Franz Mehring

Die polnische Frage

geschrieben 1901 als Teil der Einleitung zum Band 3 der von Mehring herausgegebenen Sammlung "Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich Engels".

Seitenzahlen nach: Franz Mehring – Gesammelte Schriften, Band 7 "Zur deutschen Geschichte II". Berlin/DDR, 1960, S. 35-61.

Lenin griff in seinem 1903 geschriebenen Artikel über Die nationale Frage in unserem Programm auf diesen Artikel zur Stützung seiner Argumentation zurück.

<35>Das Echo, das der Pariser Junikampf in den Spalten der „Neuen Rheinischen Zeitung“ fand, ist uns so verständlich, wie es den Zeitgenossen noch nicht verständlich war. Dagegen sind heute ausführlichere Auseinan­dersetzungen nötig, um die Stellung der Zeitung zur polnischen Frage richtig zu würdigen.

Die polnische Revolution fand im Jahre 1848 ihren eigentlichen Schau­platz in der preußischen Provinz Posen. Russisch-Polen lag seit 1831 unter den eisernen Griffen des Zarismus, und Österreichisch-Polen hatte sich noch nicht von dem Aufstande des Jahres 1846 erholt. Die für dieses Jahr auch in Preußisch-Polen geplante Erhebung war im Keime erstickt worden und hatte nur zu dem großen Polenprozesse geführt, der vom 2. August bis zum 17. November 1847 in Berlin verhandelt wurde und damit endete, daß 134 Angeklagte freigesprochen, 117 aber wegen schweren Landesverrats verurteilt wurden, darunter 8 zum Tode. Man hoffte am Hofe, daß nament­lich Mierosławski, das Haupt der prozessierten Polen, um Gnade bitten würde, doch erfüllte sich diese Hoffnung nicht. Gelassen erwartete Mierosławski seine Hinrichtung; „läßt man uns frei, so fangen wir wieder an, ich wenigstens ganz gewiß“. Er hatte im Moabiter Zellengefängnis seine Schrift: Debat entre la revolution et la contrerevolution en Pologne ge­schrieben, worin er die agrarisch-demokratische Revolution in Polen be­fürwortete und Polen als die Schutzwehr der westeuropäischen Zivilisation gegen die asiatische Despotie verherrlichte; in gleichem Sinne hatte er vor den gerichtlichen Schranken erklärt, Deutschlands Zukunft sei untrennbar von der Wiederherstellung der polnischen Macht, die allein das drohende Ungeheuer des Panslawismus niederwerfen könne.

Es gehörte nun zu den ersten Akten der Berliner Märzrevolution, dem Könige die Begnadigung der verurteilten Polen zu entreißen. Sie wurden am 20. März von der begeisterten Menge in Moabit abgeholt und in einem großen Triumphzuge unter dem Wehen deutscher und polnischer Fahnen bis vor das Schloß geleitet. Im ersten und frischen Sturm der revolutionä­<36>ren Leidenschaft herrschte durchaus die richtige Empfindung vor, daß Polens Sieg Deutschlands Sieg, Polens Fall auch Deutschlands Fall sei; selbst das Frankfurter Vorparlament erklärte bei allem sonstigen Mangel an politischer Einsicht, daß die Wiederherstellung Polens eine heilige Pflicht der deutschen Nation sei. Die Wiederherstellung Polens war im Wesen der Dinge aber nichts anderes als ein Kampf mit Rußland auf Leben und Tod, und so konfus Friedrich Wilhelm IV. sonst sein mochte, so stellte er die Frage doch in aller Klarheit und Schärfe, als ihn am 24. März eine Deputation aus der Provinz Posen mit dem Erzbischofe Przyluski an der Spitze aufsuchte.

Die Deputation erklärte, daß mit der Wiedergeburt Deutschlands auch das Signal für die Wiedergeburt Polens gegeben sei. Sie verlangte eine nationale Reorganisation der Provinz Posen, die sich schnell, aber ruhig und gesetzlich unter dem Schirme der preußischen Krone vollziehen solle. Die Aufgabe dieser Reorganisation sollte von einer provisorischen Kom­mission im Vereine mit einem königlichen Kommissar gelöst werden, und zwar erstens durch die Umgestaltung der militärischen Besatzung in ein einheimisches Truppenkorps und zweitens durch die Besetzung aller Ämter mit Eingeborenen. Der König empfand ganz richtig, daß die Spitze dieser Kundgebung sich nicht gegen Deutschland, sondern gegen Rußland rich­tete, und erklärte sofort, daß russische Heersäulen in der Provinz Posen erscheinen würden, wenn sie „mit oder ohne seinen Willen“ eine freie nationale Entwicklung erhielte, die auf das russische Polen von Einfluß sein und die russische Herrschaft beunruhigen könnte. Schon ständen be­deutende Truppenmassen an der russischen Grenze, jedoch für einen Krieg mit Rußland sei er, der König, nicht zu haben. „Ich würde es gegen meine Pflicht und mein Gewissen halten, diesen Krieg zu führen, und mit meiner Ehre ist er nun vollends unverträglich.“ Der König warnte die polnischen Deputierten dann noch vor „eitlen Hirngespinsten“; sie möchten Zusehen, daß sie statt eines Schwertes nicht ein Schilfrohr in die Hand nähmen, wo­bei er sehr deutlich auf die Dankbarkeit der „bäuerlichen Einsassen“ gegen die Regierung anspielte. Nur die preußischen Beamten seien es gewesen, die im Jahre 1846 die polnischen Grundherren vor ähnlichen Ausbrüchen des Landvolks geschützt hätten, wie sie in Galizien vorgekommen seien. Die polnischen Deputierten behaupteten dagegen, die ruthenischen Bauern in Galizien seien durch den Machiavellismus der österreichischen Regie­rung gegen die polnischen Edelleute aufgereizt worden. Man kam darüber in ein ziemlich hitziges Geplänkel, bis einige Höflichkeitsphrasen, die zwi­schen dem König und dem Erzbischof gewechselt wurden, die Audienz schlossen.

<37>Bei alledem hatte man in Berlin noch lange nicht den Mut, die polnische Deputation mit einem ungnädigen Bescheide zu entlassen. Am 26. März bewilligte der König die Niedersetzung einer Kommission aus beiden Nationalitäten, die gemeinsam mit dem Oberpräsidenten die nationale Reorganisation des Großherzogtums Posen beraten sollte. Mierosławski, der sich der Deputation angeschlossen und ihrer Audienz bei dem Könige sowie ihren Konferenzen mit den Ministern beigewohnt hatte, glaubte die Stimmung in Berlin so auffassen zu dürfen, daß die Regierung das Bemü­hen der Polen, eine unabhängige Macht gegen Rußland zu schaffen, nicht offen unterstützen wollte, aber daß ihr nichts lieber sein würde, als diese Macht von selbst entstehen zu sehen und sie als vollendete Tatsache hin­zunehmen. Es ist wahrscheinlich genug, daß diese Auffassung Mierosławskis zu optimistisch war; sosehr die von ihm vorausgesetzte Politik im deutschen Interesse gelegen hätte, sosehr ist ebendeshalb daran zu zwei­feln, daß Friedrich Wilhelm IV. und sein damaliges Ministerium Arnim sie gebilligt haben könnten. Jedenfalls aber handelten die heimkehrenden Polen in diesem Sinne; sie brachten ihren Landsleuten die Botschaft von den Sympathien der deutschen Nation und begannen mit der nationalen Reorganisation, indem sie bewaffnete Lager als eine Schutzwehr gegen Rußland errichteten.

Nunmehr aber machte die preußische Militär- und Zivilbürokratie der Provinz Posen, die durch deren nationale Reorganisation in ihren Stellen bedroht war, gegen die polnische Bewegung mobil, indem sie die deut­sche und die jüdische Bevölkerung aufhetzte. Sie nahm dabei einzelne Aus­schreitungen zum Vorwande, die gleich im Anfänge der Bewegung, vor der Einsetzung der in Berlin bewilligten Kommission, vorgekommen waren, die Absetzung dieses oder jenes verhaßten Landrates, die Demo­lierung dieses oder jenes preußischen Wappenschildes und ähnliche Dinge mehr, die durch einzelne Exzesse von Deutschen gegen Polen mindestens ausgeglichen worden waren. Zudem erklärte sich die neu eingesetzte Kom­mission, die überwiegend aus Polen bestand, zu jeder Genugtuung und jedem Schadenersatze bereit; selbst wenn die Polen die Bösewichte ge­wesen wären, die sie nach den anmutigen Schilderungen der borussischen Bürokratie sein sollten, so waren sie doch die Narren nicht, eine Deut­schenhetze zu inszenieren in einem Augenblicke, wo alle ihre nationalen Hoffnungen auf dem guten Einvernehmen mit Deutschland beruhten. Allein die deutsche und die jüdische Bevölkerung der Provinz, die im allgemeinen keineswegs aus einer geistigen Elite bestand und auch nicht immer das reinste Gewissen gegenüber der polnischen Bevölke­rung hatte, glaubte an die ihr vorgespiegelten Wahngebilde und stimmte <38> bereitwillig das bekannte reaktionäre Gebrüll „nach Ruhe um jeden Preis“ an.

Dieser Spektakel blieb in Berlin nicht ohne Eindruck und kam selbst heimlichen Wünschen entgegen, die dort gehegt wurden. Sobald Camp­hausen ans Ruder der Regierung gelangt war, wurde der General Willisen als königlicher Kommissar nach Posen gesandt mit dem Auftrage, das polnische Nationalkomitee, nämlich die in Berlin gebilligte und haupt­sächlich aus Polen bestehende Kommission, im Wege gütlicher Verhand­lung zu einem Verfahren zu bestimmen, das dazu geeignet sei, die preußi­sche Oberhoheit, unbeschadet der nationalen Reorganisation, in dem Groß­herzogtum aufrechtzuerhalten. Willisen gehörte zu den sehr spärlich ge­säten Borussen, die in der Germanisierung mit dem Gendarmensäbel eine brutale Albernheit sahen; er hatte neun Jahre als Generalstabschef des fünften Armeekorps in Posen gelebt, kannte die Verhältnisse der Provinz genau und genoß das Vertrauen der polnischen Bevölkerung. Insofern mochte seine Mission noch einen friedlichen und versöhnlichen Charakter haben. Aber gerade weil er wußte, woran er war, verlangte er die Ver­fügung über die militärischen Kräfte der Provinz, die er „pazifizieren“ und „reorganisieren“ sollte. Allein das neue bürgerliche Ministerium erklärte es für unmöglich, „der militärischen Hierarchie eine solche Gewalt anzu­tun“, und Willisen begnügte sich mit der Anweisung an alle Behörden der Provinz, ihm als dem Kommissar des Königs in jeder Weise behilflich zu sein.

