Der politische Prozeß | Inhalt | Lassalle

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 261-266
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

[Die Teilung der Arbeit bei der "Kölnischen Zeitung"]

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 219 vom 11. Februar 1849, Zweite Ausgabe]

<261> *Köln, 10. Februar. Wir haben, beim besten Willen, in der vorigen Woche selbst unsre besten Freunde, unsre nächsten Nachbarn nicht berücksichtigen können. Andre Geschäfte, man kennt sie, haben uns im Atem erhalten. Beeilen wir uns jetzt, das Versäumte nachzuholen, und wenden wir unsre Blicke zuerst auf die benachbarten Publizisten.

Die Teilung der Arbeit wird bei der "Kölnischen Zeitung" mit einem seltenen Ensemble durchgeführt. Sehen wir ab von den entlegneren Teilen des Blattes, von der dritten und vierten Seite, wo der edle Wolfers Belgien preist und sein möglichstes tut, damit Heinrich V. den Thron seiner Ahnen wieder besteige und eine Verfassung "nach dem Muster der belgischen" oktroyiere; halten wir uns nur ans Frontispiz, an die erste Seite. Hier hat unser Freund Schücking das Unterstübchen inne und stellt dort für den Liebhaber die neuesten Produkte seiner doktrinären Phantasie und seines phantastischen Doktrinarismus in Prosa und in Versen aus. Wer kennt nicht die interessanten "politischen Gespräche", in denen der talentvolle Verfasser aus dem Schweinsleder eines deutschen Professors einen - er sagt es selbst - einen Mephistopheles herauszuschälen sich abmühte und nur einen Wagner zutage förderte? Über dem Unterstübchen aber, im ersten Stockwerk, öffnet Herr Dumont seine geräumigen politischen Salons, und hier sind es die großen Männer Brüggemann und Schwanbeck (nicht zu verwechseln mit Weißbrodt), die die Honneurs des Hauses machen. Brüggemann für den denkenden Teil, für die Rettung des Prinzips in allen Schiffbrüchen, für die Erhaltung des Rechtsbodens trotz aller Erdbeben, für das elegische Genre, für Schwanengesänge und Requiems. Schwanbeck für den deklamatorischen Teil, für das erhabene Lyrische, für die sittliche Entrüstung, für die Dithyrambe und den Sturm. Trunken von Begeisterung erhebt sich seine Phrase zu den höchsten Höhen <262> des Olymps, und ist ihr Gang nicht immer sicher, so bleibt er doch stets rhythmisch, und in der Tat, auf ihre Rechnung kommen fast alle die unfreiwilligen Hexameter, an denen die "Kölnische Zeitung" so reich ist.

Der erste, der uns heute entgegentritt, ist ebenderselbe schwunghafte Schwanbeck. Er klärt uns, de dato Köln, 7. Februar, über die Nachwehen des Absolutismus und die Nachwehen der Revolution auf.

Der große Schwanbeck gießt den ganzen Becher seines Zorns über das preußische Volk aus, weil es entweder gar nicht gewählt oder schlecht gewählt hat.

"Diese Nationalversammlung soll die letzte Hand an den Aufbau eines konstitutionell-monarchischen Staats legen, und doch - wer zweifelt noch daran, daß die einen in ihr diesen Bau untergraben werden, weil sie nicht mehr monarchisch, die andern, weil sie noch absolutistisch, aber noch nicht konstitutionell geworden sind, beide, weil sie eben nicht konstitutionell-monarchisch sind? Von den entgegengesetzten Polen werden dann die Stürme wehen, eine abgetane Vergangenheit wird mit einer fernen, vielleicht nie erreichbaren Zukunft streiten, und - wer weiß, ob darüber nicht die Gegenwart verloren wird!"

