Soll der Faschismus wirklich siegen?
Deutschland, der Schlüssel zur internationalen Lage

Leo Trotzki

26. November 1931

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Mit den folgenden Zeilen soll, wenigstens in großen Zügen, die politische Weltlage umrissen werden, wie sie sich als Resultat der grundlegenden Widersprüche des Verfallskapitalismus, die durch die furchtbare Handels-, Industrie- und Finanzkrise kompliziert und verschärft werden, gegenwärtig abzeichnet. Die nachstehenden, flüchtig skizzierten Erwägungen umfassen bei weitem nicht alle Länder und alle Fragen; darum müssen wir gemeinsam daran weiterarbeiten.

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Die spanische Revolutionzu01 hat die allgemeinen politischen Voraussetzungen für den unmittelbaren Machtkampf des Proletariats geschaffen. Die syndikalistischen Traditionen des spanischen Proletariats haben sich sogleich als eines der hauptsächlichsten Hindernisse auf dem Entwicklungsweg der Revolution erwiesen. Die Komintern wurde von den Ereignissen überrascht. Die beim Einsetzen der Revolution vollkommen machtlose Kommunistische Partei bezog in allen Grundfragen eine falsche Position. Die spanische Erfahrung hat gezeigt - wir rufen das nochmals in Erinnerung -, welch furchtbare Waffe zur Desorientierung des revolutionären Bewußtseins der fortgeschrittenen Arbeiter die gegenwärtige Kominternführung darstellt! Das außerordentliche Zurückbleiben der proletarischen Avantgarde hinter den Ereignissen, die politisch zersplitterte Art des heroischen Kampfes der Arbeitermassen, die faktische Versicherung auf Gegenseitigkeit zwischen Anarchosyndikalismus und Sozialdemokratie - das sind die grundlegenden politischen Bedingungen, die der republikanischen Bourgeoisie im Bunde mit der Sozialdemokratie die Möglichkeit gaben, einen Repressionsapparat aufzurichten und, indem sie den aufständischen Massen Schlag auf Schlag versetzt, in den Händen der Regierung eine bedeutende politische Macht zu konzentrieren.

An diesem Beispiel sehen wir, daß der Faschismus durchaus nicht das einzige Mittel der Bourgeoisie im Kampf gegen die revolutionären Massen darstellt. Das augenblicklich in Spanien herrschende Regime entspricht am meisten der Kerenskiade, d.h. der letzten (oder 'vorletzten') 'linken' Regierung, die die Bourgeoisie allein im Kampf gegen die Revolution aufrichten kann. Aber eine derartige Regierung bedeutet durchaus nicht unbedingt Schwäche und Entkräftung. Beim Fehlen einer starken revolutionären Partei des Proletariats kann eine Kombination von Halbreformen, linken Phrasen, noch linkeren Gesten und Repressionen für die Bourgeoisie nützlicher sein als der Faschismus.

Unnötig zu sagen, daß die spanische Revolution noch nicht abgeschlossen ist. Sie hat ihre elementarsten Aufgaben nicht gelöst (Agrar-, Kirchen-, nationale Frage) und die revolutionären Hilfsquellen der Volksmassen noch längst nicht erschöpft. Die bürgerliche Revolution wird mehr, als sie gegeben hat, nicht geben können. In bezug auf die proletarische Revolution kann die gegenwärtige innere Lage in Spanien vorrevolutionär genannt werden, aber nicht mehr als das. Es ist höchst wahrscheinlich, daß die fortschreitende Entwicklung der spanischen Revolution einen mehr oder minder schleppenden Charakter annehmen wird. Damit eröffnet der historische Prozeß dem spanischen Kommunismus gleichsam neuen Kredit.