Sein Erscheinen in der Provinz beseitigte sofort jeden Zweifel daran, daß die Deutschen und nicht die Polen den Bürgerkrieg anzettelten. Der kommandierende General v. Colomb und nicht minder die anderen mili­tärischen Befehlshaber, die Generale v. Steinäcker, v. Hirschfeld, v. Wedell und wie sie sonst hießen, empfingen ihn in der feindseligsten Weise; eben im Begriff, über die bewaffneten Lager der Polen herzufallen, ließen sie sich von Willisen nur mit Mühe zu einem Aufschub von wenigen Tagen bewegen. Um so bereitwilliger kamen die Polen allen Wünschen des Kom­missars entgegen; in der Konvention von Jaroslawiec, die sie am 11. April mit ihm abschlossen, verstanden sie sich selbst zur Auflösung der bewaff­neten Lager unter bestimmten Modalitäten und gegen das Versprechen, daß dann sofort mit der nationalen Reorganisation begonnen werden würde. Dafür empfing den General, als er am 12. April in die Stadt Posen kam, ein Straßenauflauf des deutschen Mobs, und die höchsten Militär­behörden, sonst stets bereit, den beiläufigsten Krawall mit hauendem Säbel und schießender Flinte zu ersticken, rieten dem Vertrauensmanne des Kö­nigs zu dreien Malen mit hochgezogenen Brauen, nach Berlin zurückzu­ <39> kehren, ja sie sperrten ihm wirklich die Tore, als er in der Nacht zum 20. April vor der Stadt eintraf, so daß Willisen nunmehr allerdings die Rückkehr nach Berlin antrat. Er verzichtete auf eine Mission, die zur Posse zu werden drohte dank der hartnäckigen Böswilligkeit der preußischen Behörden, der Zivilbehörden übrigens nicht minder als der Militär­behörden.

Ein Ausfluß dieser Böswilligkeit war es auch, daß der General v. Colomb an demselben 11. April, wo Willisen die Konvention von Jaroslawiec abschloß, eine Proklamation mit der Erklärung veröffentlichte, daß er „von jetzt ab“ vollen Gebrauch von der Gewalt machen werde, die ihm anvertraut sei. Er ließ mobile Kolonnen durchs Land streifen und nament­lich die nach der Auflösung der bewaffneten Lager heimkehrenden pol­nischen Wehrleute überfallen unter gänzlicher Mißachtung der bei Jaroslawiec getroffenen Übereinkunft. Durch diesen Verrat wütend gemacht, begingen nun auch polnische Haufen einzelne Ausschreitungen, so nament­lich am 15. April gegen die Juden in Wreschen, übrigens auch hier unter heftigstem Widerstande der polnischen Führer. Im allgemeinen aber waren die „Greuel“ dieses „Bürgerkriegs“ durchaus auf seiten der preußischen Truppen, die in vandalischer Weise mißhandelten und mordeten, plünder­ten und raubten und dabei selbst nicht einmal die kümmerlichsten Lor­beeren zu erringen wußten. Denn als sich die überfallenen Polen wieder sammelten und zu energischer Notwehr rüsteten, besiegten sie mehr als einmal die an Waffen und Zahl ungleich stärkeren Gegner; so warf namentlich Mierosławski am 30. April bei Miloslaw einen preußischen Heerhaufen von 6000 bis 7000 Mann in schmähliche Flucht. Auf die Dauer freilich mußten die Sensen den Schrapnells unterliegen; mit Granatkar­tätschen bewies das Borussentum am letzten Ende die Überlegenheit sei­ner Zivilisation.

Immerhin mußte man aus Berlin einen neuen „Pazifikator“ senden in Gestalt des Generals Pfuel, der mehr Hirn besaß als die Colomb und Steinäcker, in seiner Art sogar ein liberaler Mann war, übrigens aber ent­weder nicht die Macht oder nicht den Willen besaß, die vandalische Krieg­führung dieser Helden zu beseitigen. Die Methode, gefangene oder auch nur willkürlich verhaftete Polen mit Höllenstein an Händen und Ohren zu marken, erregte sogar – vor der Öffentlichkeit wenigstens – die „vollkom­mene Entrüstung“ des Ministeriums Camphausen, als es deshalb von einem polnischen Mitgliede der Berliner Versammlung interpelliert wurde. Der Minister v. Auerswald suchte diese edle Germanisierungsmethode nur damit zu beschönigen, daß nach seiner Vermutung die Markung „nicht mit einer ätzenden Materie, sondern mit einem nach nicht sehr langer Zeit <40> vergänglichen Zeichen unschädlicher Farbe“ erfolgt sei, doch war diese Vermutung nur preußischer Wind.

Wie sehr sich sonst das Ministerium Camphausen mit den in der Pro­vinz Posen hausenden Barbaren als ein Herz und eine Seele fühlte, zeigten seine eigenen Maßnahmen in der polnischen Sache. Die preußischen Pro­vinzen Ost- und Westpreußen sowie Posen hatten bis zum Jahre 1848 dem Deutschen Bunde nicht angehört, wohl aber hatte Friedrich Wilhelm IV. in einem seiner Patente vom 17. März erklärt, er werde mit Freuden den Deutschen Bund durch Einverleibung der nicht zum Bunde gehörigen preußischen Provinzen stärken, „wenn deren berufene Vertreter diesen Wunsch teilen“ sollten. Jedoch die „berufenen Vertreter“ der Provinz Posen teilten diesen Wunsch keineswegs ; vielmehr lehnte der Posener Pro­vinziallandtag am 6. April den Antrag, die Provinz in den Deutschen Bund aufzunehmen, mit 26 gegen 17 Stimmen ab. Mit borussischer Logik be­hauptete nun zwar die Minderheit, eigentlich sei der Antrag angenommen worden, da die Beschlüsse der Provinziallandtage zu ihrer Rechtsgültigkeit einer Zweidrittelmehrheit bedurften, allein es lag auf der Hand, daß dann nicht 17, sondern 29 Stimmen für die Genehmigung des Antrags erforder­lich gewesen wären, und so mochte sich das Ministerium Camphausen doch nicht mit diesem halsbrechenden Attentat auf das Einmaleins befassen, zumal da es sich sonst zu helfen wußte.

Am 14. April erschien eine königliche Kabinettsorder, die einen Teil der Provinz Posen, als vorwiegend von Deutschen bewohnt, von der „natio­nalen Reorganisation“ ausschloß; diesen Teil, der ein paar Tage darauf noch durch einige Distrikte vermehrt wurde, nahm der Bundestag dann schon am 22. April auf Antrag der preußischen Regierung in den Deut­schen Bund auf. Das polnische Nationalkomitee in Posen antwortete auf den Gewaltstreich wieder ganz vernünftig und versöhnlich; in den zweifel­haften Grenzdistrikten müsse der Bevölkerung gewiß überlassen bleiben, welcher der beiden Nationalitäten sie sich anschließen wolle, aber diese freie Wahl sei erst nach der Wiederherstellung Polens möglich, und bis dahin sei jede willkürliche Abtrennung einzelner Distrikte, ohne Befra­gung der Bewohner, rein nach bürokratischer Willkür, nur eine neue Tei­lung des Landes. Dessenungeachtet riß Camphausen am 26. April ein wei­teres Stück, namentlich die Stadt und die Festung Posen, von der Provinz ab und ließ es am 2. Mai in den Deutschen Bund aufnehmen. Dann zog Pfuel die „Demarkationslinie“ immer weiter, bis er am 4. Juni die „sie­bente Teilung“ Polens fertigbrachte, die den zu „organisierenden“ Teil auf weniger als ein Drittel der ganzen Provinz, auf einen schmalen Streifen längs der russischen Grenze, beschränkte.

<41> So weit hatte sich die polnische Frage entwickelt, als die „Neue Rheini­sche Zeitung“ zu erscheinen begann. Es gereicht ihr zur dauernden Ehre, daß sie in der entschlossensten Weise für die gemißhandelten Polen ein­trat, daß sie nicht müde wurde, nachzuweisen, wie das bürgerliche Mini­sterium Camphausen, seines bürgerlichen Ursprungs vergessen, in der Pro­vinz Posen dem Zarismus so selbstmörderische wie verächtliche Henkers­dienste geleistet hatte. Eine letzte Gelegenheit, das Versäumte einzuholen, bot sich der deutschen Nationalversammlung, als die Frage an sie heran­trat, ob sie die Mandate der Abgeordneten anerkennen wolle, die in den zum Deutschen Bund geschlagenen Teilen der Provinz Posen gewählt wor­den waren. Der völkerrechtliche Ausschuß der Versammlung, in dessen Namen der preußische Historiker Stenzel berichtete, beantragte, die Be­schlüsse des Bundestages vom 22. April und 2. Mai endgültig, die vom General Pfuel gezogene Demarkationslinie aber vorläufig bis auf weiteren Bericht der preußischen Regierung anzuerkennen. Dagegen wollte die Linke den Tatbestand erst durch die Zentralgewalt untersucht haben, ein ziemlich wohlfeiler Ausweg, da die Zentralgewalt, der Reichsverweser Johann mit seinem imaginären Ministerium, von Anfang an ein Schatten­spiel an der Wand darstellte. Doch wurde sogar dieser schwächliche An­trag am 26. Juli mit großer Mehrheit abgelehnt und der Antrag des völker­rechtlichen Ausschusses genehmigt, so daß die Nationalversammlung 800 000 bis 900 000 Bewohner der Provinz Posen endgültig und noch ein paar Hunderttausend dazu vorläufig in das neue Deutschland aufnahm. Indem sie das letzte Siegel auf den preußischen Verrat an der polnischen Revolution drückte, benahm sie sich in dieser Sache so erbärmlich wie in jeder anderen.

Wie sehr dagegen der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die polnische Sache am Herzen lag, zeigte sie durch die ausführliche Analyse, die sie der drei­tägigen Polendebatte der Nationalversammlung widmete01; eine gleich eingehende Erörterung hat sie keiner anderen parlamentarischen Diskus­sion gespendet. Der erbarmungslose Spott, womit sie die „Netzbrüder“ abfertigte, war vollkommen am Platze, und ebenso berechtigt war ihr ver­nichtendes Urteil über die borussische Germanisierungspolitik in der Pro­vinz Posen.

Es gibt viele häßliche Blätter in der preußischen Geschichte, aber wenig häßlichere, als da Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1796 nach der dritten Teilung Polens in den ihm zugefallenen Landesteilen die kirchlichen und starosteilichen Güter, ein Domänenareal von fast 1500 Geviertmeilen, raubte und wie ihm dann ein beträchtlicher Teil dieses Raubes von den Junkern abgegaunert wurde. Zu diesem Zwecke bildete sich damals ein <42> Gründerkonsortium, dessen Taten selbst die hohenzollernschen Geschichts­fälscher nur mit gesträubten Haaren zu berichten wissen; es bestand aus dem Minister Hoym, der die polnischen Landesteile verwalten sollte, dem General Bischoffwerder, dem berüchtigten Günstling des Königs, einem gewissen Triebenfeld, der als Lakai im Dienste polnischer Großen gestan­den hatte, aber wegen wiederholter Diebereien verjagt worden war, und endlich dem königlichen Kammerdiener Ritz, dem ehelichen Schanddeckel der königlichen Hauptmätresse. Dies Konsortium hat in einer erschliche­nen Kabinettsorder zuerst den schöpferischen Gedanken proklamiert, der seitdem die Berliner Polenpolitik bis auf den heutigen Tag beseelt hat, den Gedanken nämlich, in den „neuen Acquisitions02 auf gute deutsche Landwirte zu halten sowie erbliche und auf adelige Rechte konferierte Güter nicht wieder in die Hände der vormaligen Polen kommen“ zu las­sen. Es ist auch wahrscheinlich genug, daß die Sicherung des alten Raubes ein Hauptgrund für die neuen Teilungen des preußischen Polens im April 1848 gewesen ist, obschon schwerlich der einzige Grund. Den Krieg mit Rußland wollten König und Junker ebenso entschieden unter keinen Um­ständen, wie ihn die „Neue Rheinische Zeitung“ unter allen Umständen wollte; man wußte drüben so gut wie hüben, daß dieser Krieg der end­gültige Sieg der europäischen und in erster Reihe der deutschen Revolu­tion gewesen wäre. Die eigentliche Schmach dieses Verrats an Polen fällt auf das Ministerium Camphausen, das seine Mutter, die bürgerliche Revo­lution, freiwillig preisgab für den Genuß, die Fußtritte der Gegenrevolu­tion einzuheimsen.

