MLWerke | 3. Kapitel | Inhalt | 5. Kapitel | Franz Mehring

Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960, S. 95-115.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999

Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens

Viertes Kapitel: Friedrich Engels


1. Kontor und Kaserne

|95| Friedrichs Engels wurde am 28. November 1820 in Barmen geboren. Sowenig wie Marx brachte er revolutionäre Anschauungen aus seinem Elternhause mit, und ebensowenig wie bei Marx war es persönliche Not, sondern hohe Intelligenz, die ihn auf die revolutionäre Bahn trieb. Sein Vater war ein wohlhabender Fabrikant von konservativer und auch orthodoxer Gesinnung; in religiöser Beziehung hat Engels mehr zu überwinden gehabt als Marx.

Er widmete sich dem kaufmännischen Berufe, nachdem er das Gymnasium in Elberfeld bis ein Jahr vor dem Abiturientenexamen besucht hatte. Ähnlich wie Freiligrath, ist er ein sehr tüchtiger Kaufmann geworden, ohne daß je sein Herz bei dem »verfluchten Kommerz« gewesen wäre. Von Angesicht zu Angesicht sieht man ihn zuerst in den Briefen, die der achtzehnjährige Lehrling aus dem Kontor des Konsuls Leupold in Bremen an die Brüder Graeber richtete, zwei Schulfreunde und nunmehrige Studenten der Theologie. In ihnen wird vom Handel und von Handelsgeschäften wenig gesprochen, es sei denn, daß es einmal heißt: »Gegeben auf unsrem Kontorbock, zur Zeit da wir nicht den Katzenjammer hatten.« Ein fröhlicher Zecher ist schon der junge Engels gewesen wie noch der alte; wenn er im Bremer Ratskeller auch nicht wie Hauff geträumt und wie Heine gesungen hat, so weiß er doch mit derbem Humor von der »großen Knüllität« zu erzählen, die er sich wohl einmal in diesen geweihten Räumen geholt hat.

Wie Marx versuchte er sich zunächst als Dichter, aber nicht minder schnell als Marx erkannte er, daß in diesem Garten keine Lorbeeren für ihn gewachsen waren. In einem Briefe, der vom 17. September 1838 datiert, also vor Vollendung seines achtzehnten Lebensjahres geschrieben ist, erklärte er durch Goethes Ratschläge »für junge Dichter«, vom Glauben an seinen Poetenberuf bekehrt zu sein. Es sind die beiden kleinen Aufsätze Goethes gemeint, worin der Altmeister auseinandersetzt, die deutsche Sprache sei auf einen so hohen Grad der |96| Ausbildung gelangt, daß es jedem gegeben sei, sich in Rhythmen und Reimen gefällig auszudrücken, worauf sich also niemand etwas Besonderes einbilden dürfe; Goethe schließt seine Ratschläge mit dem »Reimwort«:

Jüngling, merke dir in Zeiten,
Wo sich Geist und Sinn erhöht,
Daß die Muse zu begleiten
Doch zu leiten nicht versteht.

In diesen Ratschlägen fand der junge Engels sich so trefflich gezeichnet, wie es nur möglich sei; aus ihnen sei ihm klar geworden, daß durch seine Reimereien nichts für die Kunst getan sei. Nur als »angenehme Zugabe«, wie Goethe sage, wolle er sie beibehalten und auch wohl ein Gedicht in ein Journal einrücken lassen, »weil andre Kerls, die ebensolche, auch wohl noch größere Esel sind, als ich bin, es auch tun, und weil ich dadurch die deutsche Literatur weder heben noch senken werde«. Der burschikose Ton, den Engels immer geliebt hat, barg aber auch in seiner Jugend nichts Leichtfertiges: in demselben Briefe bat er seine Freunde, ihm Volksbücher aus Köln zu besorgen, Siegfried, Eulenspiegel, Helena, Oktavian, Schildbürger, Heymonskinder, Doktor Faust, und bekannte sich zum Studium Jakob Böhmes. »Es ist eine dunkle, aber eine tiefe Seele. Das meiste aber muß entsetzlich studiert werden, wenn man etwas davon kapieren will.«

Das Dringen in die Tiefe verleidete dem jungen Engels denn auch früh die flache Literatur des jungen Deutschlands. In einem wenig späteren Briefe, vom 10. Januar 1839, geht es über diese »saubere Kompagnie« her, und zwar hauptsächlich, weil sie Dinge in die Welt hinausschreibe, die nicht da seien. »Dieser Theodor Mundt sudelt da was in die Welt hinein von der Demoiselle Taglioni, die ›Goethe tanzt‹, schmückt sich mit Floskeln aus Goethe, Heine, der Rahel und der Stieglitz, sagt den köstlichsten Unsinn über Bettina, aber alles so modern, so modern, daß es eine Lust sein muß für einen Schnipulanten oder für eine junge, eitle, lüsterne Dame, dergleichen zu lesen ... Und dieser Heinrich Laube! Der Kerl schmiert in einem fort Charaktere, die nicht existieren, Reisenovellen, die keine sind, Unsinn über Unsinn, es ist schrecklich.« Den »neuen Geist« in der Literatur datierte der junge Engels von dem »Donnerschlag der Julirevolution«, der »schönsten Äußerung des Volkswillens seit dem Befreiungskriege«. Zu den Vertretern dieses Geistes rechnete er die Beck, Grün und Lenau, die Immermann und Platen, die Börne und Heine und auch Gutzkow, den er mit sicherm Urteil über die |97| sonstigen Leuchten des Jungen Deutschlands stellte. In den »Telegraphen«, einer von diesem »ganz ausgezeichnet ehrenwerten Kerl« herausgegebenen Zeitschrift, hat Engels nach einem Briefe vom 1. Mai 1839 einen Aufsatz gestiftet, doch bat er um strengste Diskretion, da er sonst in »höllische Schwulitäten« kommen würde.

Ließ sich der junge Engels durch die Freiheitstiraden des jungen Deutschlands nicht über den ästhetischen Unwert von dessen Schriften täuschen, so war er freilich auch weit entfernt, um dieses ästhetischen Unwerts willen die orthodoxen und reaktionären Angriffe auf das junge Deutschland nachsichtiger zu beurteilen. Da nahm er durchaus die Partei der Verfolgten, unterzeichnete sich wohl selbst als »Junger Deutscher« und drohte dem Freunde: »Das sage ich Dir, Fritz, so Du einmal Pastor wirst, Du magst so orthodox werden, wie Du willst, aber wirst Du mir ein Pietist ..., Du hast's mit mir zu tun.« Mit ähnlichen Reflexen hing auch wohl seine auffallende Vorliebe für Börne zusammen, dessen Schrift gegen den Denunzianten Menzel der junge Engels stilistisch für das erste Werk Deutschlands erklärte, während Heine sich gelegentlich mit einem »Schweinigel« abfinden mußte; es waren die Tage der großen Empörung gegen den Dichter, als auch der junge Lassalle in sein Tagebuch schrieb: »Und dieser Mann ist abgefallen von der Sache der Freiheit! Und dieser Mann hat die Jakobinermütze von seinem Haupte gerissen und einen Tressenhut auf die edlen Locken gedrückt!«

