nicht irren, der Bau detachierter Forts schon begonnen hat und daß die Befestigung Berlins wenigstens diskutiert wird. Sie haben selbst an dem Beispiel von Sewastopol erfahren müssen, welche enorme Stärke ein kolossales verschanztes Lager hat, wenn es von einer ganzen Armee besetzt, die Verteidigung im größten Maßstabe offensiv geführt wird. Und Sewastopol hatte nur einen Ringwall, keine detachierten Forts nur Feldwerke, keine gemauerten Eskarpen!

Seitdem Paris befestigt ist, kann Frankreich die Rheingrenze entbehren. Wie Deutschland in Italien, wird es seine Verteidigung an der Nordgrenze zunächst offensiv zu führen haben. Daß dies verstanden worden ist, das beweist die Disposition d Eisenbahnnetzes. Wird diese Offensive zurück- <262> geschlagen, so kommt die Armee an Oise und Aisne zum Stehen, und zwar definitiv; denn ein weiteres Vordringen des Feindes würde keinen Zweck mehr haben, da die aus Belgien kommende Invasionsarmee doch allein zu schwach wäre, gegen Paris zu agieren. Hinter der Aisne, in sichrer Verbindung mit Paris, im schlimmsten Falle hinter der Marne, den linken Flügel an Paris angelehnt, in offensiver Seitenstellung, könnte die französische Nordarmee die Ankunft der übrigen Armeen abwarten. Dem Feind bliebe nichts übrig, als auf Château-Thierry vorzugehn und gegen die Verbindungen der französischen Mosel- und Rheinarmeen zu operieren. Aber die Aktion wäre lange nicht mehr von der entscheidenden Wichtigkeit wie vor der Befestigung von Paris. Im schlimmsten Fall kann den übrigen französischen Armeen der Rückzug hinter die Loire nicht abgeschnitten werden; dort konzentriert, werden sie immer noch stark genug sein, der durch die Zernierung von Paris geschwächten und geteilten Invasionsarmee gefährlich zu werden oder sich nach Paris hinein durchzuschlagen. Nut einem Wort: Der Umgehung durch Belgien ist durch die Befestigung von Paris die Spitze abgebrochen, sie entscheidet nicht mehr, und man kann die Nachteile, die sie bringt, und die Mittel, die dagegen anzuwenden sind, einfach berechnen.

Das Beispiel der Franzosen werden wir wohl tun nachzuahmen. Statt uns betäuben zu lassen durch das Geschrei von der Unentbehrlichkeit einer außerdeutschen Besitzung, die Tag für Tag unhaltbarer für Deutschland wird, täten wir besser, uns auf den unvermeidlichen Moment vorzubereiten, wo wir Italien aufgeben werden. Je früher die uns dann nötigen Befestigungen im voraus angelegt werden, desto besser. Wo und wie sie anzulegen sind, darüber mehr zu sagen als die früher hingeworfenen Andeutungen, ist nicht unseres Amts. Nur lege man nicht illusorische Schwerpunkte an und vernachlässige, im Verlaß darauf, die einzigen Befestigungen, die eine zurückgehende Armee zum Stehen bringen können: verschanzte Lager und Festungsgruppen an Flüssen.

IV

<263> Wir haben jetzt gesehen, wohin die von den mitteleuropäischen Großmachtspolitikern aufgestellte Theorie der natürlichen Grenzen führt. Dasselbe Recht, das Deutschland auf den Po hat, hat Frankreich auf den Rhein. Soll Frankreich nicht um einer guten militärischen Position willen sich neun Millionen Wallonen, Niederländer und Deutsche einverleiben, so haben wir auch kein Recht, sechs Millionen Italiener um einer militärischen Stellung willen zu unterjochen. Und diese natürliche Grenze, der Po, ist doch am Ende nur eine militärische Position, und nur darum, sagt man uns, soll Deutschland ihn behaupten.

Die Theorie der natürlichen Grenzen macht der schleswig-holsteinischen Frage mit dem einen Ruf ein Ende: Danmark til Eideren! Dänemark bis zur Eider! Was verlangen denn die Dänen anders als ihren Po und Mincio, der Eider heißt, ihr Mantua, genannt Friedrichstadt?

Die Theorie der natürlichen Grenzen verlangt mit demselben Recht, auf das Deutschland sich am Po stützt, für Rußland Galizien und die Bukowina und eine Arrondierung nach der Ostsee zu, die mindestens das ganze preußische rechte Weichselufer in sich schließt. Sie wird wenige Jahre später mit demselben Recht die Anforderung stellen können, daß die Oder die natürliche Grenze Russisch-Polens sei.