Man bemerke den gewaltigen Kraftstil, der sich aus diesen klassischen Zeilen ins Dasein ringt. Jeder Satz ein knorrig gedrungenes Ganze, jedes Wort gezeichnet mit dem Stempel der sittlichen Entrüstung. Man vergegenwärtige sich möglichst handgreiflich den Kampf zwischen der "abgetanen Vergangenheit" und der "fernen, vielleicht nie erreichbaren Zukunft". Wem ist nicht, als sähe er, wie die "vielleicht nie erreichbare Zukunft" von der "abgetanen Vergangenheit" dennoch erreicht wird, wie beide, Megären gleich, sich in die Haare geraten und wie, während von den entgegengesetzten Polen die Stürme wehen, eben wegen der Unerreichbarkeit der einen und des Abgetanseins der andern, die Gegenwart immer mehr verlorengeht!

Man halte dies nicht gering. Denn wenn uns ein Urteil über so große Männer erlaubt ist, so müssen wir sagen: bei Brüggemann pflegt der Gedanke mit dem Stil, bei Schwanbeck dagegen der Stil mit dem Gedanken durchzugehen.

Und in der Tat, wem sollte in tugendhaftem Unmut der Stil nicht durchgehen, wenn man sieht, wie eine Versammlung, der nicht nur der König von Preußen, sondern selbst die "Kölnische Zeitung" die Mission gegeben, die letzte Hand an den Aufbau eines konstitutionell-monarchischen Staates zu legen, wie eine solche Versammlung aus Leuten gebildet wird, die für den besagten wohlmeinenden Zweck entweder zu weit links oder gar zu weit rechts sitzen? Besonders wenn von den "entgegengesetzten Polen die Stürme wehen" und der "Kölnischen Zeitung" "die Gegenwart verloren wird"!

<263> Schlimm genug für die "Kölnische Zeitung", wenn das Volk Deputierte wählt, die das nicht wollen, was sie nach der "Kölnischen Zeitung" "sollen"; noch schlimmer aber für das Volk, wenn es die Kassandrastimme eines Schwanbeck verspottet und statt eines konstitutionell-monarchischen Mustermenschen aus dem "großen Zentrum der Nation" Leute wählt, die entweder nicht mehr monarchisch oder noch nicht konstitutionell sind. Tu l'as voulu, George Dandin! wird Schwanbeck wehmütig ausrufen, wenn der gewaltige Konflikt zwischen der abgetanen Zukunft und der vielleicht nie erreichbaren Vergangenheit die Gegenwart verschlingen wird!

"Mit andern Worten, die Symptome der Reaktion und die Symptome einer neuen oder vielmehr einer permanenten Revolution sind nicht ausgeblieben."

Nach dieser merkwürdigen Errungenschaft wirft Kassandra-Schwanbeck einen Blick auf Östreich. Dieser Blick auf Östreich ist sehend bei Schwanbeck. Östreich ist sein zweites Vaterland; hier entrüstete er sich früher über die Tyrannei der Wiener Demagogie, hier frißt er jetzt Magyaren, hier steigt dem erhabenen Dithyrambiker endlich auch ein zarteres Gefühl, ein leiser Gewissensbiß über die standrechtlichen Begnadigungen zu Pulver und Blei auf. Daher der zärtliche Blick, den der ahnungsreiche Prophet in jedem seiner Leitartikel nach Östreich hinüberwirft.

"Was hat sich nun geändert?" (in Ostreich nämlich.) "Unbeschränktheit der Bürokratie, der Demokratie, der Militärgewalt haben sich abgelöst, und am Ende ist alles sich gleich geblieben!"

Trauriges Resultat der Revolutionen, wehmütige Folge davon, daß die Völker nie auf die Stimmen verkannter Kassandren hören wollen! "Am Ende ist alles sich gleich geblieben!" Die Metternichsche traditionell-überkommene Regierung ist zwar in manchen Stücken verschieden von der jetzigen kontrerevolutionären Militärherrschaft, und namentlich ist das gemütliche östreichische Volk aus den Zeiten Metternichs ein ganz anderes Volk als das jetzige revolutionäre, zähneknirschende Volk; auch hat in der bisherigen Geschichte die Kontrerevolution immer nur zu einer viel gründlicheren, blutigeren Revolution geführt. Aber was tut das? "Am Ende ist doch alles sich gleich geblieben", und Despotismus bleibt Despotismus.