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Die Lage Englands kann man ebenfalls mit gewisser Berechtigung vorrevolutionär nennen, wenn man sich nur klar darüber einigt, daß zwischen der vorrevolutionären und der unmittelbar revolutionären Situation eine Periode von mehreren Jahren verstreichen kann, mit Teilfluten und -ebben. Englands ökonomische Lage ist aufs Äußerste zugespitzt. Doch der politische Überbau dieses erzkonservativen Landes bleibt außerordentlich hinter den Veränderungen der ökonomischen Basis zurück. Bevor sie neue politische Formen und Methoden ausprobieren, versuchen die Klassen der englischen Nation wieder und wieder, die alten Vorratskammern durchzustöbern, die alten Kleider von Großvater und Großmutter zu wenden. Tatsache ist, daß in England trotz des furchtbaren nationalen Verfalls immer noch weder eine bedeutende revolutionäre Partei besteht noch ihr Antipode - die faschistische Partei. Dank dieses Umstandes erhielt die Bourgeoisie die Möglichkeit, die Mehrheit des Volkes unter dem »nationalen« Banner zu mobilisieren, d.h. unter den hohlsten aller möglichen Parolen. In der vorrevolutionären Situation hat der beschränkteste Konservatismus die überwältigende politische Vorherrschaft erlangt. Zur Anpassung des politischen Überbaus an die reale wirtschaftliche und internationale Lage des Landes wird aller Wahrscheinlichkeit nach mehr als ein Monat, vielleicht mehr als ein Jahr erforderlich sein.

Es besteht kein Grund zur Annahme, daß der Zusammenbruch des »nationalen« Blocks - und dieser Zusammenbruch ist in verhältnismäßig naher Zukunft unvermeidlich - unvermittelt entweder zur proletarischen Revolution (eine andere Revolution kann es selbstverständlich in England nicht geben) oder zum Sieg des »Faschismus« führen wird. Im Gegenteil, es ist mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß England auf dem Weg zur revolutionären Lösung noch durch eine lange Periode der radikaldemokratisch-sozialpazifistischen Demagogie, der Lloyd-Georgiade und des Labourismus hindurchgehen wird. Man kann also damit rechnen, daß Englands historische Entwicklung dem britischen Kommunismus noch eine bedeutende Frist einräumen wird, sich bis zu dem Augenblick, da die Entscheidung naherückt, in die wirkliche Partei des Proletariats zu verwandeln. Daraus ergibt sich allerdings nicht, daß man auch weiterhin mit verderblichen Experimenten und zentristischen Zickzacks Zeit verlieren darf. In der gegenwärtigen Weltsituation ist Zeit der kostbarste Rohstoff.

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Frankreich, das die Weisen der Komintern vor eineinhalb Jahren »in die vorderste Reihe des revolutionären Aufschwungs« gestellt haben, ist in Wirklichkeit das konservativste Land nicht nur Europas, sondern wohl der ganzen Welt. Die relative Stabilität des kapitalistischen Regimes in Frankreich wurzelt in bedeutendem Maße in seiner Rückständigkeit. Die Krise äußert sich hier schwächer als in anderen Ländern. Auf finanziellem Gebiet will Paris sogar New York gleichkommen. Der gegenwärtige finanzielle »Wohlstand« Frankreichs stammt unmittelbar aus dem Versailler Raubzug. Aber gerade der Versailler Frieden birgt die größte Gefahr für das ganze Regime der französischen Republik. Zwischen Frankreichs Bevölkerungszahl, seinen Produktivkräften und dem Nationaleinkommen einerseits und seiner gegenwärtigen internationalen Lage anderseits besteht ein schreiender Widerspruch, der unvermeidlich zur Explosion führen wird. Um seine kurzlebige Hegemonie zu wahren, ist Frankreich, das »nationale« wie das radikalsozialistische, gezwungen, sich in aller Welt auf die reaktionärsten Kräfte zu stützen, auf die ältesten Formen der Ausbeutung, die abscheuliche rumänische Clique, das ruchlose Pilsudski-Regime, auf die Diktatur der jugoslawischen Soldateska; es muß die Zerstückelung der deutschen Nation (Deutschland und Österreich) aufrechterhalten, den polnischen Korridor in Deutschland belassen, der japanischen Intervention in der Mandschurei Beihilfe leisten, die japanische Militärclique gegen die UdSSR stoßen, als Hauptfeind der Befreiungsbewegung der Kolonialvölker auftreten usw., usw. Der Widerspruch zwischen Frankreichs zweitrangiger Rolle in der Weltwirtschaft und seinen ungeheuerlichen Vorrechten und Ansprüchen in der Weltpolitik wird von Monat zu Monat deutlicher werden, Gefahren über Gefahren häufen, die innere Stabilität erschüttern, bei den Volksmassen Sorge und Unzufriedenheit wecken und immer tiefgehendere Veränderungen der öffentlichen Meinung hervorrufen. Diese Prozesse werden sich zweifellos schon bei den kommenden Parlamentswahlen geltend machen.