Die Theorie der natürlichen Grenzen, auf Portugal angewandt, ist gezwungen, dies Land bis an die Pyrenäen auszudehnen und ganz Spanien in Portugal aufgehn zu lassen.

Die natürliche Grenze von Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein wird ebenfalls mindestens bis an die Grenze des deutschen Bundesgebiets und darüber hinaus bis an den Po und vielleicht an die Weichsel ausgedehnt werden müssen, wenn anders den Gesetzen der ewigen Gerechtigkeit Rechnung getragen werden soll, und Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein hat ebensoviel Anspruch, daß ihm sein Recht werde, wie Östreich.

<264> Wenn die Theorie der natürlichen, d.h. ausschließlich durch militärische Erwägungen festgestellten Grenzen richtig ist, welchen Namen sollen wir dann den deutschen Diplomaten geben, die auf dem Wiener Kongreß uns an den Rand eines Kriegs Deutscher gegen Deutsche brachten, uns die Maaslinie entgehen ließen, die deutsche Ostgrenze bloßlegten und es dem Ausland überließ[en], Deutschland einzugrenzen und zu repartieren? Wahrlich, kein Land hat soviel Ursache, sich über den Wiener Kongreß zu beklagen, als Deutschland; aber wenn wir den Maßstab der natürlichen Grenzen anlegen, wie sieht es dann erst mit der Reputation der deutschen Staatsmänner von damals aus? Und gerade dieselben Leute, die die Theorie der natürlichen Grenzen am Po verteidigen, leben von dem Nachlaß der Diplomaten von 1815 und setzen die Tradition des Wiener Kongresses fort.

Wollt ihr ein Beispiel davon?

Als Belgien sich 1830 von Holland losriß, da erhoben dieselben Leute ihre Stimme, die jetzt den Mincio zu einer Lebenstrage machen. Sie riefen Zeter über die Zerstückelung der starken niederländischen Grenzmacht, die ein Bollwerk gegen Frankreich bilden sollte und die sich sogar - nach allen Erfahrungen von zwanzig Jahren noch soviel Aberglaube - hatte verpflichten müssen, um den in seiner Art wenigstens großartigen Vaubanschen Festungsgürtel ein dünnes Bändchen von Festungen herumzulegen. Als fürchteten die Großmächte, Arras und Lille und Douai und Valenciennes würden eines schönen Morgens mit all ihren Bastionen, Demilünes und Lünetten nach Belgien hineinmarschieren und sich dort häuslich niederlassen! Damals wehklagten die Repräsentanten derselben bornierten Richtung, die wir hier bekämpfen, Deutschland sei in Gefahr, denn Belgien sei nur ein willenloses Anhängsel von Frankreich, ein notwendiger Feind Deutschlands, und die wertvollen Festungen, die mit deutschem (d.h. den Franzosen abgenommenem) Gelde gebaut seien als Schutz gegen Frankreich, die ständen jetzt den Franzosen gegen uns zu Gebote. Die französische Grenze sei bis an und über die Maas und Schelde vorgerückt, wie lange werde es dauern, bis sie an den Rhein vorgeschoben werde. Die meisten von uns erinnern sich dieser Lamentationen noch ganz deutlich. Und was ist geschehen? Belgien hat sich seit 1848 und besonders seit der bonapartischen Restauration immer entschiedner von Frankreich abgewandt und Deutschland genähert. Es kann jetzt sogar schon für ein auswärtiges Mitglied des Deutschen Bunde gelten. Und was taten die Belgier, sobald sie sich mit Frankreich in eine Art Opposition setzten? Sie schleiften alle die Festungen, die die Weisheit des Wiener Kongresses dem Lande oktroyiert hatte, als vollständig nutzlos gegen Frankreich und errichteten um Antwerpen ein verschanztes Lager, groß genug, die ganze <265> Armee aufzunehmen und dort im Falle einer französischen Invasion englischen oder deutschen Sukkurs abwarten zu können Und mit Recht.