Die spießbürgerlichen Kannegießer, welche "das große Zentrum der deutschen Nation" ausmachen, um uns eines Schwanbeckschen Ausdrucks zu bedienen, diese Biedermänner, welche bei jedem momentanen Contrecoup <Gegenschlag> ausrufen: Was hat nun das Rebellieren genutzt, wir sind wieder gerade <264> so weit wie vorher; diese tiefen Geschichtskenner, die immer nur zwei Schritt weit vor sich sehen, werden entzückt sein, wenn sie finden, daß der große Schwanbeck mit ihnen genau auf demselben Standpunkt steht.

Nach diesem unvermeidlichen Blick auf Österreich geht Kassandra wieder nach Preußen herüber und bereitet sich zu einem Blick in die Zukunft vor. Die Elemente der Reaktion und die Elemente der Revolution werden gehörig gegeneinander abgewogen. Die Krone und ihre Diener, Wrangel, die Belagerungszustände (nebst frommen Wünschen über deren Aufhebung), die Preußenvereine, werden der Reihe nach einer gründlichen Betrachtung unterworfen. Dann heißt es weiter:

"Indes bei allem dem müssen wir uns doch eingestehen, daß die Zahl unserer Reaktionäre nicht eben schwer in die Waage fällt. Schlimmer ist es, daß das große Zentrum des Volks dermaßen an den Absolutismus gewöhnt worden ist, daß es sich in das Selfgouvernement <die Selbstverwaltung> noch gar nicht zu finden weiß, und das - aus bloßer Faulheit. Ihr, die ihr so massenhaft bei jenen Wahlen fehltet ... ihr seid die wahren Absolutisten! ... Es gibt in der ganzen Welt keine widerlichere Erscheinung als ein Volk, das zu faul für ein freies Staatsleben ist."

"Großes Zentrum des deutschen Volks", du bist deinen Schwanbeck nicht wert!

Dies "Zentrum des Volks", das "zu faul für ein freies Staatsleben ist", ist, wie sich später herausstellt, niemand anders als die Bourgeoisie. Schmerzliches Geständnis; kaum versüßt durch den gleichzeitigen Selbstgenuß der sittlichen Entrüstung über diese schmähliche "Indolenz" des großen Zentrums der Nation!

"Noch weit schlimmer aber steht es um die Nachwehen der Revolution. Unser Volk ist reicher, als wir ahnen konnten, an schwärmerischen und phantastischen Naturen, an geschickten Demagogen" (naives Geständnis!) "und an gedankenlosen Haufen, denen keine Spur politischer Bildung innewohnt. Erst das Jahr 1848 sollte uns zeigen, welche massenhafte Elemente der Anarchie in diesem ruhigen, gerechtigkeitsliebenden, sinnigen Volke versprengt waren, wie eine unklare Sucht nach Revolutionen um sich griff und wie das bequeme Mittel" (allerdings viel "bequemer", als tiefsinnige Leitdithyramben in der "Kölnischen" zu schreiben!) "des Revolutionierens als eine Panazee ... gelten sollte."

Während das "Zentrum" zu faul ist, ist die Peripherie, der "Pöbel", die "gedankenlosen Haufen", zu fleißig. Die "geschickten Demagogen", vereinigt mit den "massenhaften Elementen der Anarchie", müssen allerdings <265> gegenüber der "Faulheit" und "Indolenz" der Bourgeoisie finstre Ahnungen in der Seele eines Schwanbeck erwecken!

"So ist nun einmal der naturgemäße Gang: Der Stoß ruft den Gegenstoß hervor."