Doch weder Börne noch Heine, noch sonst ein Dichter, haben dem jungen Engels die Wege seines Lebens gewiesen, sondern sein Schicksal hat ihn zum Manne geschmiedet. Er kam aus Barmen, der einen, und lebte in Bremen, der andern Hochburg des norddeutschen Pietismus; die Befreiung aus diesen Banden war der Anfang des großen Befreiungskampfes, der sein ruhmreiches Leben füllt. Wo er mit dem Glauben seiner Kindheit ringt, spricht er mit einer, ihm sonst ungewohnten Weichheit. »Ich bete täglich, ja fast den ganzen Tag um Wahrheit, habe es getan, sobald ich anfing zu zweifeln, und komme doch nicht zu Eurem Glauben zurück ... Die Tränen kommen mir in die Augen, indem ich dies schreibe, ich bin durch und durch bewegt, aber ich fühle es, ich werde nicht verloren gehen, ich werde zu Gott kommen, zu dem sich mein ganzes Herz sehnt. Und das ist auch ein Zeugnis des heiligen Geistes, darauf leb' ich und sterb' ich, ob auch zehntausendmal in der Bibel das Gegenteil steht.« In diesen Seelenkämpfen gelangte der junge Engels von den Hengstenberg und Krummacher, den Häuptern der damaligen Orthodoxie, mit augenblicklichem mehr Stutzen als Verweilen |98|* bei Schleiermacher, zu David Strauß, und nun gesteht er seinen theologischen Freunden, es gäbe für ihn keine Rückkehr mehr. Ein rechter Rationalist könne wohl von seiner natürlichen Wundererklärung und seiner seichten Moralsucht in die orthodoxe Zwangsjacke zurückkriechen, aber die philosophische Spekulation könne nicht wieder von ihren »morgenrotbestrahlten Firnen« in die »nebligen Täler« der Orthodoxie herabsteigen. »Ich bin nämlich auf dem Punkte, ein Hegelianer zu werden. Ob ich's werde, weiß ich freilich noch nicht, aber Strauß hat mir Lichter über Hegel angesteckt, die mir das Ding ganz plausibel darstellen. Seine (Hegels) Geschichtsphilosophie ist mir ohnehin wie aus der Seele geschrieben.« Der Bruch mit dem Kirchentum führte dann unmittelbar in die politische Ketzerei. Eine pfäffische Lobrede auf den damaligen preußischen König, den Mann der Demagogenjagd, ließ diesen Percy Heißsporn ausrufen: »Ich erwarte bloß von dem Fürsten etwas Gutes, dem die Ohrfeigen seines Volks um den Kopf schwirren, und dessen Palastfenster von den Steinwürfen der Revolution zerschmettert werden.«

Mit solchen Anschauungen war Engels über Gutzkows »Telegraphen« hinaus in die Region der »Deutschen Jahrbücher« und der »Rheinischen Zeitung« gewachsen. Für beide Organe hat er gelegentlich gearbeitet, als er vom Oktober 1841 bis Oktober 1842 sein Freiwilligenjahr abdiente, bei der Gardeartillerie in Berlin, in der Kaserne am Kupfergraben, unfern dem Hause, wo Hegel gelebt hatte und gestorben war. Seinen schriftstellerischen Kriegsnamen Friedrich Oswald, den er anfangs wohl aus Rücksicht auf seine konservativ und orthodox gesinnte Familie gewählt hatte, mußte er »in des Königs Rock« aus noch zwingenderen Gründen beibehalten. Einem Schriftsteller, den er in den »Deutschen Jahrbüchern« scharf kritisiert hatte, schrieb Gutzkow tröstend am 6. Dezember 1842: »Das traurige Verdienst, den F. Oswald in die Literatur eingeführt zu haben, gebührt leider mir. Vor Jahren schickte mir ein Handlungsbeflissener, namens Engels, aus Bremen Briefe über das Wuppertal. Ich korrigierte sie, strich die Persönlichkeiten, die zu grell waren, und druckte sie ab. Seither schickte er manches, das ich regelmäßig umarbeiten mußte. Plötzlich verbat er sich diese Korrekturen, studierte Hegel und ging zu andern Organen über. Noch kurz vor dem Erscheinen der Kritik über Sie hatte ich ihm 15 Taler nach Berlin geschickt. So sind diese Neulinge fast alle. Uns verdanken sie, daß sie denken und schreiben können, und ihre erste Tat ist geistiger Vatermord. Natürlich würde all diese Schlechtigkeit nichts sein, wenn ihr nicht die ›Rheinische Zeitung‹ und Ruges Blatt entgegenkäme.« So stöhnt nun freilich nicht der |99| alte Moor im Hungerturm, sondern so gackert die Henne, der das von ihr ausgebrütete Entlein von dannen schwimmt.

Wie Engels im Kontor ein tüchtiger Kaufmann geworden war, so wurde er in der Kaserne ein tüchtiger Soldat; fortan und bis ans Ende seines Lebens hat die Militärwissenschaft zu seinen Lieblingsstudien gehört. In dieser engen und steten Berührung mit der Praxis des täglichen Lebens glich sich glücklich, aus, was seinem philosophischen Bewußtsein an spekulativer Tiefe fehlen mochte. Er hat in seinem Freiwilligenjahr wacker mit den Berliner Freien gezecht und auch mit ein paar Schriftchen an ihren Kämpfen teilgenommen, freilich zu einer Zeit, wo ihr Treiben noch nicht entartet war. Schon im April 1842 erschien anonym in einem Leipziger Verlage seine kleine 55 Seiten lange Schrift »Schelling und die Offenbarung«, worin er »den neuesten Reaktionsversuch gegen die freie Philosophie« kritisierte, den Versuch des an die Berliner Universität berufenen Schelling, durch seinen Offenbarungsglauben die Hegelsche Philosophie aus dem Felde zu schlagen. Ruge, der die Schrift für ein Werk Bakunins hielt, begrüßte sie mit dem schmeichelhaften Lobe: »Dieser liebenswürdige junge Mensch überholt all die alten Esel in Berlin.« In der Tat vertrat sie den noch philosophischen Junghegelianismus in seinen äußersten Konsequenzen, doch hatten auch andere Kritiker nicht ganz unrecht, die in ihr weniger scharfe Kritik als poetisch-philosophischen Überschwang fanden.[1]

Etwa zu gleicher Zeit, unter dem frischen Eindruck von Bruno Bauers Absetzung, hat Engels in Neumünster bei Zürich, ebenfalls anonym, ein »Christliches Heldengedicht« in vier Gesängen veröffentlicht, eine Satire auf den »Triumph des Glaubens« über den »Oberteufel«, der »kräftiglich entsetzet ist«[2]. Es machte auch reichlichen Gebrauch von dem Vorrecht der Jugend, mäkelnde Kritik zu verachten; eine Probe seiner Art mögen die Verse geben, in denen Engels sich selbst und den ihm persönlich noch unbekannten Marx schilderte:

Doch der am weitsten links mit langen Beinen toset,
Ist Oswald, grau berockt und pfefferfarb behoset,
Auch innen pfefferhaft, Oswald der Montagnard,
Der wurzelhafteste mit Haut und auch mit Haar.
Er spielt ein Instrument, das ist die Guillotine,
Auf ihr begleitet er stets eine Cavatine;
Stets tönt das Höllenlied, laut brüllt er den Refrain:
Formez vos bataillons! aux armes, citoyens!