Das geteilte Polen nach dem Wiener Kongreß Quelle: Wikipedia/Sansculotte

Nach einer anderen Richtung hin freilich sind die Polenaufsätze der „Neuen Rheinischen Zeitung“ nicht nur heut überholt, sondern sie waren auch schon zur Zeit ihres Erscheinens sehr anfechtbar. Gleich im Anfang des ersten Artikels fällt ein historischer Schnitzer auf, wie er sich bei Marx oder Engels sonst sehr selten findet; wenn es auch im allgemeinen richtig ist, daß die von Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1815 der Provinz Posen gemachten Verheißungen sowenig erfüllt wurden wie das berühmte Ver­fassungsversprechen dieses biedern Landesvaters, so ist doch im besonde­ren der Satz falsch: „Die Verkehrsfreiheit zwischen den drei Bruchstücken Polens, die der Wiener Kongreß03 um so ruhiger beschließen konnte, je unausführbarer sie war, trat natürlich nie ins Leben.“04 Tatsächlich hat sie bis zum polnischen Aufstande von 1830 bestanden; sie ist bedeutsam gewesen für die Entwicklung der Manufaktur und namentlich der Textil­industrie in Russisch-Polen. Gleich darauf heißt es, die Slawen seien ein vorwiegend ackerbautreibendes Volk, wenig geschickt zum Betriebe städti­scher Gewerbe05, ein Satz, der aus der Feder von Marx oder Engels wie- <43> der seltsam genug klingt. Haben sie doch gerade durch den historischen Materialismus am gründlichsten die landläufigen Phrasen zerstört, wonach diesem Volke diese Fähigkeit angeboren oder jenem Volke jene Fähigkeit versagt sei. In der Sache selbst hat inzwischen die industrielle Entwicklung in Böhmen, in Polen, in Rußland zur Genüge gezeigt, daß die Slawen im Betriebe städtischer Gewerbe so geschickt sind wie die Germanen oder Romanen, wenn nur anders die historischen Vorbedingungen des städti­schen Gewerbebetriebes vorhanden sind.

Mit diesen Vorbedingungen nur hat es in der polnischen Geschichte ge­hapert. Solange es einen polnischen Staat gab, haben ihm polnische Städte gefehlt und damit die Zentralisation, das gewaltigste politische Mittel zur raschen Entwicklung eines Landes. Soweit ist die „Neue Rheinische Zei­tung“ auf der richtigen Spur, aber sie irrt, wenn sie die Schuld daran der deutschen Einwanderung in Polen zuschreibt.

Tatsächlich wurde die städtische Entwicklung zur Zeit, wo sie sonst in Europa eintrat, in Polen durch Umstände verhindert, die sich mehr oder weniger auf die Ungunst seiner geographischen Lage zurückführen lassen. Es seien hier nur zwei angedeutet. Die eigentliche Triebkraft der städti­schen Entwicklung bildete im 10., 11. und 12. Jahrhundert der Handel, dem die Verbindungen Deutschlands mit Italien, die Kreuzzüge und der Verkehr mit dem Morgenlande die kräftigsten Anstöße gaben. Die Metro­pole des damaligen Welthandels war Konstantinopel, aber die Hauptwege zu ihr, die von Norden nach Süden über Kiew und von Westen nach Osten durch Ungarn führten, umschlossen Polen wie in der Gabel und berührten es wenig. Ihm blieb nur ein bescheidener Binnenhandel. Als sich dann im 13. Jahrhundert der große westöstliche Handelsweg nach Norden zum bal­tischen Meere verschob, fielen die Früchte der Hansa zu, da Polen keine baltischen Uferstreifen besaß. Erst im 15. Jahrhundert konnte es seine Grenzen bis zur Ostsee vorrücken, aber nun war es zu spät, da der Welt­handel neue Wege einschlug.

Dazu kam aber noch ein anderes. Wo das städtische Leben in Polen selbständig aufkeimte, fuhren die verheerenden Kriegsstürme darüber hin, von denen die ersten Jahrhunderte der polnischen Staatsgeschichte erfüllt sind. Gerade zu dieser Zeit vollzog sich die politische Konstituierung des nordöstlichen Europas auf neuer Basis und in einer Form, die an das 4., 5. und 6. Jahrhundert im Römischen Reich erinnerte. Ein Zusammenstoß zahlreicher kleiner Völkerschaften, eine beständige örtliche Verschiebung, ein beständiger Wechsel der Herrschaft und ein beständiger allgemeiner Krieg – so sah es in dem europäischen Gebiet aus, dessen Mitte gerade Polen einnahm. Es mußte dabei unaufhörlich nach allen Seiten schlagen: <44> gegen Deutsche, Schlesier und Böhmen, gegen Russen, Litauer und Preu­ßen. Diese unaufhörlichen Kriege beanspruchten das ganze soziale Leben des Volkes, namentlich bei der damaligen militärischen Organisation; die aufkommenden Städte wurden geplündert und verbrannt, selbst der da­malige primitive Ackerbau konnte nicht ungestört betrieben werden. Zu­dem wurden die meisten dieser Kriege mit den östlich wohnenden Völker­schaften geführt, die auf einer noch niedrigeren Kulturstufe standen als Polen selbst, was dann noch besonders verrohend auf die polnische Krieg­führung und damit auf die polnische Entwicklung überhaupt zurückwirkte.

Unter solchen Umständen kam es zur deutschen Einwanderung im 12. und 13. Jahrhundert. Sie trat nicht der Entwicklung der polnischen Städte hindernd in den Weg, sondern wurde von den polnischen Fürsten, Klö­stern, Bischöfen und Adligen veranlaßt und gefördert, um das verwüstete Land, das keine eigenen Städte besaß, städtisch zu kolonisieren. Schon vor 1244 wurden Krakau und Sendomir deutschen Einwanderern übergeben unter Gewährung des Magdeburgischen Rechtes06. 1252 wurde die Stadt Neumark mit deutschem Recht von den Zisterziensern erbaut, 1279 die Stadt Mstaw von den Augustinern, 1298 Sieradz von den Benediktinern. Auch die Bischöfe und einzelne Adlige erwarben Privilegien zur Gründung deutscher Städte, 1290 wurde die Stadt Slupca von dem Bischof von Posen mit deutschem Recht beliehen, 1278 die Stadt Gostyn von dem Hofrichter Nikolaus. „Solchergestalt erhielten alle größeren und wahrscheinlich auch viele kleinere Städte des Landes im Verlaufe des 13. Jahrhunderts eine deutsche Bevölkerung und deutsches Recht“, wie Roepell in seiner Geschichte Polens sagt.

Nun besaßen diese Städte allerdings, wie die „Neue Rheinische Zeitung“ sagt, ihre „tausendfach verschiedenen Privilegien und städtischen Rechts- verfassungen“07, aber das war weder ihr besonderes Kennzeichen noch an und für sich ein Hindernis der historischen Entwicklung. Ganz das gleiche galt damals von den deutschen, französischen, italienischen und überhaupt europäischen Städten. Was die Stellung der deutschen Städte in Polen kennzeichnete war etwas anderes. Ihnen fehlten die historischen Wur­zeln der jahrhundertelangen Entwicklung, in der die Städte aus den mittel­alterlichen Fronhöfen über das aristokratisch-patrizische Regiment zur demokratischen Gemeinde des zünftigen Handwerks gelangt waren in einer Reihe von Revolutionen, die auf den ganzen Organismus der feuda­len Gesellschaft umwälzend gewirkt hatten. Die deutschen Städte in Polen wurden unvermittelt mit ihrem entwickelten Gemeinderecht, ihrer Schöf­fenjustiz, ihrer demokratischen Gesetzgebung in ein Land verpflanzt, wo sonst noch feudales Hofrecht herrschte; befreit von der fürstlichen Gerichts­ <45> barkeit einschließlich des Blutbannes, von den meisten Abgaben und Lei­stungen und speziell auch von Kriegsdiensten, entbehrten sie all der sozia­len Zusammenhänge, durch die eben jetzt die europäischen Städte mächtig in die politischen Kämpfe der Zeit einzugreifen begannen. Sie konnten weder eine Stütze der Monarchie werden noch der unfreien Bevölkerung des platten Landes eine schützende Freistatt bieten, noch auch hatten sie mit ihrem Zunftregiment irgendeine Anziehungskraft für den noch so armen Adligen. Gerade dieser Mangel eines Abflußkanals, wie ihn sonst die Städte in Europa boten, verursachte die ungeheure Zunahme des adli­gen Proletariats, die für Polen so verhängnisvoll geworden ist.

Mit einem Worte: Die deutschen Städte in Polen hatten für keine Klasse der polnischen Gesellschaft irgendwelche politische Bedeutung, weder als Bundesgenossen noch als Feinde, da sie als Beliehene, als Reifgeborene kein Interesse und keine Macht besaßen, um irgend wem helfen oder scha­den zu können. Sie machten im vollsten Maße die Erfahrung, daß „ver­liehene Rechte und Freiheiten wertlos sind“, was ihnen im Jahre 1605 ein adliger Schriftsteller spöttisch vorhielt in dem derben Vergleich mit einem Esel, der sich die Zähne schärfte, weil er zu einer Hochzeitstafel geladen zu sein glaubte, aber als er zur Hochzeit kam, in die Küche geschickt wurde, um Holz und Wasser zu schleppen.

Was Polen noch an Handel besaß, ging dann verloren, als in der Mitte des 15. Jahrhunderts Konstantinopel von den Türken erobert wurde. Durch die Verschiebung des Welthandels an die Ufer des Atlantischen Ozeans wurde Polen schwerer als Deutschland und Italien, und zwar in dem Maße schwerer betroffen, worin es ökonomisch rückständiger als diese Länder war. Jedoch die ökonomischen Umwälzungen des Reformations­zeitalters schufen auch einen neuen Handel für Polen; je mehr sich die westeuropäische Geldwirtschaft entwickelte, um so mehr wurde Polen der „europäische Speicher“, die Kornkammer für Spanien, Frankreich, Flan­dern, England, zur selben Zeit, wo sich aus gleichen Ursachen in dem benachbarten Ostelbien der ritterliche Grundherr in den warenproduzie­renden Gutsbesitzer verwandelte. Die furchtbaren Folgen, die sich daraus für die bäuerliche Bevölkerung entwickelten, sind aus der deutschen Ge­schichte zu bekannt, als daß sie hier ausführlich geschildert zu werden brauchten; es mag an der Bemerkung genügen, daß alle Praktiken des Bauernlegens und Bauernschindens in Polen noch scheußlichere Formen annahmen als selbst in Ostelbien.