Mit dieser weiteren großen Gedankenerrungenschaft, die noch zum Thema einiger schwunghaften Variationen dienen muß, geht Kassandra zum Schluß über und zieht folgendes Fazit:

"Erst da ist der gerade Weg zu dem echten freien Staatsleben, wo das große Zentrum der Nation, das kräftige und intelligente Bürgertum, einig und mächtig genug geworden ist, diese Abwege nach links und rechts zu einer Unmöglichkeit zu machen. Es liegt ein norddeutsches Blatt vor uns, in welchem ... geschrieben steht: '... die Bourgeoisie hat schon jetzt über beide Extreme der Linken und Rechten die Oberhand gewonnen, und dieser Partei allein gehört die Zukunft!' Wir fürchten, daß dies Frohlocken noch voreilig ist; will man einen Beweis dafür, nun, 'die Wahlen in Preußen werden ihn führen'."

Das ist der große sittlich entrüstete Klagegesang der neuesten Kassandra über die Verkehrtheit dieser bösen Weit, die nicht nach dem Sinne der "Kölnischen Zeitung" marschieren will. Das ist das Resultat der Forschungen Schwanbecks in der "abgetanen Vergangenheit", der "fernen, vielleicht nie erreichbaren Zukunft" und der in Frage gestellten "Gegenwart": Der wirkliche, entscheidende Kampf wird geführt nicht zwischen der feudalistisch-bürokratischen Monarchie und der Bourgeoisie, auch nicht zwischen der Bourgeoisie und dem Volk, er wird geführt zwischen der Monarchie und dem Volk, zwischen den Absolutisten und den Republikanern; und die Bourgeoisie, die Konstitutionellen ziehen sich vom Kampfplatz zurück.

Ob die Bourgeoisie sich wirklich vom Kampf zurückgezogen, ob sie dies aus Faulheit getan oder aus Schwäche und was die Wahlen in Preußen beweisen, darüber wollen wir uns hier in keine weiteren Glossen einlassen. Genug, die "Kölnische Zeitung" gibt zu, daß in dem gegenwärtigen Kampf die Bourgeoisie nicht mehr in erster Linie steht, daß es nicht mehr ihre Interessen sind, von denen es sich handelt, daß der Kampf geführt wird um absolute Monarchie oder Republik.

Und nun vergleiche man die "Neue Rheinische Zeitung" seit November vorigen Jahres und sage, ob wir nicht in jeder Nummer und bei jeder Gelegenheit, bei der Wiener Kontrerevolution, bei der Berliner Kontrerevolution, bei der Oktroyierung auseinandergesetzt, ob wir nicht in dem langen Artikel "Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution" und in mehreren Artikeln vor den Urwahlen <Siehe "Montesquieu LVI." und "Die Berliner 'National-Zeitung' an die Urwähler"> ausführlich entwickelt haben, wie die Schwäche und Feigheit der <266> deutschen Bourgeoisie es war, die die Kontrerevolution möglich machte, und wie die Kontrerevolution ihrerseits die Bourgeoisie auf die Seite schob und den direkten Kampf zwischen den Resten der feudalen Gesellschaft und den äußersten Spitzen der modernen Gesellschaft, zwischen Monarchie und Republik unvermeidlich machte! Das, was wir vor drei Monaten als historisch notwendig aus dem Gang der deutschen Revolution entwickelten, davon entwickelt sich der "Kölnischen Zeitung" eine schwache und verschwommene Ahnung als Resultat haruspizischer Divinationsschnüffeleien in den Eingeweiden der Wahlurne vom 5. März. Und diese schwache verschwommene Ahnung gilt für eine solche Entdeckung, daß sie sofort in der ganzen geschwollenen und gequollenen Form eines Leitartikels brühwarm dem wohlwollenden Publikum zum Genuß vorgesetzt wird. Naive Kölnerin!

Geschrieben von Karl Marx.