Dieselbe weise Politik. die 1830 mit Gewalt das katholische, vorzugsweise französisch sprechende Belgien an das protestantische, holländisch redende Holland gefesselt halten wollte, dieselbe weise Politik will seit 1848 Italien mit Gewalt unter dem östreichischen Druck halten und uns Deutsche für Östreichs Handlungen in Italien verantwortlich machen. Und alles das aus reiner Furcht vor Frankreich. Der ganze Patriotismus dieser Herren scheint darin zu bestehen, daß sie in eine fieberhafte Aufregung geraten, sobald von Frankreich die Rede ist. Sie scheinen die Schläge noch immer nicht verwunden zu haben die der alte Napoleon vor fünfzig und sechzig Jahren austeilte. Wir gehören wahrlich nicht zu denen, die die Kriegsmacht Frankreichs unterschätzen. Wir wissen sehr gut, daß z.B., was leichte Infanterie angeht und Erfahrung und Geschick im kleinen Krieg und gewisse Seiten der Artilleriewissenschaft keine Armee in Deutschland sich mit der französischen messen kann. Aber wenn Leute erst mit den zwölfhunderttausend Soldaten Deutschlands um sich werfen, als ständen sie da, fix und fertig wie Schachfiguren, mit denen der Herr Dr. Kollo eine Partie gegen Frankreich um Elsaß und Lothringen spielt - und wenn dieselben Leute dann bei jeder Gelegenheit eine Zaghaftigkeit an den Tag legen, als verstände es sich von selbst, daß diese zwölfhunderttausend Mann von halb soviel Franzosen in die Pfanne gehauen werden müßten, es sei denn, daß besagte Zwölfhunderttausend sich in lauter uneinnehmbare Positionen verkriechen - so ist es wahrlich hohe Zeit, daß man die Geduld verliert. Es ist Zeit, dieser Politik der passiven Defensive gegenüber daran zu erinnern, daß, wenn auch Deutschland im ganzen und großen auf eine Defensive mit offensiven Rückschlägen angewiesen sein mag, doch keine Defensive wirksamer ist als die aktive, die offensiv geführte. Es ist Zeit, daran zu erinnern, daß wir den Franzosen und andern Nationen gegenüber uns im Angriff oft genug überlegen gezeigt haben.

"Im übrigen ist das Genie von unseren Soldaten, zu attackieren; es ist solches auch schon ganz recht",

sagt Friedrich der Große von seiner Infanterie; wie seine Kavallerie zu attackieren verstand, davon mögen Roßbach, Zorndorf, Hohenfriedberg Zeugnis ablegen. Wie die deutsche Infanterie 1813 und 1814 anzugreifen gewohnt war, dafür ist der beste Beweis die bekannte Instruktion Blüchers bei Eröffnung des Feldzug von 1815:

"Da die Erfahrung gelehrt hat, daß die französische Armee den Bajonettangriff unsrer Bataillionsmassen nicht auszuhalten vermag, so ist es Recht, diesen stets auszu- <266> führen, wo es darauf ankommt, den Feind über den Haufen zu werfen oder einen Posten zu gewinnen."

Unsre schönsten Schlachten sind Offensivschlachten gewesen, und wenn der deutsche Soldat einer bestimmten Qualifikation des französischen entbehrt, so ist es erwiesenermaßen derjenigen, sich defensiv in Dörfern und Häusern einzunisten; im Angriff kann er sich schon neben ihm sehen lassen und hat es oft genug getan.

Was übrigens diese Politik selbst betrifft, abgesehen von den zugrunde liegenden Motiven, so besteht sie darin: zuerst unter dem Vorwande der Verteidigung angeblicher oder bis ins Absurde übertriebener deutscher Interessen uns bei allen kleineren Grenznachbarn verhaßt zu machen und dann sich darüber zu entrüsten, daß diese sich mehr an Frankreich anschließen. Es waren fünf Jahre bonapartischer Restauration nötig, um Belgien von der französischen Allianz zu trennen, in die die Politik von 1815, fortgesetzt 1830, die Politik der Heiligen Allianz, es gejagt hatte; und in Italien haben wir den Franzosen eine Position gemacht, die die Minciolinie wahrlich aufwiegt. Und dennoch ist die französische Politik gegenüber Italien immer borniert, engherzig, ausbeutend gewesen, so daß die Italiener bei irgend loyaler Behandlung von unserer Seite unbedingt mehr zu uns gehalten hätten als zu Frankreich. Wie sie von 1796 bis 1814 von Napoleon und seinen Statthaltern und Generalen an Geld, Naturalien, Kunstschätzen und Menschen ausgesogen worden sind, ist bekannt genug. 1814 kamen die Östreicher als "Befreier" und wurden als Befreier aufgenommen. (Wie sie Italien befreit haben, davon zeugt der Haß, den heute jeder Italiener gegen die Tedeschi <Deutschen> hat.) Soviel über die Praxis der französischen Politik in Italien; über die Theorie brauchen wir bloß zu sagen, daß sie nur einen Grundsatz kennt: Frankreich kann nie ein einheitliches und unabhängiges Italien dulden. Bis auf Louis-Napoleon herab steht dieser Grundsatz fest, und damit allen Mißverständnissen vorgebeugt werde, muß La Guéronnière ihn jetzt abermals als ewige Wahrheit proklamieren. Und einer so bornierten spießbürgerlichen Politik Frankreichs gegenüber, einer Politik, die das Recht der Einmischung in die innern Angelegenheiten Italiens ohne weiteres in Anspruch nimmt - einer solchen Politik gegenüber sollten wir Deutsche zu befürchten haben, daß ein nicht mehr unter direkter deutscher Herrschaft stehendes Italien stets Frankreichs gehorsamer Diener gegen uns sein werde? Es ist wahrhaft lächerlich. Es ist das alte Zeter von 1830 wegen Belgien. Belgien ist uns trotzdem gekommen, ungebeten gekommen, Italien müßte uns ebenso kommen.