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|100| Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestüm?
Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein markhaft Ungetüm.
Er gehet, hüpfet nicht, er springet auf den Hacken
Und raset voller Wut und gleich, als wollt' er packen
Das weite Himmelszelt, und zu der Erde ziehn.
Streckt er die Arme sein weit in die Lüfte hin.
Geballt die böse Faust, so tobt er sonder Rasten,
Als wenn ihn bei dem Schopf zehntausend Teufel faßten.[3]

Nach Ablauf seiner Militärdienstzeit, Ende September 1842, kehrte Engels in sein elterliches Haus zurück, und von hier ging er zwei Monate später nach Manchester als Kommis der Großspinnerei Ermen & Engels, deren Teilhaber sein Vater war. Auf der Durchreise besuchte er die Redaktion der »Rheinischen Zeitung« in Köln und sah hier Marx zum ersten Male. Doch war ihre Begrüßung sehr kühl, denn sie fiel gerade in die Tage, wo Marx mit den Freien brach. Engels war durch Briefe der Brüder Bauer gegen Marx eingenommen, und Marx sah in Engels einen Gesinnungsgenossen der Berliner Freien.

2. Englische Zivilisation

Einundzwanzig Monate hat Engels nunmehr in England verlebt, und diese Zeit hat für ihn eine ähnliche Bedeutung gehabt wie für Marx das Pariser Jahr. Beide kamen aus der Schule der deutschen Philosophie, von der aus sie im Auslande zu ganz gleichen Ergebnissen gelangten, aber wenn Marx sich an der Französischen Revolution über die Kämpfe und Wünsche der Zeit verständigt hat, so Engels an der englischen Industrie.

Auch England hatte seine bürgerliche Revolution gehabt, sogar schon ein Jahrhundert vor Frankreich, aber eben deshalb unter ungleich weniger entwickelten Verhältnissen. Sie war schließlich in ein Kompromiß zwischen Aristokratie und Bourgeoisie verlaufen, die sich ein gemeinsames Königtum schufen. Die englische »Mittelklasse« hatte dem Königtum und dem Adel nicht den hartnäckigen und langwierigen Kampf zu machen, wie der »dritte« Stand in Frankreich. Aber wenn es der französischen Geschichtsschreibung erst aus rückschauender Betrachtung klar wurde, daß der Kampf des »dritten Standes« ein Klassenkampf sei, so schoß der Gedanke des Klassenkampfes in England sozusagen aus |101| frischer Wurzel empor, als das Proletariat zur Zeit der Reformbill von 1832 zum Kampfe mit den herrschenden Klassen antrat.

Der Unterschied erklärte sich daraus, daß die große Industrie den englischen Boden viel tiefer aufgewühlt hatte als den französischen. Sie hatte in einem fast handgreiflichen Entwicklungsprozesse alte Klassen vernichtet und neue Klassen geschaffen. Die innere Struktur der modernen bürgerlichen Gesellschaft war in England viel durchsichtiger als in Frankreich. Aus der Geschichte und dem Wesen der englischen Industrie lernte Engels, daß die ökonomischen Tatsachen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung gar keine oder eine verachtete Rolle spielten, wenigstens in der modernen Welt eine entscheidende geschichtliche Macht seien, daß sie die Grundlage bildeten für die Entstehung der heutigen Klassengegensätze, daß diese Klassengegensätze, wo sie vermöge der großen Industrie sich vollständig entwickelt hätten, wieder die Grundlage der politischen Parteibildung, der Parteikämpfe und damit der ganzen politischen Geschichte seien.

Ohnehin hing es mit seinem Berufe zusammen, daß Engels seinen Blick in erster Reihe auf das ökonomische Gebiet lenkte. In den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« begann er mit einer »Kritik der Nationalökonomie«[4], wie Marx mit einer »Kritik der Rechtsphilosophie« begonnen hatte. Der kleine Aufsatz ist noch mit jugendlichem Ungestüm geschrieben, aber er bekundet doch auch schon eine seltene Reife des Urteils. Ihn ein »reichlich konfuses Werklein« zu nennen, blieb dem deutschen Professor vorbehalten; Marx hat ihn treffend eine »geniale Skizze« genannt. Eine »Skizze«, denn was Engels über die Ökonomie der Adam Smith und Ricardo sagt, ist keineswegs erschöpfend und nicht einmal immer richtig, und was er gegen sie im einzelnen einwandte, mochte von englischen oder französischen Sozialisten bereits gesagt sein. Jedoch genial war der Versuch, alle Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie aus ihrem wirklichen Quell, dem Privateigentum als solchem abzuleiten; damit ging Engels schon über Proudhon hinaus, der das Privateigentum nur vom Boden des Privateigentums aus zu bekämpfen wußte. Was Engels über die entmenschenden Wirkungen der kapitalistischen Konkurrenz zu sagen hatte, über die Bevölkerungstheorie des Malthus, über die immer steigende Fieberhitze der kapitalistischen Produktion, über die Handelskrisen, über das Lohngesetz, über die Fortschritte der Wissenschaft, die unter der Herrschaft des Privateigentums aus Mitteln zur Befreiung der Menschheit vielmehr Mittel zur immer stärkeren Knechtung der Arbeiterklasse würden usw., das enthielt die fruchtbaren Wurzeln des wissenschaftlichen Kommunismus |102|* nach der ökonomischen Seite, die Engels in der Tat zuerst als solche entdeckt hat.

Er selbst hat darüber allzu bescheiden gedacht. Wenn er einmal meinte, seinen ökonomischen Sätzen habe Marx erst »die schließliche scharfe Fassung« gegeben oder ein andermal: »Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle«[5], oder ein drittes Mal, was er gefunden habe, würde Marx am Ende auch selbst gefunden haben, so ist in ihrer Frühzeit doch auf dem Gebiete, auf dem zuletzt die entscheidende Schlacht geschlagen werden mußte und geschlagen worden ist, Engels der Gebende und Marx der Empfangende gewesen. Sicherlich war Marx damals der philosophisch begabtere und vor allem geschultere Kopf, und wenn man sich an einem kindlichen Wenn- und Aberspiel, das mit geschichtlicher Forschung nichts zu tun hat, anders erlustigen will, so mag man darüber spintisieren, ob Engels das Problem, das beide Männer gelöst haben, in seiner französischen verwickelteren Form so gelöst haben würde wie Marx. Aber - und dies ist mit Unrecht verkannt worden - in seiner einfacheren englischen Form hat es Engels nicht minder glücklich gelöst. Gerade wenn man seine »Kritik der Nationalökonomie« vom einseitig ökonomischen Standpunkt betrachtet, wird man manches an ihr aussetzen können; was sie auszeichnet und was sie zu einem wesentlichen Fortschritt der Erkenntnis machte, das verdankte ihr Verfasser der dialektischen Schule Hegels.