Andererseits zwingt aber alles zu der Annahme, daß, sofern sich nicht große Ereignisse außerhalb des Landes vollziehen (Sieg der Revolution in Deutschland oder das Gegenteil: Sieg des Faschismus), die Entwicklung der inneren Verhältnisse Frankreichs in der nächsten Periode verhältnismäßig »normal« verlaufen wird; daraus erwächst dem Kommunismus die Möglichkeit, bis zum Eintritt einer vorrevolutionären oder revolutionären Situation eine bedeutende Vorbereitungsperiode zu seiner Festigung ausnützen zu können.

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In den Vereinigten Staaten, dem mächtigsten kapitalistischen Land, hat die gegenwärtige Krise mit größter Gewalt erschreckende soziale Widersprüche bloßgelegt. Von einer nie dagewesenen Periode der Prosperität, die die ganze Welt durch ein Feuerwerk von Millionen und Milliarden in Erstaunen setzte, sind die Vereinigten Staaten mit einem Mal in eine Periode der Millionen-Arbeitslosigkeit, des schrecklichsten physischen Elends der Arbeitenden eingetreten. Eine derartige gigantische soziale Erschütterung kann nicht spurlos vorübergehen an der politischen Entwicklung des Landes. Heute läßt sich zumindest aus der Ferne schwer irgendeine bedeutende Radikalisierung der amerikanischen Arbeitermassen feststellen. Man kann annehmen, daß die Massen selbst durch den katastrophalen Umschwung der Konjunktur so sehr überrascht sind, so niedergedrückt und betäubt durch Arbeitslosigkeit oder die Angst vor Arbeitslosigkeit, daß sie noch nicht die elementarsten Folgerungen aus dem über sie hereingebrochenen Elend zu ziehen vermochten. Dazu ist eine gewisse Zeit erforderlich. Aber die Folgerungen werden gezogen werden. Die gewaltige ökonomische Krise, die den Charakter einer sozialen Krise angenommen hat, wird unvermeidlich in eine Krise des politischen Bewußtseins der amerikanischen Arbeiterklasse umschlagen. Es ist durchaus möglich, daß die revolutionäre Radikalisierung der breiten Arbeiterschichten sich nicht in der Periode des größten Konjunkturniedergangs äußern wird, sondern erst während der Wendung zu Belebung und Aufschwung. So oder so, im Leben des amerikanischen Proletariats und des ganzen Volkes wird die gegenwärtige Krise eine neue Epoche eröffnen. Ernste Verschiebungen und Raufereien unter den regierenden Parteien sind zu erwarten, neue Versuche zur Schaffung einer dritten Partei usw. Die Gewerkschaftsbewegung wird bei den ersten Anzeichen des Konjunkturumschwungs nach oben das heftige Bedürfnis haben, sich den Klauen der niederträchtigen Bürokratie der Amerikanischen Arbeitsunion zu entwinden. Zugleich erschließen sich dem Kommunismus unbegrenzte Möglichkeiten.