<267> Es muß übrigens durchaus festgehalten werden, daß die Frage um den Besitz der Lombardei eine Frage zwischen Italien und Deutschland ist, nicht aber zwischen Louis-Napoleon und Östreich. Gegenüber einem Dritten wie Louis-Napoleon, einem Dritten, der um seiner eignen, in andrer Beziehung antideutschen Interessen willen sich einmischt, handelt es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur gezwungen abtritt, einer militärischen Position, die man nur räumt, wenn man sie nicht mehr halten kann. Die politische Frage tritt in diesem Fall sogleich hinter die militärische zurück; werden wir angegriffen, so wehren wir uns.

Wenn Louis-Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit auftreten will, so kann er sich den Krieg gegen Östreich sparen. Charité bien ordonnée commence chez soi-même. <Eine wohlbeschaffene Mildherzigkeit betätigt sich zunächst daheim.> Das "Departement" Korsika ist eine italienische Insel, italienisch, trotzdem es das Vaterland des Bonapartismus ist. Möge Louis-Napoleon seinem Onkel Viktor Emanuel vorerst Korsika abtreten, vielleicht lassen wir dann auch mit uns reden. Bis er dies getan hat, wird er wohl tun, seine Begeisterung für Italien für sich zu behalten.

Es ist in ganz Europa keine größere Macht, die nicht Teile andrer Nationen mit ihrem Gebiete vereinigt hätte. Frankreich hat flämische, deutsche, italienische Provinzen. England, das einzige Land, das wirklich natürliche Grenzen besitzt, ist in jeder Richtung über sie hinausgegangen, hat Eroberungen in allen Ländern gemacht und ist jetzt auch mit einer seiner Dependenzen, den Ionischen Inseln, in Streit, nachdem es eben eine kolossale Rebellion in Indien mit echt östreichischen Mitteln niedergeschlagen hat. Deutschland hat halbslawische Provinzen, slawische, magyarische, walachische und italienische Anhängsel. Und über wieviel Zungen herrscht der weiße Zar von Petersburg!

Daß die Karte von Europa definitiv festgestellt sei, wird kein Mensch behaupten. Alle Veränderungen, sofern sie Dauer haben, müssen aber im ganzen und großen darauf hinausgehn, den großen und lebensfähigen europäischen Nationen mehr und mehr ihre wirklichen natürlichen Grenzen zu geben, die durch Sprache und Sympathien bestimmt werden, während gleichzeitig die Völkertrümmer, die sich hier und da noch finden und die einer nationalen Existenz nicht mehr fähig sind, den größeren Nationen einverleibt bleiben und entweder in ihnen aufgehen oder sich nur als ethnographische Denkmäler ohne politische Bedeutung erhalten. Militärische Erwägungen können nur in zweiter Linie gelten.

Soll aber die Karte von Europa revidiert werden, so haben wir Deutsche <268> das Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe und daß man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle Opfer bringen, während alle andern Nationen von ihnen Vorteil haben, ohne das geringste aufzugeben. Wir können manches entbehren, das an den Grenzen unsres Gebiets herumhängt und uns in Dinge verwickelt, in die wir uns besser nicht so direkt einmischten. Aber geradeso geht es andern auch; mögen sie uns das Beispiel der Uneigennützigkeit geben oder schweigen. Das Endresultat aber dieser ganzen Untersuchung ist, daß wir Deutsche einen ganz ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten gegen die Einheit, die uns vor einer Wiederholung von Warschau und Bronzell schützt und die allein uns nach innen und außen stark machen kann. Haben wir diese Einheit, so kann die Defensive aufhören. Wir brauchen dann keinen Mincio mehr; "unser Genie" wird wieder sein, "zu attackieren"; und es gibt noch einige faule Flecke, wo dies nötig genug sein wird.

Zurück zum Gesamtverzeichnis Karl Marx/Friedrich Engels - Werke