Auch nach außen hin greifbar tritt der philosophische Ausgangspunkt in dem zweiten Aufsatz hervor, den Engels in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« veröffentlichte. Er schilderte die Lage Englands an der Hand einer Schrift Carlyles, die er als das einzig lesenswerte Buch aus der literarischen Ernte eines ganzen Jahres bezeichnete, eine Armut, die wieder in bezeichnendem Gegensatz zu dem französischen Reichtum stand. Engels knüpfte daran eine Betrachtung über die geistige Erschöpfung der englischen Aristokratie und Bourgeoisie; der gebildete Engländer, nach dem man auf dem Festlande den englischen Nationalcharakter beurteile, sei der verächtlichste Sklave unter der Sonne, der unter Vorurteilen, namentlich religiösen Vorurteilen ersticke. »Nur der auf dem Kontinent unbekannte Teil der englischen Nation, nur die Arbeiter, die Parias Englands, die Armen sind wirklich respektabel, trotz all ihrer Roheit und all ihrer Demoralisation. Von ihnen geht die Rettung Englands aus, in ihnen liegt noch bildsamer Stoff; sie haben keine Bildung, aber auch keine Vorurteile; sie haben noch Kraft aufzuwenden für eine große nationale Tat, sie haben noch eine Zukunft.«[6] Engels wies darauf hin, wie, um mit Marx zu sprechen, die Philosophie sich in |103| diesem »naiven Volksboden« einzuwurzeln beginne; das »Leben Jesu« von Strauß, das kein anständiger Schriftsteller zu übersetzen und kein angesehener Buchhändler zu drucken gewagt habe, sei von einem sozialistischen Lekturer übersetzt worden und werde in Pennyheften unter den Arbeitern in London, Birmingham und Manchester vertrieben.

Engels übersetzte die »schönsten« der »oft wunderbar schönen Stellen« aus Carlyles Schrift, die die Lage Englands in den düstersten Farben schilderten. Gegen die Rettungsvorschläge aber, die Carlyle macht: eine neue Religion, einen pantheistischen Heroenkultus und dergleichen mehr, berief er sich auf Bruno Bauer und Feuerbach. Alle Möglichkeiten der Religion seien erschöpft, auch der Pantheismus, den Feuerbachs Thesen in den »Anekdotis« für immer abgetan hätten. »Die Frage ist bisher immer gewesen: Was ist Gott? und die deutsche Philosophie hat die Frage dahin gelöst: Gott ist der Mensch. Der Mensch hat sich nur selbst zu erkennen, alle Lebensverhältnisse an sich selbst zu messen, nach seinem Wesen zu beurteilen, die Welt nach den Forderungen seiner Natur wahrhaft menschlich einzurichten, so hat er das Rätsel unserer Zeit gelöst.«[7] Und wie Marx den Menschen Feuerbachs sofort als das Wesen des Menschen, Staat, Sozietät erläuterte, so sah Engels in dem Wesen des Menschen die Geschichte, die »unser Eins und Alles« sei und »von uns« höher gehalten werde als irgend von einer anderen, früheren, philosophischen Richtung, höher selbst als von Hegel, dem sie am Ende auch nur als Probe auf sein logisches Rechenexempel habe dienen sollen.

Es ist ungemein reizvoll, in den je zwei Aufsätzen, die Engels und Marx für die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« gestiftet haben, bis ins einzelne hinein zu verfolgen, wie die gleichen Gedanken aufkeimen, anders gefärbt hier im Lichte der Französischen Revolution und dort im Lichte der englischen Industrie, der beiden großen historischen Umwälzungen, von denen die Geschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft datiert, aber im Wesen der Sache doch gleich. Hatte Marx aus den Menschenrechten das anarchische Wesen der bürgerlichen Gesellschaft herausgelesen, so erläuterte Engels die Konkurrenz, »die Hauptkategorie des Ökonomen, seine liebste Tochter«: »Was soll man von einem Gesetze denken, das sich nur durch periodische Revolutionen durchsetzen kann? Es ist eben eine Naturgesetz, das auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht.«[8] War Marx zu der Erkenntnis gelangt, daß die menschliche Emanzipation erst vollbracht sei, wenn der Mensch durch die Organisation seiner eigenen Kräfte als gesellschaftlicher Kräfte zum Gattungswesen geworden sei, so sagte Engels: Produziert mit Bewußtsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne |104| Gattungsbewußtsein, und ihr seid über alle diese künstlichen und unhaltbaren Gegensätze hinaus.

Man sieht, wie die Übereinstimmung fast bis auf den Wortlaut reicht.

3. »Die heilige Familie«

Ihre erste gemeinsame Arbeit war die Abrechnung mit ihrem philosophischen Gewissen, und sie kleidete sich in eine Polemik gegen die »Allgemeine Literatur-Zeitung«, die Bruno Bauer mit seinen Brüdern Edgar und Egbert seit dem Dezember 1843 in Charlottenburg herausgab.

In diesem Organe versuchten die Berliner Freien ihre Weltanschauung, oder was sie so nannten, zu begründen. Bruno Bauer war zwar durch Fröbel zur Mitarbeit an den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« aufgefordert worden, aber er hatte sich schließlich doch nicht entschließen können mitzutun, und im Grunde hielt er nicht bloß deshalb an seinem philosophischen Selbstbewußtsein fest, weil sein persönliches Selbstbewußtsein durch Marx und Ruge empfindlich verletzt worden war. Seine spitzen Bemerkungen über die »›Rheinische Zeitung‹ seligen Angedenkens«, die »Radikalen«, die »Klugen von Anno 1842« hatten bei alledem einen sachlichen Hintergrund. Die Gründlichkeit und Schnelligkeit, womit die romantische Reaktion die »Deutschen Jahrbücher« und die »Rheinische Zeitung« vernichtet hatte, sobald sie sich von der Philosophie zur Politik wandten, und die vollkommene Gleichgültigkeit, in der die »Masse« bei dieser »Niedermetzelung« des »Geistes« geblieben war, hatten ihn überzeugt, daß auf diesem Wege nicht vorwärts zu kommen sei. Er sah alles Heil nur in der Rückkehr zur reinen Philosophie, zur reinen Theorie, zur reinen Kritik, aus der im Gebiete der ideologischen Wolkenwelt einen allmächtigen Herrscher der Welt zu machen denn freilich keine besondere Schwierigkeit bot.

Das Programm der »Allgemeinen Literatur-Zeitung«, soweit es überhaupt noch greifbar war, sprach Bruno Bauer mit den Worten aus: »Alle großen Aktionen der bisherigen Geschichte waren deshalb von vornherein verfehlt und ohne eingreifenden Erfolg, weil die Masse sich für sie interessiert oder enthusiasmiert hatte, oder sie mußten ein klägliches Ende nehmen, weil die Idee, um die es sich in ihnen handelte, von der Art war, daß sie sich mit einer oberflächlichen Auffassung begnügen, also auch auf den Beifall der Masse rechnen mußte.« Der Gegensatz zwischen »Geist« und »Masse« zog sich wie ein roter Faden durch die |105| »Allgemeine Literatur-Zeitung«; sie sagte, der Geist wisse jetzt, wo er seinen einzigen Widersacher zu suchen habe, nämlich in den Selbsttäuschungen und in der Kernlosigkeit der Masse.

