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August Bebel - "Die Frau und der Sozialismus" - 62. Auflage, Berlin/DDR, 1973, S. 525-527.
1. Korrektur.
Erstellt am 31.1.1999.
Neunundzwanzigstes Kapitel
Die Internationalität
|523| Das menschenwürdige Dasein für alle kann aber nicht die Daseinsweise eines einzigen bevorzugten Volkes sein, das, isoliert von allen übrigen Völkern, diesen Zustand weder zu begründen noch aufrechtzuhalten vermöchte. Unsere ganze Entwicklung ist das Produkt des Zusammenwirkens nationaler und internationaler Kräfte und Beziehungen. Obgleich die nationale Idee noch vielfach die Köpfe beherrscht und als Mittel zur Aufrechterhaltung politischer und sozialer Herrschaft dient, denn diese ist nur innerhalb nationaler Schranken möglich, stecken wir bereits tief im Internationalismus.
Handels-, Zoll- und Schiffahrtsverträge, Weltpostverein, internationale Ausstellungen, Kongresse für Völkerrecht und internationale Gradmessungen, sonstige internationale wissenschaftliche Kongresse und Verbindungen, internationale Erforschungsexpeditionen, unser Handel und Verkehr, insbesondere die internationalen Kongresse der Arbeiter, welche die Träger der neuen Zeit sind und deren moralischem Einfluß es geschuldet ist, daß im Frühjahr 1890 auf Einladung des Deutschen Reiches die erste internationale Arbeiterschutzgesetzkonferenz in Berlin stattfand, alles das legt Zeugnis ab für den internationalen Charakter, den die Beziehungen der verschiedenen Kulturnationen, trotz ihrer nationalen Abgeschlossenheit, die immer mehr durchbrochen wird, angenommen haben. Wir sprechen, im Gegensatz zur Nationalwirtschaft, von der Weltwirtschaft und legen letzterer die größere Bedeutung bei, weil von ihr wesentlich das Wohl und Gedeihen der einzelnen Nationen abhängt. Ein großer Teil unserer eigenen Produkte wird gegen die Produkte fremder Länder, ohne die wir nicht mehr existieren können, ausgetauscht. Und wie ein Industriezweig durch den anderen geschädigt wird, wenn einer erlahmt, so erlahmt die Nationalproduktion eines Landes sehr erheblich, wenn die der anderen ins Stocken gerät. Die Beziehungen der einzelnen Länder werden, ungeachtet aller vorübergehenden Störungen, wie |524| Kriege und nationale Verhetzungen, immer inniger, weil die materiellen Interessen, die stärksten von allen, sie beherrschen. Jeder neue Verkehrsweg, jede Verbesserung eines Verkehrsmittels, jede Erfindung oder Verbesserung im Produktionsprozeß, wodurch die Waren verbilligt werden, verstärkt diese Beziehungen. Die Leichtigkeit, mit der persönliche Beziehungen zwischen weit voneinander entfernten Ländern und Völkern hergestellt werden, ist ein neuer wesentlicher Faktor in der Kette der Verbindungen. Auswanderung und Kolonisation sind andere mächtige Hebel. Ein Volk lernt von dem anderen, eins sucht dem anderen im Wettstreit zuvorzukommen. Neben dem Austausch materieller Produkte der verschiedensten Art vollzieht sich der Austausch der Geisteserzeugnisse, sowohl in der Ursprache wie in Übersetzungen. Das Erlernen fremder lebender Sprachen wird für Millionen eine Notwendigkeit. Nichts aber trägt, neben materiellen Vorteilen, mehr dazu bei, Antipathien zu beseitigen und Sympathien zu erwecken, als das Eindringen in die Sprache und Geisteserzeugnisse eines fremden Volkes.
Die Wirkung dieses auf internationaler Stufenleiter sich vollziehenden Annäherungsprozesses ist, daß die verschiedenen Länder sich immer mehr und mehr in ihren sozialen Zuständen ähnlich sehen. Bei den vorgeschrittensten und darum maßgebenden Kulturnationen ist diese Ähnlichkeit bereits so groß, daß, wer die ökonomische Struktur eines Volkes kennengelernt hat, in der Hauptsache diejenige aller übrigen ebenfalls kernt. Ungefähr so, wie in der Natur bei Tieren derselben Gattung das Gerippe in Organisation und Bau dasselbe ist, und besitzt man einzelne Teile eines solchen, kann man theoretisch das ganze Tier konstruieren.