In der Vergangenheit hat Amerika mehr als einmal stürmische Ausbrüche revolutionärer oder halbrevolutionärer Bewegungen gekannt. Sie sind jedesmal rasch verloschen, weil Amerika jedesmal in eine neue Phase stürmischen Aufschwungs eintrat und weil die Bewegungen durch groben Empirismus und theoretische Hilflosigkeit charakterisiert waren. Diese beiden Bedingungen gehören der Vergangenheit an. Ein neuer ökonomischer Aufschwung (und man kann ihn nicht im vorhinein für ausgeschlossen halten) wird sich nicht auf das innere »Gleichgewicht«, sondern auf das gegenwärtige Chaos der Weltwirtschaft stützen müssen. Der amerikanische Kapitalismus ist in die Epoche eines ungeheuerlichen Imperialismus eingetreten, eines beständigen Wachstums der Rüstung, der Einmischung in die Angelegenheiten der ganzen Welt, militärischer Konflikte und Erschütterungen. Andererseits: in Gestalt des Kommunismus besitzen die Massen des amerikanischen Proletariats - besser: unter der Bedingung einer richtigen Politik können sie statt des alten Gemisches von Empirie, Mystik und Scharlatanerie eine wissenschaftlich begründete Doktrin besitzen, die auf der Höhe der Ereignisse steht. Diese grundlegenden Veränderungen gestatten, mit Gewißheit vorauszusehen, daß der unvermeidliche und verhältnismäßig rasche revolutionäre Umschwung im amerikanischen Proletariat nicht mehr das frühere, leicht verlöschende »Strohfeuer« sein wird, sondern der Beginn eines wirklichen revolutionären Brandes. Der Kommunismus kann in Amerika mit Sicherheit einer großen Zukunft entgegengehen.

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Das zaristische Abenteuer in der Mandschurei hat zum russisch-japanischen Krieg geführt, der Krieg - zur Revolution von 1905. Das jetzige japanische Abenteuer in der Mandschurei kann zur Revolution in Japan führen.

Das feudal-militaristische Regime dieses Landes konnte zu Beginn des Jahrhunderts noch mit einigem Erfolg den Interessen des jungen japanischen Kapitalismus dienen. Doch im Lauf des letzten Vierteljahrhunderts trug die kapitalistische Entwicklung eine außerordentliche Zersetzung in die alten sozialen und politischen Formen hinein. Japan ist seit jener Zeit schon einige Male auf die Revolution zugegangen. Aber es fehlte eine starke revolutionäre Klasse, um die von der Entwicklung gestellten Aufgaben zu erfüllen. Das mandschurische Abenteuer kann die revolutionäre Katastrophe des japanischen Regimes beschleunigen.

Das heutige China, so geschwächt es durch die Diktatur der Kuomintang-Cliquen auch sein mag, unterscheidet sich tief von jenem China, das Japan im Gefolge der europäischen Staaten in der Vergangenheit vergewaltigt hat. Chinas Kräfte reichen nicht aus, um die japanischen Expeditionstruppen sofort herauszudrängen, aber das nationale Bewußtsein und die Aktivität des chinesischen Volkes sind außerordentlich gewachsen; Hunderttausende, Millionen Chinesen haben eine militärische Schulung durchgemacht. Die Chinesen werden immer neue und neue Armeen improvisieren. Die Japaner werden sich belagert fühlen. Die Eisenbahnen werden weitaus mehr Kriegs- als Wirtschaftszwecken dienen. Man wird immer neue und neue Truppen entsenden müssen. Die sich ausdehnende mandschurische Expedition wird Japans Wirtschaftsorganismus zu erschöpfen beginnen, die Unzufriedenheit innerhalb des Landes vergrößern, die Widersprüche verschärfen und so die revolutionäre Krise beschleunigen.

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In China wird die Notwendigkeit entschlossener Abwehr des imperialistischen Einbruchs ebenfalls ernste innenpolitische Folgen nach sich ziehen. Das Kuomintang-Regime ist aus der nationalrevolutionären Massenbewegung entstanden, die von den bürgerlichen Militaristen (unter Beistand der stalinistischen Bürokratie) ausgenutzt und erdrosselt wurde. Gerade deshalb ist das gegenwärtige Regime - widerspruchsvoll und schwankend - unfähig. Die Initiative zu einem revolutionären Krieg zu ergreifen. Die Notwendigkeit der Abwehr der japanischen Gewalttäter wird sich immer mehr gegen das Kuomintang-Regime kehren und die revolutionären Stimmungen der Massen nähren. Unter diesen Bedingungen kann die proletarische Avantgarde bei richtiger Politik das nachholen, was im Laufe der Jahre 1924-27 so tragisch versäumt worden ist.