Dementsprechend urteilte die Zeitschrift Bauers mit absprechender Herablassung über alle »massenhaften« Bewegungen der Zeit, über Christentum und Judentum, Pauperismus und Sozialismus, französische Revolution und englische Industrie. Es war fast noch zu höflich, wenn Engels ihr ins Stammbuch schrieb: »Sie ist und bleibt ein altes Weib, die verwelkte und verwitwete Hegelsche Philosophie, die ihren zur widerlichsten Abstraktion ausgedörrten Leib schminkt und aufputzt und in ganz Deutschland nach einem Freier umherschielt.«[9] Denn die Hegelsche Philosophie wurde ins Absurde getrieben. Indem Hegel den absoluten Geist als schöpferischen Weltgeist immer erst nachträglich im Philosophen zum Bewußtsein kommen ließ, sagte er im Grunde nur, daß der absolute Geist zum Schein in der Einbildung die Geschichte mache, und er hatte sich sehr nachdrücklich gegen die Mißdeutung verwahrt, als ob das philosophische Individuum selbst der absolute Geist sei. Dagegen betrachteten die Bauers und ihre Jünger sich als die persönlichen Inkarnationen der Kritik, des absoluten Geistes, der durch sie mit Bewußtsein im Gegensatze zur übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spiele. Dieser Dunst mußte sich selbst in der philosophischen Atmosphäre Deutschlands schnell verflüchtigen, sogar im Kreise der Freien fand die »Allgemeine Literatur-Zeitung« eine sehr laue Aufnahme; weder Köppen, der sich ohnehin zurückhielt, arbeitete mit, noch Stirner, der sich vielmehr heimlich rüstete, sie abzutun, aber auch Meyen und Rutenberg waren nicht zu haben, und die Bauers mußten sich mit der einzigen Ausnahme Fauchers, an einer dritten Garnitur der Freien genügen lassen, einem gewissen Jungnitz und dem pseudonymen Szeliga, einem preußischen Leutnant von Zychlinski, der erst im Jahre 1900 als General der Infanterie gestorben ist. Der ganze Spuk war denn auch binnen Jahresfrist sang- und klanglos verschollen; die »Allgemeine Literatur-Zeitung« war nicht nur tot, sondern auch schon vergessen, als Marx und Engels gegen sie auf den öffentlichen Plan traten.

Das ist ihrer ersten gemeinsamen Schrift nicht förderlich gewesen, der »Kritik der kritischen Kritik«, wie sie selbst sie tauften, oder der »Heiligen Familie«, dem Namen, den sie ihr nach einem Vorschlage des Verlegers gaben. Die Gegner spotteten sofort, sie renne offene Türen ein, und auch Engels meinte, als er das fertige Buch erhielt, das Ding sei ganz famos, aber bei alledem zu groß; die souveräne Verachtung, womit die kritische Kritik behandelt werde, stehe zu den zweiundzwanzig Bogen |106|* der Schrift im argen Gegensatze; das meiste werde dem größeren Publikum unverständlich sein und auch nicht allgemein interessieren. Das trifft heute noch ungleich mehr zu als damals, dagegen hat sie inzwischen einen Reiz gewonnen, der zur Zeit ihres Erscheinens nicht genossen werden konnte, wenigstens nicht so, wie er heute genossen werden kann. Ein neuerer Kritiker sagt gleichwohl, nachdem er die Silbenstechereien, Wortklaubereien und selbst ungeheuerlichen Gedankenverrenkungen der Schrift getadelt hat, sie enthalte einige der schönsten Offenbarungen des Genies, die auch in der meisterhaften Form, in der ehernen Gedrungenheit der Sprache zu dem Herrlichsten gehörten, was Marx je geschrieben habe.

Marx zeigt sich in diesen Partien der Schrift als Meister jener produktiven Kritik, die die ideologische Einbildung durch die positive Tatsache schlägt, die zugleich schafft, indem sie zerstört, zugleich aufbaut, indem sie einreißt. Den kritischen Redensarten Bruno Bauers über den französischen Materialismus und die französische Revolution setzte Marx glänzende Abrisse dieser historischen Erscheinungen entgegen. Auf das Gerede Bruno Bauers von dem Gegensatze zwischen »Geist« und »Masse«, »Idee« und »Interesse«, antwortete Marx kühl: »Die ›Idee‹ blamierte sich immer, soweit sie von dem ›Interesse‹ unterschieden war.«[10] Jedes massenhafte Interesse, das sich geschichtlich durchsetze, pflege beim Betreten der Weltbühne in der Idee weit über seine wirklichen Schranken hinauszugehen und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin zu verwechseln. Es sei die Illusion, die Fourier den Ton einer jeden Geschichtsepoche nenne. »Das Interesse der Bourgeoisie in der Revolution von 1789, weit entfernt ›verfehlt‹ zu sein, hat alles ›gewonnen‹ und hat den ›eingreifendsten Erfolg‹ gehabt, so sehr der ›Pathos‹ verraucht und so sehr die ›enthusiastischen‹ Blumen, womit dieses Interesse seine Wiege bekränzte, verwelkt sind. Dieses Interesse war so mächtig, daß es die Feder eines Marat, die Guillotine der Terroristen, den Degen Napoleons wie das Kruzifix und das Vollblut der Bourbonen siegreich überwand.«[11] In dem Jahre 1830 habe die Bourgeoisie ihre Wünsche vom Jahre 1789 verwirklicht, nur mit dem Unterschiede, daß ihre politische Aufklärung beendet gewesen sei, sie erstrebe in dem konstitutionellen Repräsentativstaat nicht mehr das Ideal des Staats, nicht mehr das Heil der Welt und allgemein menschliche Zwecke, sondern habe ihn als den offiziellen Ausdruck ihrer ausschließlichen Macht und als die politische Anerkennung ihres besonderen Interesses erkannt. Verfehlt sei die Revolution nur für die Masse gewesen, die in der politischen Idee nicht die Idee ihres wirklichen Interesses besessen habe, |107| deren wahres Lebensprinzip also mit dem Lebensprinzip der Revolution nicht zusammengefallen sei, deren reale Bedingungen der Emanzipation wesentlich verschieden seien von den Bedingungen, innerhalb deren die Bourgeoisie sich und die Gesellschaft emanzipieren konnte.

Der Behauptung Bruno Bauers, daß der Staat die Atome der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhalte, setzte Marx entgegen, was sie zusammenhalte, sei dies, daß sie Atome nur in der Vorstellung seien, im Himmel ihrer Einbildung, in Wirklichkeit aber gewaltig von den Atomen unterschiedene Wesen, nämlich keine göttlichen Egoisten, sondern egoistische Menschen. »Nur der politische Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, daß das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird.«[12] Und verächtlichen Äußerungen Bruno Bauers über die Bedeutung von Industrie und Natur für die geschichtliche Erkenntnis begegnete Marx mit der Frage, ob die kritische Kritik in der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit auch nur zum Anfange gekommen zu sein glaube, solange sie das theoretische und praktische Verhalten der Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließe. »Wie sie das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe ... trennt, so trennt sie die Geschichte von der Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie nicht in der grob-materiellen Produktion auf der Erde, sondern in der dunstigen Wolkenbildung am Himmel die Geburtsstätte der Geschichte.«[13]

Wie sich Marx der französischen Revolution gegenüber der kritischen Kritik annahm, so Engels der englischen Industrie. Er hatte es dabei mit dem jungen Faucher zu tun, der von den Mitarbeitern der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« noch am ehesten die irdische Wirklichkeit beachtete; es ist ergötzlich zu lesen, wie trefflich er damals jenes kapitalistische Lohngesetz auseinanderzusetzen wußte, das er zwanzig Jahre später, bei Lassalles Auftreten, als ein »faules Ricardosches Gesetz« in die Tiefen der Hölle verfluchen sollte. Bei allen groben Schnitzern, die Engels ihm nachwies - Faucher wußte im Jahre 1844 noch nichts davon, daß im Jahre 1824 die englischen Koalitionsverbote aufgehoben worden waren - fehlte es doch nicht ganz an Silbenstechereien, und in einem wesentlichen Punkt irrte auch Engels, wenngleich nach anderer Seite als Faucher. Hatte dieser die Zehnstundenbill Lord Ashleys als eine »schlappe Milieu-Maßregel« verspottet, die kein Axthieb in die Baumwurzel sein würde, so nahm sie Engels mit »der ganzen Massenhaftigkeit Englands« für den allerdings möglichst gelinden Ausdruck eines durchaus |108|* radikalen Prinzips, da sie die Axt an die Wurzel des auswärtigen Handels und damit an die Wurzel des Fabriksystems nicht nur legen, sondern tief hineinhauen würde. Engels, und mit ihm Marx, sah damals in der Bill Lord Ashleys einen Versuch, der großen Industrie eine reaktionäre Fessel anzulegen, die auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft immer wieder zerrissen werden würde.