Die weitere Folge ist, daß, wo gleichgeartete soziale Grundlagen vorhanden sind, auch die Wirkungen daraus die gleichen sein müssen: Aufhäufung großen Reichtums und sein Gegensatz: Lohnsklaverei, Knechtung der Massen unter die Maschinerie, Beherrschung der Massen durch die besitzende Minorität, mit allen daraus entspringenden Folgen.
In der Tat sehen wir, daß die Klassengegensätze und Klassenkämpfe, die Deutschland durchwühlen, ganz Europa, die Vereinigten Staaten, Australien usw. in Bewegung setzen. In Europa herrscht von Rußland bis nach Portugal, vom Balkan, Ungarn und Italien bis nach England und Irland derselbe Geist der Unzufriedenheit, machen sich |525| die gleichen Symptome sozialer Gärung, allgemeinen Unbehagens und der Zersetzung bemerkbar. Äußerlich verschieden, je nach dem Grade der Entwicklung, dem Charakter der Bevölkerung und der Form ihres politischen Zustandes, sind im Wesen diese Bewegungen überall dieselben. Tiefe soziale Gegensätze sind ihre Ursache. Mit jedem Jahre verschärfen sich diese mehr, dringen die Gärung und Unzufriedenheit immer tiefer und weiter in den Gesellschaftskörper, bis schließlich ein Anlaß, vielleicht unbedeutender Art, die Explosion herbeiführt und diese sich blitzartig über die ganze Kulturwelt verbreitet und die Geister zur Parteinahme für und wider in die Schranken ruft.
Der Kampf der neuen Welt wider die alte ist entbrannt. Es treten Massen auf die Bühne, es wird mit einer Fülle von Intelligenz gekämpft, wie es die Welt noch in keinem Kampfe gesehen hat, in einem ähnlichen Kampfe kein zweites Mal mehr sehen wird. Denn es ist der letzte soziale Kampf. Am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts stehend, sehen wir, wie dieser Kampf sich immer mehr der letzten seiner Phasen nähert, in der die neuen Ideen siegen.
Die neue Gesellschaft wird sich dann auch auf internationaler Basis aufbauen. Die Völker werden sich verbrüdern, sie werden sich gegenseitig die Hände reichen und danach trachten, den neuen Zustand allmählich über alle Völker der Erde auszudehnen.(1) Ein Volk kommt nicht mehr zu dem anderen als Feind, um auszubeuten und zu unterdrücken, nicht mehr als Vertreter eines fremden Glaubens, den es ihm aufnötigen will, sondern als Freund, der alle Menschen zu Kulturmenschen erziehen will. Die Kultur- und Kolonisationsarbeiten der neuen Gesellschaft werden sich in ihrem Wesen und in ihren Mitteln ebenso von den jetzigen unterscheiden, wie beide Gesellschaften ihrem Wesen nach grundverschieden sind. Weder wird man Pulver und Blei noch Feuerwasser (Branntwein) und die Bibel anwenden; man unternimmt die Kulturmission nur mit friedlichen Mitteln, die die Zivilisatoren den Barbaren und Wilden nicht als Feinde, sondern als Wohltäter erscheinen lassen. Verständige Reisende und Forscher wissen längst, wie erfolgreich dieser Weg ist.
Sind einmal die Kulturvölker zu einer großen Föderation vereinigt, |526| dann ist auch die Zeit gekommen, wo für immer "des Krieges Stürme schweigen". Der ewige Frieden ist dann kein Traum mehr, wie die heute in Uniformen einhergehenden Herren die Welt glauben machen wollen. Diese Zeit ist gekommen, sobald die Völker ihre wahren Interessen erkannt haben. Diese werden nicht gefördert durch Kampf und Streit, durch Länder und Völker zugrunde richtende Rüstungen, sondern durch friedliche Verständigung und gemeinsame Kulturarbeiten. Außerdem sorgen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen dafür, wie das oben ausgeführt wurde, daß die militärischen Rüstungen und Kriege an ihrer eigenen Ungeheuerlichkeit ihr Ende erreichen. So werden die letzten Waffen gleich so vielen ihnen vorangegangenen in die Antiquitätensammlungen wandern, und zukünftigen Geschlechtern zu bezeugen, wie vergangene Generationen während Jahrtausenden sich oft wie wilde Tiere zerfleischten - bis endlich der Mensch über das Tier in ihm triumphierte.