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Die jetzigen Ereignisse in der Mandschurei zeigen vor allem, wie naiv jene Herren waren, die von der Sowjetregierung die Rückgabe der Ostchinesischen Eisenbahn an China verlangten. Das hätte geheißen, sie freiwillig Japan auszuliefern, in dessen Händen die Bahn eine wichtige Waffe gegen China wie gegen die UdSSR geworden wäre. Wenn die Militärcliquen Japans bisher irgend etwas von der Intervention zurückgehalten hat und sie noch jetzt in den Schranken der Vorsicht hält, so ist es die Tatsache, daß die Ostchinesische Eisenbahn Eigentum der Sowjets ist.

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Kann aber das mandschurische Abenteuer nicht zum Krieg mit der UdSSR führen? Diese Möglichkeit ist natürlich auch bei klügster und vorsichtigster Politik der Sowjetregierung nicht ausgeschlossen. Die inneren Widersprüche des feudal-kapitalistischen Japan haben seine Regierung offenkundig aus dem Gleichgewicht gebracht. An Aufwieglern (Frankreich) herrscht kein Mangel. Und aus der historischen Erfahrung des Zarismus im Fernen Osten wissen wir, wozu eine aus dem Gleichgewicht geratene militär-bürokratische Monarchie imstande ist.

Der im Fernen Osten sich entspinnende Kampf geht natürlich nicht um eine Eisenbahn, sondern um das Schicksal ganz Chinas. In diesem gigantischen historischen Kampf kann die Sowjetregierung nicht neutral bleiben, nicht die gleiche Haltung zu China wie zu Japan einnehmen. Sie ist verpflichtet, ganz und gar auf Seiten des chinesischen Volkes zu stehen. Nur unerschütterliche Parteinahme der Sowjetregierung für den Befreiungskampf der unterdrückten Völker kann die Sowjetunion wirklich von Osten her schützen gegen die Angriffe Japans, Frankreichs und der Vereinigten Staaten.

In welchen Formen die Sowjetregierung in der kommenden Periode den Kampf des chinesischen Volkes unterstützen wird, hängt von den konkreten historischen Umständen ab. Doch wenn es unsinnig gewesen wäre, die Ostchinesische Bahn freiwillig Japan auszuliefern, so wäre es ebenso unsinnig, die gesamte Politik im Fernen Osten der Ostchinesischen Bahn unterzuordnen. Vieles spricht dafür, daß das Vorgehen der japanischen Militärclique in dieser Frage bewußt provokatorischen Charakter trägt. Hinter dieser Provokation stehen unmittelbar die herrschenden Kreise Frankreichs. Ziel der Provokation ist, die Sowjetunion im Osten zu binden. Umso mehr Zurückhaltung und Umsicht muß die Sowjetregierung aufbringen.

Die spezifischen Bedingungen des Ostens: gewaltige Flächen, unzählige Menschenmassen, ökonomische Rückständigkeit - prägen allen Prozessen einen langsamen, schleppenden, schleichenden Charakter auf. Eine unmittelbare oder akute Gefahr droht der Sowjetunion vom Osten her jedenfalls nicht. Die wichtigsten Ereignisse werden sich in der nächsten Zeit in Europa abspielen. Hier können sich große Möglichkeiten eröffnen, von hier drohen aber auch große Gefahren. Vorderhand hat nur Japan im Fernen Osten die Hände gebunden. Die Sowjetunion muß sich die Hände freihalten.

9

Vor dem keineswegs friedlichen weltpolitischen Hintergrund hebt sich grell die Lage Deutschlands ab. Die ökonomischen und politischen Widersprüche haben hier eine unerhörte Schärfe erreicht. Die Entscheidung rückt näher. Es kommt der Augenblick, wo die vorrevolutionäre Situation umschlagen muß in die revolutionäre oder - die konterrevolutionäre. In welcher Richtung sich die Lösung der deutschen Krise entwickeln wird, davon wird auf viele Jahre hinaus nicht nur das Schicksal Deutschlands, sondern das Schicksal Europas, das Schicksal der ganzen Welt abhängen.

Der sozialistische Aufbau in der UdSSR, der Verlauf der spanischen Revolution, die Entwicklung der vorrevolutionären Situation in England, die Zukunft des französischen Imperialismus - all das läuft direkt und unmittelbar auf die Frage hinaus, wer im Lauf der nächsten Monate in Deutschland siegen wird: Kommunismus oder Faschismus?