Ihre philosophische Vergangenheit haben Engels und Marx noch nicht völlig abgestreift; gleich mit dem ersten Worte der Vorrede kehren sie den realen Humanismus« Feuerbachs gegen den spekulativen Idealismus Bruno Bauers heraus. Rückhaltlos erkennen sie die genialen Entwicklungen Feuerbachs an, sein Verdienst, die großen und meisterhaften Grundzüge zur Kritik aller Metaphysik geliefert, den Menschen an die Stelle des alten Plunders, auch des unendlichen Selbstbewußtseins gesetzt zu haben. Aber sie schreiten über den Humanismus Feuerbachs immer wieder vor zum Sozialismus, vom abstrakten zum historischen Menschen, und in der chaotisch durcheinanderflutenden Welt des Sozialismus finden sie sich mit bewundernswertem Scharfsinn zurecht. Sie enthüllten das Geheimnis der sozialistischen Spielereien, in denen sich die satte Bourgeoisie gefiel. Das menschliche Elend selbst, die unendliche Verworfenheit, die das Almosen empfangen muß, dienen der Aristokratie des Geldes und der Bildung zum Amüsement, zur Befriedigung ihrer Selbstliebe, zum Kitzel ihres Übermuts: einen anderen Sinn haben die vielen Wohltätigkeitsvereine in Deutschland, die vielen wohltätigen Gesellschaften in Frankreich, die zahlreichen wohltätigen Donquichotterien in England, die Konzerte, Bälle, Schauspiele, Essen für Arme, selbst die öffentlichen Subskriptionen für Verunglückte nicht.

Von den großen Utopisten hat Fourier am meisten beigesteuert zu dem gedanklichen Inhalt der »Heiligen Familie«. Doch unterscheidet Engels schon zwischen Fourier und Fourierismus; er sagt, der verwässerte Fourierismus, wie ihn die »Friedliche Demokratie« predige, sei nichts als die soziale Lehre eines Teils der philanthropischen Bourgeoisie. Er wie Marx betonen immer wieder, was auch die großen Utopisten niemals verstanden hatten: die geschichtliche Entwicklung, die selbständige Bewegung der Arbeiterklasse. Gegen Edgar Bauer schreibt Engels: »Die kritische Kritik schafft Nichts, der Arbeiter schafft Alles, ja so sehr Alles, daß er die ganze Kritik auch in seinen geistigen Schöpfungen beschämt; die englischen und französischen Arbeiter können davon Zeugnis ablegen.«[14] Und den angeblichen ausschließenden Gegensatz zwischen »Geist« und »Masse« beseitigte Marx unter anderem auch durch die Bemerkung, daß der kommunistischen Kritik der Utopisten praktisch |109| sogleich die Bewegung der großen Masse entsprochen habe; man müsse das Studium, die Wißbegierde, die sittliche Energie, den rastlosen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennengelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können.

Danach ist es leicht zu begreifen, daß Marx sich mit besonderem Eifer gegen die abgeschmackte Übersetzung und den noch abgeschmackteren Kommentar wandte, womit Edgar Bauer sich in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« an Proudhon versündigt hatte. Es ist natürlich eine akademische Finte, daß Marx in der »Heiligen Familie« denselben Proudhon verherrlicht haben soll, den er ein paar Jahre später scharf kritisieren sollte. Marx wehrte sich nur dagegen, daß Proudhons wirkliche Leistung durch Edgar Bauers verwaschenes Gerede verdunkelt würde, und diese Leistung erkannte er auf nationalökonomischem Gebiete für ebenso bahnbrechend an wie Bruno Bauers Leistung auf theologischem Gebiete. Aber wie gegen Bruno Bauers theologische, so wandte sich Marx auch gegen Proudhons nationalökonomische Beschränktheit.

Behandelte Proudhon das Eigentum vom Boden der bürgerlichen Ökonomie als einen inneren Widerspruch, so sagte Marx: »Das Privateigentum als Privateigentum, als Reichtum, ist gezwungen, sich selbst und damit seinen Gegensatz, das Proletariat, im Bestehen zu erhalten. Es ist die positive Seite des Gegensatzes, das in sich selbst befriedigte Privateigentum. Das Proletariat ist umgekehrt als Proletariat gezwungen, sich selbst und damit seinen bedingenden Gegensatz, der es zum Proletariat macht, das Privateigentum, aufzuheben. Es ist die negative Seite des Gegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auflösende Privateigentum ... Innerhalb des Gegensatzes ist der Privateigentümer also die konservative, der Proletarier die destruktive Partei. Von jenem geht die Aktion des Erhaltens des Gegensatzes, von diesem die Aktion seiner Vernichtung aus. Das Privateigentum treibt allerdings sich selbst in seiner nationalökonomischen Bewegung zu seiner eignen Auflösung fort, aber nur durch eine von ihm unabhängige, bewußtlose, wider seinen Willen stattfindende, durch die Natur der Sache bedingte Entwicklung, nur indem es das Proletariat als Proletariat erzeugt, das seines geistigen und physischen Elends bewußte Elend, die ihrer Entmenschung bewußte und darum sich selbst aufhebende Entmenschung. Das Proletariat vollzieht das Urteil, welches das Privateigentum durch die Erzeugung des Proletariats über sich selbst verhängt, wie es das Urteil vollzieht, welches die Lohnarbeit über sich selbst verhängt, indem |110| sie den fremden Reichtum und das eigne Elend erzeugt. Wenn das Proletariat siegt, so ist es dadurch keineswegs zur absoluten Seite der Gesellschaft geworden, denn es siegt nur, indem es sich selbst und sein Gegenteil aufhebt. Alsdann ist ebensowohl das Proletariat wie sein bedingender Gegensatz, das Privateigentum, verschwunden.«[15]

Ausdrücklich verwahrte sich Marx dagegen, daß er die Proletarier für Götter erklären wolle, indem er ihnen diese weltgeschichtliche Rolle zuschreibe. »Vielmehr umgekehrt! Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, absolut gebieterische Not - den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben. Es macht nicht vergebens die harte, aber stählende Schule der Arbeit durch. Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eigenen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.«[16] Und immer wieder betonte Marx, daß ein großer Teil des englischen und französischen Proletariats sich seiner geschichtlichen Aufgabe schon bewußt sei und beständig daran arbeite, dies Bewußtsein zur vollständigen Klarheit herauszubilden.