In ursächlichem Zusammenhange damit steht die für das Schicksal des polnischen Staats entscheidende Tatsache, daß der polnische Adel nicht nur die Getreideproduktion, sondern auch den Getreidehandel für sich zu <46> monopolisieren verstand. Jeder grundbesitzende Edelmann wurde zugleich ein Kaufmann, der sein Getreide selbst aus- und für den baren Erlös fremde Waren einführte. In dem Junker erstand dem städtischen Kauf­mann ein Konkurrent, der um so gefährlicher war, als er die Klinke der Gesetzgebung in der Hand hatte. Während der städtische Kaufmann auf Schritt und Tritt von dem Adel auf jedem Gut mit allerlei Privatzöllen, an der Grenze mit königlichen Aus- und Einfuhrzöllen, in den Städten und Häfen mit Stapelrecht und städtischen Abgaben geplagt wurde, war der adlige Schacher völlig frei. Privatzölle existierten für ihn natürlich nicht. Von den Ausfuhrzöllen befreite er sich durch Gesetze von 1496, 1511, 1581, 1598, von den Einfuhrzöllen durch ein Gesetz von 1504. Freilich sollten diese Gesetze nur für ausgeführte Erzeugnisse eigener Güter und eingeführte Waren zum eigenen Bedarf gelten, aber natürlich hinderte die Kleinigkeit eines falschen Eides keinen Junker, zollfrei aus- und ein­zuführen, was er wollte.

Auch vom Stapelrecht der Städte ließ sich der Adel 1565 gesetzlich eximieren. Das half ihm nun freilich nicht in fremden Städten, wo sein edles Blut nicht als legitimer Grund der Befreiung von Abgaben und Zöllen galt, und auch sonst hatte die Verfrachtung seiner Produkte ins Ausland ihre Unbequemlichkeiten. So wurde gesetzlich verordnet, daß fremde Kaufleute immer frei nach Polen kommen und in bestimmten Niederlags­städten ihre Waren verkaufen und dafür polnische Waren kaufen durften. Kaufleute aller Nationen überschwemmten das Land, deutsche, italie­nische, schottische, armenische, russische und namentlich auch jüdische, als willige Handlanger des Adels bei der Monopolisierung des polnischen Handels in adligen Händen.

Jedoch ließ sich der Adel an dieser mittelbaren Abwürgung der Städte nicht genügen, sondern rückte ihnen auch unmittelbar auf den Leib. 1520, 1524,1527,1538,1543 ergingen einzelne Verbote, eingeschärft selbst durch die Todesstrafe, an die polnischen Kaufleute, Waren zu exportieren; 1565 wurde ein allgemeines Gesetz erlassen, wonach die polnischen Kaufleute weder große noch kleine Waren ins Ausland führen durften, selbst nicht mit königlicher Bewilligung. Mit dem Warenhandel erlosch natürlich auch das Geldgeschäft für die städtischen Kaufleute. Dann „legte“ der Adel für seinen Getreidebau die städtischen Äcker mit derselben Raubgier wie die bäuerlichen Hufen. Endlich zerstörte er das städtische Handwerk, wiederum nicht bloß mittelbar durch die ruinierende Konkurrenz der fremden Kaufleute, mit deren englischen, flandrischen, italienischen Waren die polnischen Handwerksprodukte sich nicht messen konnten, sondern auch unmittelbar durch Auflösung der Zünfte, deren hauptsächliche Funk­ <47> tion der Schutz der städtischen Produktion vor auswärtiger Konkurrenz war In einem der gegen die Zünfte gerichteten Gesetz findet sich die aus­drückliche Begründung, „damit diese Zünfte und Bruderschaften nicht in detrimentum libertatis terrestris08 seien“. Andere Gesetze verordneten, daß königliche Beamte die Preise der Handwerksprodukte bestimmen sollten, bis der Adel im Jahre 1623 damit Deputierte der Senats- und Landbotenkammer, das heißt sich selbst betraute.

Die nächste Wirkung dieser Verfolgungen war, daß die deutschen Hand­werksburschen in hellen Haufen in ihre Heimat zurückkehrten und daß in deutschen Städten verboten wurde, nach Polen auszuwandern. Die Ent­völkerung der Städte hatte allerdings für den Adel ihre unangenehme Seite, und so ergingen zwischenein auch gesetzliche Bestätigungen der Zunftorganisation und des Zunftzwanges, doch waren die verbietenden Gesetze auf die Dauer zahlreicher und in jedem Falle wirksamer als die schützenden. Das letzte tat dann die Auslieferung der Städte an die Sta­rosten, die eigentlich nur die militärische Verteidigung leiten sollten, aber sich bald der Kriminaljustiz, der Polizeigewalt und überhaupt der ganzen städtischen Verwaltung bemächtigten, um den Städten Blut und Mark auszupumpen und sie in den Zustand herabzudrücken, den der Primas bei Eröffnung des Reichstags im Jahre 1764 mit den Worten schilderte: „Die Zierde des Königreichs, Städte ohne Bürger, und die, welche da sind, ohne Handel, Handel ohne Nutzen, weil in jüdischen Händen, mit einem Worte, in den Städten muß man die Städte suchen: die Straßen sind nichts als Felder und die Marktplätze nichts als Wüsteneien.“

Es war das Verhängnis Polens, nicht einmal zu der „Kleinbürgerei der mittelalterlichen Reichsstädte“ zu gelangen, von der die „Neue Rheinische Zeitung“ als der „höchsten Blüte“09 Deutschlands spricht. Aber die Einwanderung der deutschen Kleinbürgerei in Polen hat das Verhängnis Polens nicht verschuldet. Sie ist auch keineswegs „fast ununterbrochen“ vor sich gegangen, sondern nur vom 12. bis ins 15. Jahrhundert; dann ist sie einer durchaus rückläufigen Bewegung gewichen, eben weil die deutsche Kleinbürgerei für den polnischen Adel noch eine viel zu hohe Kulturstufe war. Beiläufig muß man auch sehr einschränken und selbst umkehren, was die „Neue Rheinische Zeitung“ von der großen Masse Deutscher sagt, die, durch Sektenverfolgungen vertrieben, von den Polen mit offenen Armen aufgenommen worden seien; zur Vertreibung der deutschen Handwerker aus Polen, die meist Protestanten waren, trug nicht zum wenigsten das Gesetz bei, das Nichtkatholiken die Zugehörigkeit zu den Zünften verbot. Überhaupt wuchs der religiöse Fanatismus des polnischen Adels in glei­chem Schritt mit seiner moralischen Verlumptheit, wie unter anderm das <48> Thorner Blutbad noch im Jahre 172410 zeigte, und es war in der Tat nur Kannegießerei in erhabener Arbeit, wenn Robert Blum in der Frankfurter Polendebatte den polnischen Schlachtschitzen als einen modernen Nathan den Weisen feierte, weil er die in aller Welt verfolgten Juden geduldet habe.

Sieht man davon ab, daß die deutschen Einwanderer selbst ohne histo­rische Schuld daran sind, daß sie weder große Kapitalien gesammelt noch sich die große Industrie anzueignen gewußt, noch sich ausgedehnter Han­delsverbindungen bemächtigt haben, so rührt die „Neue Rheinische Zei­tung“ mit diesen Sätzen allerdings an die Wunde, an der Polen verblutet ist. Was die Historiker als Ursachen für den Untergang des polnischen Staates angeben, die Schwäche der monarchischen Gewalt, das geile Über­wuchern des Junkertums, den Verfall der Städte, die entsetzliche geistige und körperliche Verkommenheit des ländlichen Proletariats, das neun Zehntel der gesamten Bevölkerung umfaßte, ergab sich durchweg aus der Tatsache, daß dem Adel die Monopolisierung des nationalen Handels in seinen Händen gelungen war. Polens Schicksal ist ein klassisches Beispiel dafür, wie eine bestimmte Austauschweise die gesamten Geschicke eines großen Staates bestimmen kann. Auf den ersten Schein handelt es sich nur um einen Personenwechsel, aber wieviel mehr dabei auf dem Spiele stand, zeigt ein Blick auf die historische Rolle des mittelalterlichen Handels, der durch Ansammlung des Kaufmanns- und Wucherkapitals die Manufaktur schuf, den Ausgangspunkt der modernen industriellen Entwicklung, zu der das zünftige Handwerk aus sich selbst heraus nicht zu gelangen vermag.

Diese Entwicklung der nationalen Produktion, die unumgängliche Vor­bedingung der historischen Fortschritte im westlichen Europa, wurde in Polen dadurch abgeschnitten, daß der Adel den ganzen Handel an sich raffte und die Handelskapitalien in einem luxuriösen Leben verzehrte, statt sie in gewerblicher Produktion anzulegen. Die Verödung der pol­nischen Städte beseitigte vollständig den Haupthebel der gewaltigen poli­tischen und sozialen Umwälzungen, durch die sich im westlichen Europa der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzog, den Klassenkampf des dritten Standes mit dem Feudaladel. Erst aus diesem Kampf entwickelte sich die moderne Monarchie und der moderne Staat, die Zentralisation der Verwaltung, das stehende Heer, ein ergiebiges Finanzsystem. All das be­saß Polen nicht, weil es keinen dritten Stand besaß. Der vorwärtstreibende Klassenkampf fehlte, weil der Adel die wichtigsten städtischen Funktio­nen mit dem feudalen Grundbesitz vereinigt hatte, aber der verfaulende und zersetzende Klassengegensatz blieb, der Gegensatz zwischen dem aus­beutenden Adel und der ausgebeuteten Volksmasse, die, in den Städten <49> ihrer historischen Führer beraubt, unaufgeklärt und unorganisiert, höch­stens einmal in zwecklosen Revolten explodierte, aber jedes politischen und sozialen Bewußtseins entbehrte. Was es an scheinbarem Klassenkampf in Polen gab, war allein ein Cliquenkrakeel zwischen dem großen und dem kleinen Adel. In ihm stießen nicht zwei verschiedene Produktionsweisen aufeinander, sondern bloße Konkurrenzreibereien um die Früchte des­selben Ausbeutungsgeschäfts. Deshalb sind die politischen Kämpfe, deren Tummelplatz Polen im 17. und 18. Jahrhundert war, so gänzlich unfrucht­bar; ohne Klassenkampf gab es keine historische Entwicklung, und der Krakeel zwischen dem großen und dem kleinen Adel führte nur den Untergang herbei, da ihm die historische Möglichkeit fehlte, zum wirk­lichen Klassenkampf zu werden.

