Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 7, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 417-420.

Friedrich Engels

[Über die Losung der Abschaffung des Staates und die deutschen "Freunde der Anarchie"]

Geschrieben Oktober 1850.
Nach dem Manuskript.


<417> "Die Abschaffung des Staats hat nur einen Sinn bei den Kommunisten als notwendiges Resultat der Abschaffung der Klassen, mit denen von selbst das Bedürfnis der organisierten Macht einer Klasse zur Niederhaltung der andern wegfällt. In bürgerlichen Ländern bedeutet die Abschaffung des Staats die Zurückführung der Staatsgewalt auf den Maßstab von Nordamerika. Hier sind die Klassengegensätze nur unvollständig entwickelt; die Klassenkollisionen werden jedesmal vertuscht durch den Abzug der proletarischen Überbevölkerung nach dem Westen; das Einschreiten der Staatsmacht, im Osten auf ein Minimum reduziert, existiert im Westen gar nicht. In feudalen Ländern bedeutet die Abschaffung des Staats die Abschaffung des Feudalismus und die Herstellung des gewöhnlichen bürgerlichen Staats. In Deutschland verbirgt sich hinter ihr entweder die feige Flucht aus den unmittelbar vorliegenden Kämpfen, die überschwengliche Verschwindelung der bürgerlichen Freiheit zur absoluten Unabhängigkeit und Selbständigkeit des einzelnen, oder endlich die Gleichgültigkeit des Bürgers gegen jede Staatsform, vorausgesetzt, daß die bürgerlichen Interessen in ihrer Entwicklung nicht gehemmt werden. Daß diese Abschaffung des Staats 'im höheren Sinn' in so alberner Weise gepredigt wird, dafür können natürlich die Berliner Stirner und Faucher nicht. La plus belle fille de la France ne peut donner que ce qu'elle a. <Das schönste Mädchen Frankreichs kann nur das geben, was es hat.>" ("N. Rh. Z.", Heft IV, p. 58.)

Die Abschaffung des Staats, die Anarchie ist inzwischen in Deutschland ein allgemeines Stichwort geworden. Die versprengten deutschen Schüler Proudhons, die Berliner "höhere" Demokratie und sogar die verschollenen "edelsten Geister der Nation" aus dem Stuttgarter Parlament und der <418> Reichsregentschaft haben sich, jeder in seiner Weise, dies wildaussehende Stichwort angeeignet.

Alle diese Fraktionen stimmen in der Aufrechterhaltung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft überein. Mit der bürgerlichen Gesellschaft vertreten sie daher notwendig die Herrschaft der Bourgeoisie und in Deutschland sogar die Eroberung der Herrschaft durch die Bourgeoisie; sie unterscheiden sich von den wirklichen Vertretern der Bourgeoisie nur durch die fremdartige Form, die ihnen den Schein des "Weitergehens", des "am allerweitesten Gehens" gibt. In allen praktischen Kollisionen verschwand dieser Schein; gegenüber der wirklichen Anarchie revolutionärer Krisen, <[Im Manuskript gestrichen:] wo die Staatsmacht vor der Macht der Massen verschwand> wo die Massen <[im Manuskript gestrichen:] sich der Gewalt bemächtigen> mit "brutaler Gewalt" gegeneinander ankämpften, taten diese Vertreter der Anarchie jedesmal ihr möglichstes, um der Anarchie zu steuern. Der Inhalt dieser vielgerühmten "Anarchie" lief schließlich auf denselben hinaus, den man in entwickelteren Ländern mit dem Wort "Ordnung" ausdrückt. Die "Freunde der Anarchie" in Deutschland stehen in voller entente cordiale <Herzenseintracht> mit den "Freunden der Ordnung" in Frankreich.

Soweit die Freunde der Anarchie nicht von den Franzosen Proudhon und Girardin abhängig sind, soweit ihre Anschauungsweise germanischen Ursprungs ist, haben sie alle eine gemeinsame Quelle: Stirner. Die Auflösungsperiode der deutschen Philosophie hat überhaupt der demokratischen Partei in Deutschland den größten Teil ihrer allgemeinen Phrasen geliefert. Die Vorstellungen und Phrasen der letzten deutschen Schriftgelehrten, namentlich Feuerbachs und Stirners, waren schon vor dem Februar in ziemlich dissoluter Form in das gemeine belletristische Bewußtsein und die Zeitungsliteratur übergegangen, und diese bildeten wieder die Hauptquelle für die nachmärzlichen demokratischen Wortführer. Stirners Predigt von der Staatlosigkeit namentlich paßt vortrefflich, um der Proudhonschen Anarchie und der Girardinschen Abschaffung des Staats die deutsche philosophische "höhere Weihe" zu geben. Stirners Buch "Der Einzige und sein Eigenthum" ist zwar verschollen, aber seine Vorstellungsweise, besonders seine Kritik des Staats, taucht wieder auf in den Freunden der Anarchie. Haben wir schon früher die Quellen dieser Herren, soweit sie französischen Ursprungs waren, untersucht, so müssen wir, um ihre deutschen Quellen zu prüfen, abermals hinabsteigen in die Tiefen der vorsündflutlichen deutschen Philosophie. Wenn man sich einmal mit der deutschen Tagespolemik befassen muß, ist es immer <419> angenehmer, sich an die ursprünglichen Erfinder einer Anschauungsweise zu halten als an die Trödler zweiter Hand.

Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen,
Zum Ritt ins alte romantische Land!
<Wieland, "Oberon">

Ehe wir auf das erwähnte Stirnersche Buch selbst eingehen, müssen wir uns zurückversetzen in das "alte romantische Land" und in die vergessene Zeit, in der dies Buch erschien. Die preußische Bourgeoisie, an die Finanzverlegenheiten der Regierung sich anklammernd, begann, sich politische Macht zu erobern, während gleichzeitig, neben der bürgerlich-konstitutionellen Bewegung, die kommunistische Bewegung im Proletariat täglich weiter um sich griff. Die bürgerlichen Elemente der Gesellschaft, der proletarischen Unterstützung noch zur Erreichung ihrer eigenen Zwecke bedürftig, mußten überall einen gewissen Sozialismus affektieren; die konservative und feudale Partei war ebenfalls gezwungen, dem Proletariat Versprechungen zu machen. Neben dem Kampf der Bourgeois und Bauern gegen Feudaladel und Bürokratie - der Kampf der Proletarier gegen die Bourgeois; dazwischen eine Reihe von sozialistischen Mittelstufen, die alle Arten von Sozialismus, den reaktionären, den kleinbürgerlichen, den Bourgeoissozialismus, umfaßten; alle diese Kämpfe und Bestrebungen, niedergehalten, in ihrem Ausdruck gedämpft durch den Druck der herrschenden Gewalt, durch die Zensur, durch das Verbot der Vereine und Versammlungen - das war die Stellung der Parteien zu jener Zeit, wo die deutsche Philosophie ihre letzten kümmerlichen Triumphe feierte.

Die Zensur nötigte von vornherein allen mehr oder minder mißliebigen Elementen die möglichst abstrakte Ausdrucksweise auf; die deutsche philosophische Tradition, die gerade bei der vollständigen Auflösung der Hegelschen Schule angekommen war, lieferte diesen Ausdruck. Der Kampf gegen die Religion dauerte noch fort. Je schwieriger der politische Kampf gegen die bestehende Gewalt in der Presse wurde, desto eifriger wurde er in der Form des religiösen und philosophischen Kampfs fortgesetzt. Die deutsche Philosophie, in ihrer aufgelöstesten Form, wurde Gemeingut der "Gebildeten", und je mehr sie Gemeingut wurde, desto aufgelöster, zerfahrener und fader wurden die Philosophen, und diese Liederlichkeit und Fadheit gab ihnen wieder um so höheres Ansehn in den Augen des "gebildeten" Publikums.

Die Verwirrung in den Köpfen der "Gebildeten" war schreckenerregend und nahm jeden Augenblick noch zu. Es war eine wahre Racenkreuzung von Ideen deutschen, französischen, englischen, antiken, mittelalterlichen und modernen Ursprungs. Die Verwirrung war um so größer, da man alle Ideen <420> erst aus zweiter, dritter und vierter Hand besaß und sie daher in einer bis zur Unkenntlichkeit entstellten Gestalt zirkulierten. Nicht nur die Gedanken der französischen und englischen Liberalen und Sozialisten, auch die Ideen von Deutschen, z.B. Hegels, teilten dies Schicksal. Die ganze Literatur jener Zeit, und besonders, wie wir sehen werden, Stirners Buch, liefert zahllose Beweise davon, und die gegenwärtige deutsche Literatur laboriert noch heute stark an den Folgen.

Die philosophischen Spiegelfechtereien dienten unter dieser Konfusion als Abbild der wirklichen Kämpfe. Jede "neue Wendung" in der Philosophie erregte die allgemeine Aufmerksamkeit der "Gebildeten", die in Deutschland eine Unzahl müßiger Köpfe, Referendarien, Schulamtskandidaten, gescheiterte Theologen, brotlose Mediziner, Literaten etc. etc. in sich schließen. Für diese Leute war mit jeder solchen "neuen Wendung" eine geschichtliche Entwicklungsstufe überwunden und auf immer abgetan. Der bürgerliche Liberalismus z.B., sobald ein beliebiger Philosoph ihn beliebig kritisiert hatte, war tot, aus der geschichtlichen Entwicklung gestrichen und auch für die Praxis vernichtet. Ebenso der Republikanismus, der Sozialismus usw. Wie sehr diese Entwicklungsstufen "vernichtet", "aufgelöst", "abgetan" waren, zeigte sich nachher in der Revolution, wo sie die Hauptrolle spielten und wo von ihren philosophischen Vernichtern plötzlich keine Rede mehr war.

Die Liederlichkeit in Form und Inhalt, die arrogante Plattheit und aufgeblähte Fadaise, die bodenlose Trivialität und dialektische Misere dieser letzten deutschen Philosophie übertrifft alles, was bisher in diesem Fach dagewesen ist. Sie wird nur erreicht durch die unglaubliche Leichtgläubigkeit des Publikums, das alle diese Sachen für bare Münze, für nagelneu, für "noch nie dagewesen nahm. Die deutsche Nation, die "gründliche" ... <Hier endet das Manuskript>.