Neben mancher frischen Quelle, aus der das Wasser des Lebens sprudelt, enthält die »Heilige Familie« freilich auch manche Strecke dürren Landes. Namentlich die beiden langen Kapitel, die sich mit der unglaublichen Weisheit des würdigen Szeliga befassen, stellen die Geduld des Lesers auf eine harte Probe. Man wird der Schrift am gerechtesten, wenn man sie als eine Improvisation betrachtet, wie sie es augenscheinlich auch gewesen ist. Just in den Tagen, wo Engels und Marx sich persönlich kennenlernten, traf in Paris das achte Heft der »Allgemeinen |111| Literatur-Zeitung« ein, worin Bruno Bauer in versteckter zwar, aber zugleich bissiger Weise die Auffassung bekämpfte, zu der beide in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« gelangt waren.

Da mag in ihnen der Gedanke aufgetaucht sein, dem alten Freunde in lustig-spöttischer Weise zu antworten, mit einer kleinen Flugschrift, die schnell erscheinen sollte. Darauf deutet hin, daß Engels seinen Beitrag, der wenig über einen Druckbogen umfaßte, sofort niederschrieb und sehr verwundert war, als er hörte, daß Marx die Schrift auf zwanzig Druckbogen ausdehne; er empfand es als »kurios« und komisch«, daß bei dem geringen Umfange seines Anteils sein Name mit auf dem Titel stände und gar an erster Stelle. Marx wird die Arbeit in seiner gründlichen Weise angefaßt und dabei wird es ihm nach dem bekannten nur allzu wahren Wort an Zeit gefehlt haben, kurz zu sein; vielleicht hat er den Stoff auch ausgereckt, um die Zensurfreiheit zu gewinnen, die Büchern über zwanzig Druckbogen zustand.

Im übrigen kündigten die Verfasser diese Polemik nur als Vorläufer der selbständigen Schriften an, worin sie - jeder für sich - ihre Stellung zu den neueren philosophischen und sozialen Doktrinen nehmen würden. Wie ernst es ihnen damit war, zeigte die Tatsache, daß Engels die erste dieser selbständigen Schriften bereits im Manuskript vollendet hatte, als er das erste gedruckte Exemplar der »Heiligen Familie« erhielt.

4. Eine sozialistische Grundlegung

Diese Schrift war »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«[17], die im Sommer 1845 bei Wigand in Leipzig erschien, dem ehemaligen Verleger der »Deutschen Jahrbücher«, der einige Monate vorher Stirners »Einzigen« verlegt hatte. War Stirner als ein letzter Ausläufer der Hegelschen Philosophie in die platte Weisheit der kapitalistischen Konkurrenz übergeschnappt, so legte Engels in seinem Buche den Grund für diejenigen deutschen Theoretiker, die - und es waren fast alle - durch die Feuerbachsche Auflösung der Hegelschen Spekulation zum Kommunismus und Sozialismus gekommen waren. Er schilderte die Zustände der englischen Arbeiterklasse in ihrer grauenerregenden, aber für die Herrschaft der Bourgeoisie typischen Wirklichkeit.

Als Engels seine Arbeit fast fünfzig Jahre später von neuem herausgab, nannte er sie eine Phase in der embryonalen Entwicklung des modernen internationalen Sozialismus. Er fügte hinzu: wie der menschliche |112| Embryo in seinen frühesten Entwicklungsstufen die Kiemenbögen unserer Vorfahren, der Fische, noch immer reproduziere, so verrate sein Buch überall die Spuren der Abstammung des modernen Sozialismus von einem seiner Vorfahren, der deutschen klassischen Philosophie. Das ist aber nur mit der Einschränkung richtig, daß diese Spuren viel schwächer sind als noch in den Aufsätzen, die Engels in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« veröffentlicht hatte; weder Bruno Bauer noch Feuerbach werden mehr erwähnt, und »Freund Stirner« nur ein paar Mal, um ihn ein wenig aufzuziehen. Nicht in noch rückständigem, sondern in entschieden fortschreitendem Sinne kann man von einem wesentlichen Einfluß der deutschen Philosophie auf das Buch sprechen.

Sein eigentlicher Schwerpunkt lag nicht in der Schilderung des proletarischen Elends, wie es in England unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise entstanden war. Darin hatte Engels manche Vorläufer gehabt, Buret, Gaskell und andere, die er reichlich zitiert. Auch die echte Empörung gegen ein soziales System, das die furchtbarsten Leiden über die arbeitenden Massen verhängte, die erschütternd wahre Schilderung dieser Leiden, das tiefe und wahre Mitgefühl mit ihren Opfern gab der Schrift nicht die eigentümliche Note. Das Bewundernswerteste und zugleich historisch Bedeutendste an ihr war die Schärfe, womit der vierundzwanzigjährige Verfasser den Geist der kapitalistischen Produktionsweise begriff und aus ihm nicht nur den Aufstieg, sondern auch den Verfall der Bourgeoisie, nicht nur das Elend, sondern auch die Rettung des Proletariats zu erklären verstand. Der Kern der Schrift war, zu zeigen, wie die große Industrie die moderne Arbeiterklasse schafft, als eine entmenschte, intellektuell und moralisch zur Bestialität herabgewürdigte, körperlich zerrüttete Rasse, aber wie die moderne Arbeiterklasse sich kraft einer historischen Dialektik, deren Gesetze im einzelnen aufgezeigt werden, zum Sturze ihres Schöpfers entwickelt und entwickeln muß. In der Verschmelzung der Arbeiterbewegung mit dem Sozialismus sah sie die Herrschaft des Proletariats über England.

Einer solchen Leistung war aber nur fähig, wer die Dialektik Hegels in sein Fleisch und Blut aufgenommen hatte, und sie von dem Kopfe, worauf sie stand, auf die Füße zu stellen wußte. Hierdurch wurde die Schrift eine sozialistische Grundlegung, wie sie nach den Absichten ihres Verfassers werden sollte. Jedoch der große Eindruck, den sie bei ihrem Erscheinen hervorrief, beruhte nicht hierauf, sondern auf ihrem rein stofflichen Interesse; wenn sie - wie eine akademische Perücke mit komischer Selbstüberhebung meint - den Sozialismus »universitätsfähig« |113| gemacht hat, so doch nur in dem Sinne, daß dieser oder jener Professor eine rostige Lanze an ihr zerbrach. Vor allem blähte sich die gelehrte Kritik auf, als die Revolution nicht eintrat, die Engels schon vor den englischen Toren sah. Er selbst durfte fünfzig Jahre später gelassen sagen, das Wunderbare sei, nicht daß diese und andere Prophezeiungen, die er in »jugendlicher Hitze« gemacht habe, fehlgegangen, sondern daß so viele eingetroffen seien, wenn er sie auch erst in »viel zu naher Zukunft« gesehen habe.

Heute ist die »jugendliche Hitze«, die manches in »viel zu naher Zukunft« sah, nicht der geringste Reiz der bahnbrechenden Schrift. Ohne diesen Schatten wäre ihr Licht nicht denkbar. Der geniale Blick, der aus der Gegenwart die Zukunft zu erkennen weiß, sieht die kommenden Dinge schärfer, aber deshalb auch näher, als der gesunde Menschenverstand, der sich schwerer an die Vorstellung gewöhnt, daß ihm just nicht immer um zwölf Uhr die Suppe auf den Tisch gesetzt zu werden braucht. Auf der anderen Seite sahen damals außer Engels noch viele andere Leute die englische Revolution vor der Tür wie selbst die »Times«, das Hauptblatt der englischen Bourgeoisie, aber die Angst des bösen Gewissens fürchtete in der Revolution nur Brand und Mord, während der soziale Seherblick neues Leben aus den Ruinen sprossen sah.