Den Verfall des polnischen Staates in all seinen grauenhaften Einzel­heiten zu schildern ist hier nicht möglich und auch nicht nötig. Genug, wenn das gänzliche Fehlen eines dritten Standes verschuldete, daß keine moderne Monarchie, kein modernes Heer, keine modernen Finanzen ent­standen, so war es nach den Begriffen der damaligen Staatsräson, die sich übrigens auch aus der damaligen ökonomischen Struktur der europäischen Gesellschaft erklärte, ganz selbstverständlich, daß ein Land ohne Regie­rung, ohne Geld und ohne Truppen von den mächtigen Nachbarstaaten verschlungen wurde. Ehe es im Jahre 1772 zur ersten Teilung Polens kam, die den Teilungsmächten Rußland, Österreich und Preußen nicht einmal einen Tropfen Blut kostete, waren mindestens schon sechs Teilungsprojekte auf dem Tapet gewesen, bei deren zweien sich die polnischen Könige selbst im Komplott befanden.


Titelseite der gedruckten polnischen Verfassung von 1791. Quelle: Wikipedia

Hier ist nur noch ein Wort notwendig über die sogenannte „Periode der Reformen“, die nach der ersten Teilung eintrat und nach Ansicht der pol­nischen Historiker den Staat gerettet haben würde, wenn die Teilungs­mächte seine Wiederherstellung auf zeitgemäßer Grundlage nicht mit Ge­walt und List verhindert hätten. Diese Auffassung wird von der „Neuen Rheinischen Zeitung“ im wesentlichen geteilt; sie datiert von der ersten Teilung an ein Bündnis zwischen dem Adel, der städtischen Bürgerschaft und teilweise auch den Bauern; sie sagt, daß sich dieses Bündnis ebenso gegen die große Aristokratie des Landes selbst, wie gegen die fremden Unterdrücker gerichtet habe; die Polen hätten begriffen, daß ihre Unab­hängigkeit nach außen unzertrennlich gewesen sei von dem Sturze der großen Aristokratie und von der agrarischen Reform im Innern, wie schon die Konstitution von 1791 11 beweise; es sei das Verdienst der Polen, unter all ihren ackerbautreibenden Nachbarvölkern zuerst die Notwendig­keit der agrarischen Revolution erkannt zu haben. Diese Sätze enthalten <50> die schlimmsten der historischen Irrtümer, die sich in den Polenartikeln der „Neuen Rheinischen Zeitung“ finden.

Nichts kann gewisser sein, als daß die Teilungsmächte jede Reform des polnischen Staates zu verhindern gesucht haben, wobei sich die Berliner Politik durch ganz besondere Perfidie auszeichnete. Aber nichts kann auch hinfälliger sein, als anzunehmen, daß die polnische „Periode der Refor­men“ gerade hieran gescheitert sei. Sie scheiterte vielmehr an ihrem eige­nen Widerspruch, an der Unmöglichkeit der Aufgabe, daß der Adel gleich­sam in seinem Innern selbst den Klassenkampf des dritten Standes gegen den Feudalismus durchkämpfen, daß er gegen sich selbst das vollbringen sollte, was in den westeuropäischen Ländern der dritte Stand im Kampfe gegen ihn vollbracht hatte. Er sollte Manufakturen und Handelskompa­nien gründen, die Städte wieder beleben, die königliche Gewalt stärken und zentralisieren, das Heer reorganisieren, er sollte sich selbst besteuern, um blühende Finanzen zu schaffen.

Das alles sollte der Adel tun, und er allein. Die „Allianz“, die gemäß der „Neuen Rheinischen Zeitung“ zwischen ihm und der städtischen Bür­gerschaft nach der ersten Teilung geschlossen worden ist, hat nie bestan­den, schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil es eine städtische Bürger­schaft im historischen Sinne des Worts gar nicht gab; die Bewohnerschaft der Städte bestand aus adligen Klienten oder Juden oder ausländischen Kaufleuten. Ebensowenig bestand ein Bündnis zwischen dem Adel und einem Teile der Bauern, die allesamt gänzlich abgestumpft waren für ein Vaterland, das ihnen, um nur eins unter unzähligem zu erwähnen, durch die adligen Vögte bei Todesstrafe verbot, aus dem Dorfbrunnen zu trin­ken, nur damit der Junker als Schnapsproduzent und Schnapshändler zu seinem gehörigen Profit käme. Wenn also der Adel allein „reformieren“ konnte, so wollte er es allerdings auch. Die erste Teilung, die so spielend leicht vor sich gegangen war, hatte namentlich dem kleinen Adel einen gehörigen Schreck in die Glieder gejagt; das Schicksal seiner Klassen­genossen in den geraubten Landesteilen zeigte ihm, daß die Erhaltung sei­ner Herrschaft schon einige Opfer lohne.

Indessen gerade die ernsteren Anläufe dieser Art gestalteten sich zu einem historischen Fastnachtsspiel. Sie zeigten in höchst charakteristischer Weise die Vorzüge der „friedlichen Reform“, die den Staat von Grund aus zu reformieren und namentlich die arbeitenden Klassen zu erlösen wußte, ohne daß ein Tropfen Blut floß, vor der „gewaltsamen Revolution“ in Frankreich, ein Unterschied, der damals schon von den Sykophanten der herrschenden Klassen im tiefsten Brusttone sittlicher Überzeugung ge­priesen wurde. Der Adel gründete einige Luxusfabriken, um eine Manu­ <51> faktur zu schaffen. Er half den Städten empor, indem er die Zünfte wie­derherstellte, begüterten Bürgern die Erhebung in den Adelstand erleich­terte und gerade 22 Vertreter der Städte in den Reichstag zuließ, wo sie jedoch nur mitzustimmen hatten, wenn Interessen der Städte berührt wur­den. Er wollte ein Heer von hunderttausend Mann schaffen und bewilligte für diesen Zweck das „Opfer des zehnten Groschens“, eine direkte Ein­kommensteuer, die den Reinertrag der Adelsgüter mit zehn Prozent tref­fen und vierzig Millionen Gulden einbringen sollte, tatsächlich aber nur sechs Millionen einbrachte. Er wollte das Königtum stärken und schaffte die Wahlmonarchie ab, indem er im Auslande nach einem Potentätlein oder Prinzlein suchte, das die polnische Krone anzunehmen und im Man­nesstamme zu vererben bereit sei12. Er wollte die adlige Anarchie beseitigen und kassierte das Liberum veto des Adels13 sowie sein Recht zu Konföde­rationen14, den bewaffneten Aufständen, die dem Adel gegen jede ihm miß­liebige Einrichtung erlaubt waren15, aber er rührte nicht an die Wurzel der adligen Anarchie, an die Leibeigenschaft.

Eine leichte Besserung der Fronverfassung suchte Andreas Zamoyski im Jahre 1778, also sechs Jahre nach der ersten Teilung, in einem refor­mierenden Gesetzbuche durchzusetzen, mit dessen Abfassung er ausdrück­lich vom Reichstage beauftragt worden war. Er schlug vor, erstens, daß zwar zwei Söhne eines Leibeigenen unter allen Umständen an die Scholle gebunden bleiben sollten, aber daß seine übrigen Söhne frei abziehen könn­ten, und zweitens, daß ein Leibeigener gerichtliche Klage gegen seinen Herrn erheben dürfe, wenn er von diesem grausam mißhandelt werde oder wenn der Herr einen mit dem Leibeigenen geschlossenen Vertrag nicht halte. Über diese bescheidenen Anläufe zu einer „agrarischen Reform im Innern“ geriet der Reichstag in einen Zustand völliger Raserei. Er zerriß das Gesetzbuch Zamoyskis und brandmarkte es als einen „des Scheiter­haufens würdigen Verrat“; dann beschloß er, daß der Reichstag in aller Ewigkeit nicht wieder mit solchen Vorschlägen belästigt werden dürfe.

In der Tat enthielt denn auch die berühmte Verfassung vom 3. Mai 1791 gar nichts über eine Aufhebung der Leibeigenschaft. Zugunsten der Bauern bestimmte sie nur, daß ein Vertrag, den der Gutsherr mit seinem Bauern schließe, vor Gericht gültig und daß jeder Mensch, der in die Länder der Republik komme oder zurückkehre, frei sein solle, sobald er polnischen Boden betrete. Schloß der Gutsherr mit dem Bauern keinen Vertrag, so blieb alles beim alten, und eine Aussicht auf persönliche Freiheit winkte dem Bauern nur, wenn er wieder auf polnischen Boden trat, nachdem er erst der Scylla der polnischen und dann der Charybdis der russischen oder österreichischen oder preußischen Junkerpeitsche entronnen war. Übrigens <52> wurde diese glorreiche Konstitution auch nur durch eine Überrumpelung des Reichstags ins Leben gerufen, dessen Bänke gerade wegen der Oster­feiertage spärlich besetzt waren. Die Masse der Junker war durchaus nicht von ihr erbaut, und als die von Rußland erkauften großen Magnaten die gegen sie gerichtete Konföderation von Targowice16 anzettelten, fiel sie wie ein Kartenhaus um, und ihre tatsächliche Wirkung war nur die zweite Teilung Polens. Selbst als der letzte Verzweiflungskampf, der Aufstand Kościuszkos im Jahre 1794, ausbrach, entfachte die „revolutionäre“ Regie­rung den Volkskrieg nicht, indem sie die Leibeigenschaft aufhob. Sie be­schränkte sich, den Bauern und seine Familie vom Frondienst zu befreien, solange er für die Herrschaft des Adels unter den Waffen stände; nach dem Siege sollte er wieder unter das Joch der Leibeigenschaft zurückkeh­ren. Es ist begreiflich, daß dieser Siegespreis nicht anfeuernd auf die Mas­sen wirkte.

Der klägliche Verlauf, den die „Periode der Reformen“ zwischen der ersten Teilung Polens und seinem endgültigen Untergange nahm, darf kei­neswegs der adligen Reformpartei aufs persönliche Schuldkonto geschrie­ben werden. Sie war rührig genug, dabei vortrefflich organisiert und untadelhaft in ihrer Begeisterung für die bürgerliche Aufklärung, wovon heute noch eine reiche Literatur zeugt. Sie scheiterte allein an der haus­backenen Tatsache, daß, wie kein Mensch, so auch keine Klasse über ihren Schatten springen kann. Sie bewies mit den schlagendsten Gründen, daß die Leibeigenschaft der Urquell alles Übels sei, daß sie den ökonomischen Verfall des Landes um so unaufhaltsamer herbeiführe, je schärfer die Konkurrenz auf dem Weltmarkte werde und je notwendiger daher eine intensive Wirtschaft sei, die nun einmal mit Leibeigenen nicht geführt werden könne. Sie predigte auch keineswegs nur tauben Ohren; die großen Magnaten, die mit dem Auslande unter einer Decke spielten, begannen intensiver zu wirtschaften, da sie die Mittel dazu hatten; sie gaben ihre Bauern insofern frei, als sie ihnen größere Landparzellen zur Nutzung gegen bestimmte Zinszahlungen abtraten und sonst auf ihren Gütern mit den reservierten Arbeitskräften eine rationellere Bewirtschaftung began­nen. Jedoch für den kleinen Adel, den rücksichtslosen Ausbeuter einiger weniger Bauern, war diese Reform unmöglich, eine Milderung der Leib­eigenschaft war sein Ruin. Nun ging die Reformpartei gerade aus dem kleinen Adel hervor, und so zeigte sich logischerweise in der wichtigsten Reformfrage auch am schlagendsten, daß die ganze „Periode der Refor­men“ eine auf den Kopf gestellte Welt war.