Daß nur die nationalen Besonderheiten und Interessengegensätze - die hüben und drüben durch die herrschenden Klassen künstlich genährt werden, um gegebenenfalls durch einen großen Krieg einen Abzugskanal für gefährliche Strömungen im Innern zu besitzen - es sind, welche die Kriege hervorrufen, bestätigt eine Äußerung des verstorbenen Generalfeldmarschalls Moltke. Im ersten Bande seines Nachlasses, der den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 behandelt, heißt es unter anderem in den einleitenden Bemerkungen:
"Solange die Nationen ein gesondertes Dasein führen, wird es Streitigkeiten geben, welche nur mit den Waffen geschlichtet werden können, aber im Interesse der Menschheit ist zu hoffen, daß die Kriege seltener werden, wie sie furchtbarer geworden sind."
Nun, dieses nationale Sonderdasein, das heißt die feindselige Absperrung der einen Nation gegen die andere, schwindet trotz aller gegenteiligen Bemühungen, sie aufrechtzuerhalten, immer mehr, und so werden künftige Generationen ohne Mühe auch Aufgaben verwirklichen, an die geniale Köpfe längst gedacht und Versuche zur Lösung machten, ohne zum Ziele gelangen zu können. So hatte schon Condorcet die Idee, eine allgemeine Weltsprache ins Leben zu rufen. Und der verstorbene ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Ulysses Grant, äußerte in einer Ansprache: "Da Handel, Unterricht und die schnelle Beförderung von Gedanken und Materien durch Telegraphen und Dampf alles verändert haben, so glaube ich, daß Gott die Welt |527| vorbereitet, eine Nation zu werden, eine Sprache zu sprechen, zu einem Zustand der Vollendung zu gelangen, in welchem Heere und Kriegsflotten nicht mehr nötig sind." Natürlich muß bei einem Vollblutyankee der liebe Gott die ausgleichende Rolle spielen, die einzig ein Produkt geschichtlicher Entwicklung ist. Man darf sich darüber nicht wundern. Heuchelei oder auch Borniertheit in Fragen der Religion ist nirgends größer als in den Vereinigten Staaten. Je weniger die Staatsgewalt durch ihre Organisation die Massen leitet, um so mehr muß es die Religion, die Kirche tun. Daher scheint überall die Bourgeoisie dort am frömmsten, wo die Staatsgewalt am laxesten ist. Neben den Vereinigten Staaten in England, Belgien, der Schweiz. Auch der Revolutionär Robespierre, der mit den Köpfen von Aristokraten und Geistlichen wie mit Kegelkugeln spielte, war bekanntlich sehr religiös, weshalb er feierlich das höchste Wesen wieder einsetzen ließ, das kurz zuvor - ebenso geschmacklos - der Konvent für abgesetzt erklärt hatte. Und da vor der großen Revolution die leichtfertigen und liederlichen Aristokraten Frankreichs sich vielfach mit ihrem Atheismus brüsteten, sah Robespierre denselben als aristokratisch an und denunzierte ihn vor dem Konvent in seiner Rede über das höchste Wesen mit den Worten: "Der Atheismus ist aristokratisch. Die Idee eines höchsten Wesens, das über der unterdrückten Unschuld wacht und das triumphierende Verbrechen straft, ist ganz volkstümlich. Wäre kein Gott, so müßte man einen solchen erfinden." Der tugendhafte Robespierre ahnte, daß seine tugendhafte bürgerliche Republik die sozialen Gegensätze nicht ausgleichen konnte, darum der Glaube an ein höchstes Wesen, das Vergeltung übt und auszugleichen trachtet, was in seiner Zeit die Menschen noch nicht ausgleichen konnten, daher war dieser Glaube für die erste Republik eine Notwendigkeit.
Diese Zeit geht vorüber. Ein Kulturfortschritt wird den anderen hervorrufen, die Menschheit wird sich immer neue Aufgaben stellen und wird sie zu einer Kulturentwicklung führen, die Nationalitätenhaß, Kriege, Religionsstreit und ähnliche Rückständigkeiten nicht mehr kennt.
Fußnoten von August Bebel
(1)Das nationale Interesse und das Menschheitsinteresse stehen sich heute feindlich gegenüber. Auf einer höheren Stufe der Zivilisation werden einst beide Interessen zusammenfallen und eins werden." v. Thünen, Der isolierte Staat. <=