Nicht jedoch nur in dieser Schrift wurde Engels während des Winters von 1844 auf 1845 von »jugendlicher Hitze« umgetrieben; während er sie noch auf dem Amboß schmiedete, hatte er schon neue Eisen im Feuer: neben ihrer Fortsetzung, denn sie sollte nur ein einzelnes Kapitel aus einer umfassenderen Arbeit über die soziale Geschichte Englands sein, auch noch eine sozialistische Monatsschrift, die er mit Moses Heß gemeinsam herausgeben wollte, eine Bibliothek sozialistischer Schriftsteller des Auslandes, eine Kritik Lists und anderes mehr. Unermüdlich trieb er Marx, mit dem er sich in seinen Plänen mehrfach begegnete, zu gleich regem Schaffen an. »Mach, daß Du mit Deinem nationalökonomischen Buch fertig wirst, wenn Du selbst auch mit vielem unzufrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüter sind reif, und wir müssen das Eisen schmieden, weil es warm ist ... jetzt ist aber hohe Zeit. Darum mach, daß Du vor April fertig wirst, mach's wie ich, setz Dir eine Zeit, bis wohin Du positiv fertig sein willst, und sorge für einen baldigen Druck. Kannst Du es nicht da drucken lassen, so laß es in Mannheim, Darmstadt oder so drucken. Aber heraus muß es bald.« Selbst über die »verwunderliche« Ausdehnung der »Heiligen Familie« tröstete sich Engels damit, es sei ganz gut so; »es kommt so vieles schon jetzt an den Mann, was sonst wer weiß wie lange noch in Deinem Sekretär gelegen |114| hätte«. Wie oft noch sollte er im Laufe der kommenden Jahrzehnte ähnliche Rufe erheben!

Aber ein ungeduldiger Mahner, war er zugleich der geduldigste Helfer, wenn der Genius in seinem schweren Ringen mit sich selbst noch durch die elenden Nöte des gemeinen Lebens bedrängt wurde. Sobald die Nachricht nach Barmen kam, daß Marx aus Paris vertrieben sei, hielt Engels es für nötig, gleich eine Subskription zu eröffnen, »um die Dir dadurch verursachten Extrakosten auf uns alle kommunistisch zu repartieren«. Seinen Bericht über den »guten Fortgang« der Zeichnungen fügte er hinzu: »Da ich übrigens nicht weiß, ob das genügen wird, um Dir Deine Einrichtung in Brüssel zustandezubringen, so versteht es sich von selbst, daß mein Honorar für das erste englische Ding, was ich hoffentlich bald wenigstens teilweise ausgezahlt bekomme und für den Augenblick entbehren kann, da mein Alter mir pumpen muß, Dir mit dem größten Vergnügen zur Disposition steht. Die Hunde sollen wenigstens das Pläsier nicht haben, Dich durch ihre Infamie in pekuniäre Verlegenheit zu bringen.« Und auch im Schutze des Freundes vor »diesem Pläsier der Hunde« ist Engels ein Menschenalter hindurch unermüdlich gewesen.

Leichtfertig wie Engels in diesen jugendlichen Briefen erscheint, war er doch nichts weniger als leichtfertig. Das »erste englische Ding«, von dem er so obenhin sprach, haben nunmehr sieben Jahrzehnte als schwerlötig gewogen; es war ein epochemachendes Werk, die erste große Urkunde des wissenschaftlichen Sozialismus. Engels zählte vierundzwanzig Jahre, als er sie schrieb und damit sogar den Staub aus den akademischen Perücken aufwirbelte. Aber er war kein frühreifes Talent, das in der schwülen Luft des Treibhauses schnell gedieh, um schneller zu verwelken; seine »jugendliche Hitze« entstammte dem echten Sonnenfeuer eines großen Gedankens, das sein Alter noch erwärmte wie seine Jugend.

Derweil lebte er im Hause seiner Eltern »ein stilles, geruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit«, wie es »der glänzendste Philister« nur verlangen konnte. Aber es war ihm bald leid, und nur durch die »trübseligen Gesichter« seiner Alten ließ er sich bestimmen, noch einen Versuch mit dem Schacher zu machen. Zum Frühjahr wollte er auf jeden Fall fort, zunächst nach Brüssel. Seine »Familienhäkeleien« steigerten sich bedeutend durch eine kommunistische Propaganda in Barmen-Elberfeld, an der er sich lebhaft beteiligte. Er berichtete an Marx von drei kommunistischen Versammlungen, von denen die erste 40, die zweite 130, die dritte 200 Teilnehmer gezählt habe. »Das Ding |115| zieht ungeheuer. Man spricht von nichts als vom Kommunismus, und jeden Tag fallen uns neue Anhänger zu. Der Wuppertaler Kommunismus ist une vérité, ja beinahe schon eine Macht.« Diese Macht zerstob freilich auf einen einfachen Befehl der Polizei, und es sah auch sonst sonderlich genug mit ihr aus; Engels selbst berichtete, nur das Proletariat habe sich von dieser kommunistischen Bewegung ausgeschlossen, für die das dümmste, indolenteste, philisterhafteste Volk, das sich für nichts in der Welt interessiere, beinahe zu schwärmen beginne.

Das stimmte schlecht zu dem, was Engels gleichzeitig über die Aussichten des englischen Proletariats schrieb. Aber so war er einmal: ein Prachtkerl vom Scheitel bis zur Sohle, immer auf der Vorhut, frisch, scharfäugig, unermüdlich und nicht ohne jene holde Torheit, die einer begeisterten und tapferen Jugend so wohl ansteht.


[1] Friedrich Engels: Schelling und die Offenbarung. Kritik des neuesten Reaktionsversuchs gegen die freie Philosophie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband, 2. Teil, S. 173 ff. <=

[2] Friedrich Engels: Die frech bedräute, jedoch wunderbar befreite Bibel. Oder: der Triumph des Glaubens. Das ist: Schreckliche, jedoch wahrhafte und erkleckliche Historia von dem weiland Licentiaten Bruno Bauer; wie selbiger vom Teufel verführet, vom reinen Glauben abgefallen, Oberteufel geworden und endlich kräftiglich entsetzet ist. Christliches Heldengedicht in vier Gesängen, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband, 2. Teil, S. 283 ff. <=

[3] Friedrich Engels: Die frech bedräute, jedoch wunderbar befreite Bibel. Oder: der Triumph des Glaubens. Das ist: Schreckliche, jedoch wahrhafte und erkleckliche Historia von dem weiland Licentiaten Bruno Bauer; wie selbiger vom Teufel verführet, vom reinen Glauben abgefallen, Oberteufel geworden und endlich kräftiglich entsetzet ist. Christliches Heldengedicht in vier Gesängen, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband, 2. Teil, S. 300/301. <=

[4] Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, S. 499-524. <=

[5] Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, S. 291, Fußnote. <=

[6] Friedrich Engels: Die Lage Englands. Thomas Carlyles »Past and Present«, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, S. 526. <=

[7] Friedrich Engels: Die Lage Englands. Thomas Carlyles »Past and Present«, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, S. 546. <=

[8] Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, S. 515. <=

[9] Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 20. <=

[10] Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 85. <=

[11] Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 85/86. <=

[12] Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 128. <=

[13] Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 159. <=

[14] Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 20. <=

[15] Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 37/38. <=

[16] Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 38. <=

[17] Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, S. 225-506. <=


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