Wie der polnische Verzweiflungskampf von 179417, so ging auch 1830 der Aufstand in Russisch-Polen daran zugrunde, daß er von einer Agrar­ <53> revolution nichts wissen wollte. Die „Neue Rheinische Zeitung“ gibt selbst an daß Lelewel sie zwar als einziges Mittel der Rettung ausgesprochen, aber der Reichstag sie zu spät angenommen habe. Wenn dann die pol­nischen Bewegungen von 1846 und 1848 sie „offen proklamierten“, so waren solche offenen Proklamationen seit mehr als fünfzig Jahren, seit „der Periode der Reformen“, herkömmlich, ohne daß deshalb ein Stein von der Stelle gerückt worden wäre. 1848 wurde die polnische Bewegung über­haupt im Keim erstickt, ehe sie sich mit Taten über ihre Stellung zur agra­rischen Reform ausreifen konnte, während sie 1846 in Galizien zeigte, welche besondere Bewandtnis es mit der polnischen Bauerndemokratie hatte, in der die „Neue Rheinische Zeitung“ das robuste Kind der ver­kommenen Adelsdemokratie sah.

Wenn irgendwo, so hatte der Adel in Österreich-Polen einige bauern­freundliche Anläufe gebracht. Während er in der preußischen Provinz Posen sich gegen die sehr bescheidene Bauernemanzipation der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung18 mit einer Adresse an die Krone sträubte, worin er dieser Unterdrückerin seines geliebten Vaterlandes beweglich vorstellte, wie „die Schreckenskunde von dieser Güterkonfiskation in den zügellosen Ausschweifungen des finstern rohen Landvolks die Keime eines praktischen Jakobinismus entwickeln“ werde, hatte der polnische Adel auf den galizischen Landtagen wirklich die Aufhebung oder Ablösung bäuer­licher Lasten beantragt. Die Anträge waren von der österreichischen Re­gierung abgewiesen worden, gemäß der Politik des Systems Metternich, das sich auf der Oberfläche hielt, indem es die einzelnen Nationen, und innerhalb der einzelnen Nationen die einzelnen Klassen, gegeneinander ausspielte. Deshalb ist es aber nicht weniger töricht, auf die Rechnung Metternichs zu setzen, daß, als der polnische Adel im Jahre 1846 seine Hintersassen zum Kampfe für die nationale Unabhängigkeit aufrief, die Bauern sich mit unbezähmbarer Wut auf die Edelleute selbst stürzten, ihre Höfe verbrannten und ihr Blut in Strömen vergossen. Metternich war viel zu sehr Angstseele, um sich vor solchen lodernden Flammenzeichen nicht selbst zu entsetzen. Dieses oder jenes untergeordnete Werkzeug des habs-burgischen Despotismus mag mit in das Feuer geblasen haben, aber die Behauptung der polnischen Junker, daß die Bauern nur durch diese Ver­hetzung gegen sie aufgereizt worden seien, ist von demselben Kaliber wie die Behauptung, daß der Berliner Barrikadenkampf am 18. März durch eine Handvoll Franzosen, Juden und Polen angestiftet oder die deutsche Sozialdemokratie von der preußischen Polizei erfunden worden sei, um den sonst unaufhaltsamen Siegeslauf der Fortschrittspartei zu hemmen.

<54> Die Illusionen der „Neuen Rheinischen Zeitung“ über die polnische Ge­schichte erklären sich zu einem Teil aus ihrer revolutionären Leidenschaft. Sie hatte vollkommen recht, wenn sie meinte, daß eine polnische Revolu­tion, die den zarischen Despotismus lahmgelegt hätte, allein die europäische und namentlich die deutsche Revolution retten konnte, und es lag nicht minder auf der Hand, daß die polnische Revolution, wenn sie siegreich sein sollte, nur eine agrarische Revolution sein konnte, sei es nun mit dem polnischen Adel oder über den polnischen Adel hinweg. Wenn sich nun in der Frankfurter Versammlung die engherzigste Philisterei gegen diese klare Notwendigkeit auflehnte, wenn diese biederen Volksvertreter mit den verlogensten Schlagworten die nationalen Empfindungen gegen Polen aufreizten, so war es natürlich, daß die „Neue Rheinische Zeitung“ die Gerte, um sie geradezubiegen, ein wenig nach der entgegengesetzten Seite verbog und die polnische Geschichte in allzu rosigem Lichte sah. Diesen Fehler hat Marx selbst einige Jahre später verbessert, indem er sich in der „New-York Daily Tribune“ namentlich über die deutsche Einwanderung in Posen gerechter ausließ als in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ und auch hinzufügte, die Frage habe verwickelt genug gelegen, ob ganze, haupt­sächlich von Deutschen bewohnte Landstriche und große, ganz deutsche Städte einem Volk hätten ausgeliefert werden sollen, das sich noch nicht fähig gezeigt hatte, über einen auf der Unfreiheit der Landbevölkerung beruhenden Feudalismus hinauszugehen.19

Zum anderen Teil aber ist nicht zu übersehen, daß Marx und Engels zur Zeit der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die polnische Geschichte aus Autoren kannten, die, wie Lelewel und Mierosławski, in den Überliefe­rungen der Reformer von 1791 lebten und in den gleichen Einbildungen befangen waren wie diese. Zudem aber stellte der polnische Adel eine stattliche Schar ehrlicher und tapferer Streiter zu den revolutionären Kämp­fen des 19. Jahrhunderts, ähnlich wie einst der niedere Adel Deutschlands in seinem historischen Untergange einen Ulrich Hutten und einen Florian Geyer hervorgebracht hatte. Ein anderer Vergleich aus der deutschen Ge­schichte liegt zeitlich noch viel näher. Mochte der polnische Adel in dem Kampfe fürs Vaterland auch nur um seine Privilegien kämpfen, so hob der Kampf selbst seine einsichtigsten und mannhaftesten Mitglieder über die Klassenselbstsucht hinaus, so wie der Kampf um das bei Jena ver­lorene Junkerparadies aus der altfritzischen Armee Männer hervorgehen ließ, wie Gneisenau, Boyen, <55> Grolman, Clausewitz, Männer von genialem Blick und vorurteilsloser Weltanschauung, die, solange der preußische Junkerstaat unter Napoleons eiserner Faust lag, den Unterdrücker be­kämpften, wo sie ihn treffen konnten, unter den spanischen Guerillas, wie Grolman, oder, wie Gneisenau, in englischem Dienst oder, wie Boyen und Clausewitz, in einer russischen Fremdenlegion.

Eben an diesen Männern sieht man denn auch gleich die Kehrseite der Medaille. Von ihrer intellektuellen und moralischen Höhe auf die poli­tische Intelligenz und Moral ihrer Klasse zu schließen wäre ein grober Irrtum gewesen. Sie haben die ruchloseste Ausbeutung der von ihnen er­fochtenen Siege durch das preußische Junkertum nicht hindern können und sind schließlich selbst in diesem Milieu wieder umgekommen. Resignier­ten Boyen als Kriegsminister und Grolman als Chef des Generalstabes noch im Jahre 1819, als die junkerliche Reaktion in den Karlsbader Be­schlüssen20 den endgültigen Sieg errungen hatte, so hat Grolman später als kommandierender General in Posen gerade den Polen gegenüber eine so reaktionäre Politik betrieben, daß Bismarck sich später für seine sinn­losen Gewaltstreiche auf ihn berufen konnte, und Boyen hat, von Fried­rich Wilhelm IV. wiederum ins Kriegsministerium berufen, noch vor dem Vereinigten Landtage die romantische Torheit dieses Königs mit, wie die „Neue Rheinische Zeitung“ einmal sagt, „stotterndem Deutsch“ ver­teidigt.

In ganz analoger Weise läßt der polnische Adel, der auf den Barrikaden der westeuropäischen Revolution focht, in der richtigen Erkenntnis, daß nur durch diese Revolution sein Vaterland aus der klammernden Unter­drückung der Ostmächte gerettet werden könne, keinen Schluß zu auf die revolutionäre Kraft und den revolutionären Willen seiner Klasse über­haupt. Mit all seiner Hingebung an die westeuropäische Revolution war nicht entfernt gesagt, daß sein Sieg die agrarische Revolution in Polen bedeutet haben würde. Aber diese polnischen Revolutionäre bildeten ein so glänzendes Gegenstück zu der trivial-widerlichen Alltäglichkeit des deutschen Philistertums, daß es sich leicht erklärt, wenn die „Neue Rhei­nische Zeitung“ unter dem faszinierenden Eindruck ihrer Personen ihre Sache wohlwollender beurteilt hat, als sie tatsächlich verdiente. Marx und Engels sind dabei einem psychologischen Prozeß unterlegen, dem später auch Lassalle unterlag, als ihn der revolutionäre Glanz, der Ulrich Hut­tens Gestalt unverlierbar umfließt, mehr oder weniger blind machte für Huttens reaktionäre Stellung in den Kämpfen des Revolutionszeitalters.

Erörtern die drei ersten Polenartikel der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die historisch-prinzipiellen Gesichtspunkte der polnischen Frage, so führen die fünf letzten die Polendebatten der Frankfurter Versammlung selbst vor. Hinter dem Berichterstatter Stenzel, einem echten Typus jenes lang­weilig-ledernen Professorentums, das den Debatten der Paulskirche die letzte Spur von Energie und Leben aussog, der tobende Chor der „Netz­ <56> brüder“, mit krämerhafter Pfiffigkeit eine große europäische Frage aus­schlachtend, turmhoch aber über sie emporragend der Pole Janiszewski, der mit erschütternder Beredsamkeit die Sache eines geknebelten Volkes führte, und dann in scharf umrissenen Porträts typische Figuren von der Rechten wie von der Linken, Radowitz und Lichnowsky, Robert Blum, Wilhelm Jordan und Arnold Ruge.

Es war kein Zufall, daß die „Neue Rheinische Zeitung“ der Linken den größten und nicht am wenigsten scharfen Teil ihrer Kritik widmete. Von ihren Rednern sprach Robert Blum verhältnismäßig noch am besten, aber wenn man heute seine Rede in den stenographischen Berichten nachliest, so staunt man doch über die wahllose Aneinanderreihung von Phrasen, die nirgends irgendeine ernsthafte Auffassung des polnischen Problems ver­raten und nur mit biedermännischer Gemütlichkeit den Gedanken vari­ieren: Fehler mögen die Polen wohl haben, aber die haben wir schließlich alle, und die Fehler der Polen sind ihnen überdies durch ihre ungerechte Unterdrückung anerzogen worden. Arnold Ruge versuchte der Polenfrage nun zwar eine hochpolitische Seite abzugewinnen, aber es gelang ihm nur durch den unglaublich unsinnigen Antrag, das Schicksal Polens durch einen von Deutschland, England und Frankreich beschickten Kongreß ent­scheiden zu lassen. Wie Ruge in seinem Wahlprogramm erklärt hatte, daß er in Frankfurt die Vernunft der Ereignisse redigieren werde, so sagte er jetzt, sein Antrag sei das einzig Richtige und Vernünftige; sollte er gleich­wohl nicht angenommen werden, so sei das nur möglich, weil den Men­schen leider die Möglichkeit gegeben sei, von dem Richtigen abzuweichen. Die Bitterkeit, womit die „Neue Rheinische Zeitung“ diese und ähnliche Tiraden Ruges zerfetzte, war berechtigt genug, wenn sie auch nicht ganz frei von dem Nachgeschmack alter Kämpfe war; es hätte immerhin bei­läufig Erwähnung verdient, daß Ruge in dieser Rede den Mut hatte, die Siege, die Radetzky eben über die italienische Revolution erfocht, als Siege der Tyrannei, als Siege eines neuen Tilly zu brandmarken unter dem wilden Wutschrei der Mehrheit und einem halben Ordnungsruf des edlen Gagern. Am meisten wurde dann die Linke durch Wilhelm Jordan blamiert, der in offener Schlacht zu den Gegnern überlief und den „Netz­brüdern“ sekundierte. Aber die Linke war schon darüber hinaus, solche Felonie übelzunehmen; sie lehnte Blums Antrag auf Ausschließung des Renegaten ab.

Wenn nun aber auch die mancherlei historischen Irrtümer der Polen­artikel keineswegs die revolutionäre Bedeutung abschwächen, die sie für ihre Zeit gehabt haben, so ist schließlich noch zu sagen, daß heute die pol­nische Frage für die moderne Arbeiterklasse nicht die gleiche Bedeutung <57> hat wie im Jahre 1848. Man darf sich darüber nicht täuschen lassen durch die Beobachtung, daß die Berliner Polenpolitik in der Provinz Posen heute noch den unterdrückten Polen die achtungsvolle Sympathie jedes Deut­schen sichert, dem sich der Begriff deutscher Zivilisation noch nicht im roten Adlerorden vierter Güte oder im Rang eines Rates fünfter Klasse erschöpft. Es ist eine vollkommen verdiente Strafe dieser Politik, daß sie gleichermaßen mit ihrer Peitsche wie mit ihrem Zuckerbrot die polnische Propaganda fördert; erfunden von dem Konsortium Hoym-Bischoffwerder-Triebenfeld-Ritz, erneuert von dem Säkularmenschen Bismarck und ererbt von dem so überaus genialen Grafen Bülow, ist sie die Fleisch ge­wordene Beschränktheit preußischer Regierungskunst. Aber wie die „Neue Rheinische Zeitung“ schon gesagt hat, die Posener Frage an sich ist ohne jede Möglichkeit der Lösung; nicht in Preußisch-, sondern in Russisch-Polen, dem weitaus größten Stück der polnischen Beute, liegt die Entscheidung, und wie in anderen Fragen, so hat sich der russische Despotismus auch in dieser viel raffinierter erwiesen als der borussische.

In dem Cliquenkrakeel zwischen den großen Magnaten und dem kleinen Adel, der die unmittelbare Ursache zum Untergange Polens war, indem die großen Magnaten das Vaterland an das Ausland verkauften, während der kleine Adel unfähig war, es zu einem modernen Staate zu machen, ver­traten die großen Magnaten gleichwohl den historischen Fortschritt. Es sei gestattet, noch einmal an eine Analogie aus der deutschen Geschichte zu erinnern. Der große Adel im Deutschland des 16. Jahrhunderts, in erster Reihe die Hohenzollern Joachim von Brandenburg, Kasimir von Ansbach-Bayreuth und Albrecht von Mainz, war eine Rotte der verruchtesten Men­schen, denen gegenüber die Sickingen und Hutten, ganz zu geschweigen die Florian Geyer, als wahre Lichtgestalten erscheinen. Sie haben, um ihre Herrschaft zu begründen, nicht weniger den Landesverrat kultiviert als die großen Magnaten in Polen; man denke nur an den ekelhaften Schacher um die Kaiserkrone im Jahre 1519, wo sich namentlich wieder die Hohen­zollern von Brandenburg und Mainz im Auslande wegen ihrer unersätt­lichen Gier nach Bestechungsgeldern übel berufen machten, oder an die Preisgabe der lothringischen Bistümer Toul, Metz und Verdun, womit sich Moritz von Sachsen von der französischen Krone die Erlaubnis zu seinem Verrat an Kaiser und Reich erkaufte. Diese deutschen Magnaten haben es auch zu mancher „Teilung“ Deutschlands gebracht, ja nach dem Dreißig­jährigen Kriege stand Deutschland tatsächlich unter fremder Botmäßig­keit. Aber die partikularistische Fürstenherrschaft war wenigstens gesichert, und sie war ein historischer Fortschritt gegen die Adelsdemokratie, die Sickingen und Hutten mit ihren utopischen Reformen erstrebt hatten. Sie <58> mochte ein noch so jammervoller und trauriger Notbehelf für die natio­nale Monarchie Englands und Frankreichs sein, aber sie sicherte Deutsch­land vor dem Schicksal Polens, im feudalen Chaos unterzugehen.

Die polnischen Magnaten erstrebten dasselbe, was der große Adel Deutschlands erreicht hatte. Jedoch sie scheiterten daran, daß die ökono­mische Struktur Polens nicht einmal gestattete, aus dem feudalen Chaos wenigstens die partikularistische Vielherrschaft zu entwickeln. Der Landes­verrat der polnischen Magnaten wurde aus einem Mittel zum Zwecke das wirkliche Ende. Aber von den drei Teilungsmächten verstand keine so geschickt wie Rußland, den richtigen Anfang an dies Ende zu knüpfen. Während Preußen nach den Wiener Verträgen den polnischen Magnaten der Provinz Posen nur einen dekorativen Statthalterposten einräumte, der obendrein mit einem den Hohenzollern verschwägerten Fürsten Radziwill besetzt wurde, stellte Rußland aus seinem Anteil an der Beute ein König­reich Polen wieder her und gab ihm eine autonome Verfassung, eine stän­dische Verfassung zwar, aber eine von der alten polnischen Verfassung himmelweit verschiedene, mit ihrem ganzen administrativen, finanziellen, gerichtlichen, militärischen Apparat auf den modernen zentralisierten Staat zugeschnittene, die Herrschaft des Magnatentums sichernde und den klei­nen Adel schon durch ihre Kosten ruinierende Verfassung. So wurde, was durch diese Verfassung ermöglicht werden sollte, zugleich auch zur Exi­stenzbedingung des Staats, jener entscheidende historische Fortschritt, den das alte Polen nie hatte machen können, der Übergang zur Manufaktur, zur industriellen Entwicklung.

In vollstem Einverständnis zwischen dem polnischen Magnatentum und dem russischen Zarismus wurden, wie ehedem im 12. Jahrhundert deutsche Handwerker, nun im 19. Jahrhundert Manufakturisten ins Land gelockt, Leute aus aller Herren Länder und nicht zum wenigsten allerdings aus Deutschland: Binnen weniger Jahre wanderten etwa zehntausend deut­sche Familien in Russisch-Polen ein. Es war natürlich viel gemischte Ge­sellschaft in dieser Einwanderung: Abenteurer, Bankrotteure, Spekulan­ten, Wucherer und jene internationale Mischrasse von Genie und Glücks­ritter, wie sie die moderne Industrie erzeugt: Cockerill, den die „Neue Rheinische Zeitung“ als einen Engländer nennt, war zwar in England ge­boren, aber in Belgien emporgekommen und wühlte als Maulwurf der industriellen Revolution so ziemlich in allen europäischen Ländern von Spanien bis Polen und Rußland. Die russische Regierung wandte zur För­derung der polnischen Industrie dieselben Mittel an wie ehedem die Regierungen der westeuropäischen Länder: Sie baute den Einwanderern Häuser oder gewährte ihnen Bauland und Baumaterial, sie stiftete einen <59> jährlichen Industriefonds von 127'500 Rubel, sie gründete die Polnische Bank nach dem Muster der preußischen Seehandlung und so weiter.

Die industrielle Entwicklung des Königreichs Polen ging nun nicht ohne manche hemmenden Zwischenfälle, im ganzen aber doch mit der Schnellig­keit des historisch abgekürzten Verfahrens vor sich. Wenn man die pol­nische Manufakturperiode für die drei Jahrzehnte von 1820 bis 1850 abgrenzen kann, so beanspruchte der Übergang zur Großindustrie die beiden Jahrzehnte von 1850 bis 1870; etwa von diesem Jahre an darf man den Sieg der großen Industrie und ihre treibhausmäßige Entwicklung datieren. Die Stadt Lodz, ein Hauptsitz der polnischen Textilindustrie, hatte im Jahre 1820 nur 800, im Jahre 1850 immerhin erst 15 600, im Jahre 1878 aber schon 100 000 und im Jahre 1895 315 000 Einwohner; ihre Produk­tion stieg von nicht ganz drei Millionen Rubel im Jahre 1860 auf neunzig Millionen im Jahre 1895. Um noch durch eine andere Ziffernreihe das ge­waltige Wachstum der polnischen Industrie zu beleuchten, so stellt sich die Kohlengewinnung des Sosnowizer Bezirks, der noch bis zu den sech­ziger Jahren meilenweit mit dichtem Tannenwald bedeckt war, in Millio­nen Pud so dar: 1860 3,6, 1870 13,8, 1880 78,4, 1890 150,8. In den beiden Jahrzehnten von 1870 bis 1890 hat sich die Ausbeute um fast tausend Pro­zent vergrößert.

In demselben Maße, wie die Industrie zur herrschenden Produktions­form, wurde die Bourgeoisie zur leitenden Klasse in Polen. Anfangs vom Adel als eine ins Land geschneite Bande über die Achsel angesehen, wuchs sie ihm unaufhaltsam über den Kopf. Als der Adel im Jahre 1863 seine versiegende Kraft zu einem letzten Aufstande zusammengerafft hatte und damit gescheitert war, räumten die Bauernreform von 1864, die damit ein­geführte Geldwirtschaft und der für die polnischen Erzeugnisse geöffnete Massenabsatz in Rußland der Thronbesteigung der Bourgeoisie die letzten Steine aus dem Wege. Noch konnte sie den eingewurzelten Überlieferun­gen des Volkes gegenüber das Banner der bedingungslosen Russenfreund­schaft nicht unverhüllt entfalten, und so gab sie das „Programm der natio­nalen Arbeit“ aus, das scheinbar den nationalen Kampf fortsetzen, aber wirklich die Versöhnung mit Rußland anbahnen sollte. Im Gegensatze zu den hoffnungslosen Waffenkämpfen des Adels, die dem schwachen und uneinigen Lande immer tiefere Wunden geschlagen hatten, wurden die Stichworte ausgegeben: friedliche Arbeit auf dem Gebiete der Kultur, Sammlung aller geistigen und materiellen Mittel, innerliche Konsolidie­rung der Nation, nationaler Reichtum, Aufklärung, Versöhnung aller Klas­sen, was mit anderen Worten hieß: Verzicht auf jede politische Aktion. Mit diesem Programm übernahm die polnische Bourgeoisie die Führung <60> in der Literatur, in der Presse, in der ganzen Gesellschaft; sie bekehrte auch den Adel, der allen feudalen und nationalen Götzendienst opferte auf dem Altare des Schachers in Schafswolle, Runkelrüben und Schnaps. Er bekannte nun in demütiger Reue, daß die polnische Landwirtschaft keinen mächtigeren, segensreicheren Beschützer habe als die noch vor einem halben Jahrhundert verachtete und als etwas Fremdes und Unheilvolles gehaßte Industrie.

Nachdem das „Programm der nationalen Arbeit“ so treffliche Dienste geleistet hatte, konnte es gehen. Es half dem polnischen Kapitalismus ein gutes Stück Weges weiter, aber bis zum Ende seines Weges führte es nicht. Je mehr der industrielle Absatz Schritt für Schritt die Runde durch das ganze Reich machte, von Litauen nach Zentralrußland, dem Kaukasus und Wolgadistrikt, nach Sibirien und Mittelasien vordrang, um so mehr wuchs das Interesse der polnischen Industrie daran, auch die russische Verwaltung zu beeinflussen. Der politische Verzicht mußte aufgegeben werden, aber nicht um die alten nationalen Überlieferungen wieder aufzunehmen, son­dern um den zarischen Despotismus zu beherrschen, indem man sich ihm unterwarf. Allein wenn die Bourgeoisie damit nur die Hand küßte, die sie großgezogen hatte, so trat auch der Adel den Büßergang zu Väter­chens Hofe an; ihn verlockten die Fleischtöpfe des russi­ <61> schen Adels, an denen er seinen Anteil haben wollte. Die herrschenden Klassen Russisch-Polens haben freiwillig das Joch der Unterdrückung auf sich genommen; es scheuert nicht einmal mehr ihre Nacken. Als der gegenwärtige Zar, nach seiner Thronbesteigung, zum ersten Mal in Warschau erschien, wurde er mit einem raffinierten Klimbim patriotischen Entzückens empfangen wie vordem kein polnischer König.

In Österreichisch- und Preußisch-Polen ist keine große Industrie entstan­den; der Adel ist nach wie vor die herrschende Klasse. Aber auch hier ist ihm der Spiritus ausgegangen und nur das Phlegma geblieben, der Höfling und der Staatspensionär. In Österreich gibt ihm der Zwist zwischen Deut­schen und Tschechen eine große Macht über die Staatsmaschine, die er treff­lich für sich auszunützen versteht, und wie sich die polnischen Junker der preußischen Provinz Posen in die agrarische Liebesgabenpolitik verliebt haben, wissen wir alle. Sie sind die Extremsten unter den Brotwucherern, und wenn der ostelbische Junker sonst wohl, wenigstens in der Tasche, die Faust über die „gräßliche Flotte“ zu ballen weiß, so schwelgen die Admi­ralskis in patriotischer Hingebung an die „Weltpolitik“ des preußisch–deutschen Vaterlandes. Ja, die Berliner Polenpolitik hat in dem berufenen Ansiedlungsfonds, der das alte Rezept des Konsortiums Hoym–Bischoffwerder–Triebenfeld–Ritz in genialer Weise erneuert, indem er den polni­schen Adel mit dem Gelde der preußischen Steuerzahler auskaufen will und für diesen erhabenen Zweck bald eine halbe Milliarde lose gemacht hat, eine Rettungsbank für verkrachte Junker in der Provinz Posen errich­tet, die jedem edlen Schlachtschitzen das Herz höher schlagen läßt, wenn er auch neuestens teilen muß mit dem deutschen Junker, der auf so lockende Bedingungen hin ebenfalls „germanisiert“ zu werden verlangt.

So haben sich die herrschenden Klassen des ehemaligen Polens in allen drei Teilungsstaaten mit den herrschenden Klassen dieser Staaten assimi­liert. Sie haben die nationale Agitation gänzlich aufgegeben, die nur noch in einem Teile der polnischen Intelligenz und des polnischen Kleinbürger­tums ein dürftiges Leben fristet. Damit hat die polnische Frage für das moderne Proletariat ein ganz anderes Gesicht bekommen, als sie im Jahre 1848 hatte. Polen ist längst nicht mehr die einzige Angriffsfläche, die der zarische Despotismus der Revolution bietet; wie die anderen Teilungs­mächte hat Rußland die Revolution längst im eigenen Leibe. Wollte das polnische Proletariat die Wiederherstellung eines polnischen Klassenstaats auf seine Fahne schreiben, eines Klassenstaats, von dem die herrschenden Klassen selbst nichts wissen wollen, so würde es ein historisches Fastnachts­spiel aufführen, was wohl besitzenden Klassen passieren mag, wie dem polnischen Adel im Jahre 1791, aber der arbeitenden Klasse nie passieren darf. Taucht diese reaktionäre Utopie nun gar auf, um diejenigen Schichten der Intelligenz und des Kleinbürgertums, in denen die nationale Agitation noch einen gewissen Widerhall findet, der proletarischen Agitation geneigt zu machen, so ist sie doppelt hinfällig, als Ausgeburt jenes verwerflichen Opportunismus, der um nichtiger und wohlfeiler Augenblickserfolge wil­len die dauernden Interessen der Arbeiterklasse preisgibt.

Diese Interessen gebieten durchaus, daß die polnischen Arbeiter in allen drei Teilungsstaaten mit ihren Klassengenossen ohne jeden Rückhalt Schul­ter an Schulter kämpfen. Die Zeiten sind vorüber, wo eine bürgerliche Revolution ein freies Polen schaffen konnte; heute ist die Wiedergeburt Polens nur möglich durch die soziale Revolution, in der das moderne Pro­letariat seine Ketten bricht.

01  Siehe Friedrich Engels: "Die Polendebatte in Frankfurt". Marx-Engels Werke Band 5, S. 319-363

02  Acquisition französisch für Erwerbung

03  Der Wiener Kongreß tagte von September 1814 bis Juni 1815 in Wien als "Friedenskonferenz" der Sieger über das napoleonische Frankreich, durch die Länder neu zugeschnitten, monarchische Herrscher eingesetzt und schließlich der Deutsche Bund (mit Sitz in Frankfurt am Main) als Form einer politischen Einheit Deutschlands geschaffen wurde.

040508Friedrich Engels: "Die Polendebatte in Frankfurt", S. 320. Im ersten Artikel der Serie, vom 9.8.1848

06  Zum Magdeburger Recht siehe den Wikipedia-Artikel zum Thema

07  Friedrich Engels: "Die Polendebatte in Frankfurt", S. 321. Im ersten Artikel der Serie, vom 9.8.1848

09  in detrimentum libertatis terrestris - lateinisch: zum Schaden der ländlichen Freiheit, d.h. der Privilegien des Adels

10  Zum Thorner Blutbad siehe den Wikipedia-Artikel Thorner Blutgericht

11  Die am 3. Mai 1791 verabschiedete "Gesetz über die Regierung" (Ustawa Rzadowa) war die erste schriftlich fixierte Verfassung Europas, noch vor der französischen. In 11 langen Artikeln wurde die Dreiteilung der Staatsgewalten in Legislative (Sejm, geteilt in eine Abgeordnetenkammer (Izbe Poselka) und eine Senatorenkammer (Izbe Senatorska), die Exekutive in Person des Königs, und eine Gerichtsbarkeit. Die Verfassung nennt den polnischen Staat als eine Republik und schaffte das Wahlkönigtum ab, ersetzte es aber durch ein erbliches. Text der Verfassung in einer deutschen Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert bei www.verfassungen.eu.

12  "haben uns nach reifer Überlegung bewogen, den polnischen Thron nach dem gesetze der Erbfolge zu vergeben. Wir verordnen daher, daß, nach unserm der Gnade Gottes heimgestellten Ableben, der jetzige Churfürst von Sachsen in Polen König seyn soll." - aus Artikel VII "Der König, die vollziehende Gewalt" der 1791er Verfassung.

13  Das liberum veto war das Recht jedes einzelnen polnischen Adeligen, durch seinen Einspruch (Veto) einen Beschluß des Sejm zu verhindern. Ausführlicher der Wikipedia-Artikel über das "liberum veto".

14  "Eine Konföderation war in Polen-Litauen, der Adelsrepublik (1569–1795), ein Privileg (Recht) des Adels (Szlachta), eine militärische Organisation zu bilden, um ein politisches Ziel zu erzielen. Faktisch handelte es sich dabei fast immer um einen Aufstand gegen den König von Polen." (Wikipedia)

15  "Alles und alltenhalben soll nach der Stimmenmehrheit entschieden werden; daher heben wir auch das liberum veto, alle Arten von Conföderationen und die Conföderations-Reichstage, als dem Geiste gegenwärtiger Verfassung zuwider, die Regierung zertrümmernd, die Gesellschaft vernichtend, auf immer auf." - aus Artikel VI "Der Reichstag, oder die gesetzgebende Gewalt" der Verfassung vom 3. Mai 1971.

16  In der "Konföderation von Targowica" verbündeten sich am 27. April 1792 ein Teil des polnischen Adels mit der russichen Zarin "Katharina der Großen", um die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 wieder zu beseitigen. Das Ergebnis war die zweite polnische Teilung von 1793 (siehe Wikipedia).

17  Der Aufstand begann am 24. März 1794 und brach im Oktober zusammen. Siehe Wikipedia zum Kosciuszko-Aufstand (faktisch Russisch-Polnischer Krieg 1794 und Preußisch-Polnischer Krieg 1794)

18  Zu den Stein-Hardenbergschen Reformen nach der Niederlage Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstädt vom 14. Oktober 1806 siehe diesen Artikel in Wikipedia über "Preußische Reformen".

19  Siehe in diesem Archiv Revolution und Konterrevolution in Deutschland, hier besonders der Artikel "Polen, Tschechen und Deutsche", gedruckt in Marx-Engels Werke, Band 8, Seite 51. Diese Artikelserie erschien in 19 Teilen vom 25. Oktober 1851 bis 23. Oktober 1852 in der New-York Daily Tribune, gezeichnet von Karl Marx, wurde aber tatsächlich - was Mehring 1903 noch nicht wissen konnte - zwischen August 1851 und 'September 1852 von Friedrich Engels geschrieben.

20  Fürst Metternich nutzte das Attentat des Burschenschafters Sand auf Kotzebue, um auf der Ministerkonferenz der deutschen Bundesstaaten im August 1819 die sogenannten Karlsbader Beschlüsse durchzusetzen. Sie bestimmten die strenge Überwachung aller Universitäten, das Verbot von Studentenverbindungen, verschärfte Zensur von Zeitschriften und Büchern sowie die Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung aller "revolutionären Umtriebe". Die vormärzlichen Unruhen und die Revolution von 1848/49 wurde dadurch nicht verhindert. Mehr dazu in Wikipedia

Aus dem Vorwort von "Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich Engels",
Herausgegeben von Franz Mehring,
Dritter Band, Stuttgart 1920, S. 18-44. Bestand in öffentlichen Bibliotheken via WorldCat (OCLC)