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Nach den vorjährigen Reichstagswahlen behauptete die Leitung der deutschen Kommunistischen Partei, der Faschismus habe seinen Kulminationspunkt erreicht, von nun an werde er rasch verfallen und der proletarischen Revolution die Bahn freigeben.zu10 Die Linke Kommunistische Opposition (Bolschewiki-Leninisten) verspottete damals solchen leichtfertigen Optimismus. Der Faschismus ist ein Produkt zweier Faktoren: der scharfen sozialen Krise und der revolutionären Schwäche des deutschen Proletariats. Die Schwäche des Proletariats setzt sich ihrerseits aus zwei Elementen zusammen: aus der besonderen historischen Rolle der Sozialdemokratie, dieser allmächtigen kapitalistischen Agentur in den Reihen des Proletariats, und aus der Unfähigkeit der zentristischen Leitung der Kommunistischen Partei, die Arbeiter unter dem Banner der Revolution zu vereinigen.

Der subjektive Faktor ist für uns die Kommunistische Partei, denn die Sozialdemokratie ist ein objektives Hindernis, das man beseitigen muß. Der Faschismus zerfiele tatsächlich in Stücke, wenn es die Kommunistische Partei verstünde, die Arbeiter zu vereinigen und sie allein dadurch in einen machtvollen, revolutionären Magneten für alle unterdrückten Massen des Volkes zu verwandeln. Aber die Politik der Kommunistischen Partei seit den Septemberwahlen hat bloß ihre Unzulänglichkeit vertieft: das eitle Geschwätz über »Sozialfaschismus«, das Kokettieren mit dem Chauvinismus, die Nachahmung des echten Faschismus zum Zwecke marktschreierischer Konkurrenz, das verbrecherische Abenteuer des »Roten Volksentscheids« - all das hindert die Kommunistische Partei, zum Führer des Proletariats und des Volkes zu werden. Sie hat in den letzten Monaten nur jene Elemente unter ihr Banner gebracht, die die große Krise fast gewaltsam in ihre Reihen gestoßen hat. Die Sozialdemokratie hat, dank der Hilfe der Kommunistischen Partei, trotz der für sie katastrophalen politischen Situation die Hauptmasse ihrer Anhänger bewahrt und ist bisher mit zwar bedeutenden, aber zweitrangigen Verlusten davongekommen. Der Faschismus hat, entgegen der kürzlichen Prahlerei Thälmanns, Remmeles und anderer und in voller Übereinstimmung mit der Prognose der Bolschewiki-Leninisten, seit September des vergangenen Jahres einen neuen, beträchtlichen Sprung vorwärts gemacht. Die Kominternführung war nicht imstande, irgend etwas vorauszusehen oder zu verhindern. Sie registriert nur die Niederlagen. Ihre Resolutionen und übrigen Dokumente sind - leider - nicht mehr als Photographien der Rückseite des geschichtlichen Prozesses.

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Die Stunde der Entscheidung ist nahe herangerückt. Die Komintern aber will sich vom tatsächlichen Charakter der gegenwärtigen Weltlage keine Rechenschaft ablegen, - sie fürchtet sich davor. Das Präsidium der Komintern zieht sich mit hohlen Agitationsblättchen aus der Affäre. Die führende Partei der Komintern, die russische KP, hat keinerlei Stellung bezogen. Als hätten die »Führer des Weltproletariats« den Mund voll Wasser genommen! Sie gedenken zu schweigen. Sie gehen daran, sich zu verschanzen. Sie wollen abwarten. Lenins Politik haben sie durch Vogel-Strauß-Politik ersetzt. Wir nähern uns einem jener Knotenpunkte der Geschichte, wo die Komintern - nach einer Reihe großer aber immer noch »partieller« Fehler, die ihre im ersten Jahrfünft ihres Bestehens gesammelten Kräfte untergraben und erschüttert haben - riskiert, den kapitalen, verhängnisvollen Fehler zu begehen, der die Komintern als revolutionären Faktor für eine ganze historische Epoche von der politischen Karte hinwegfegen kann. Mögen Blinde und Memmen das nicht bemerken. Mögen Verleumder und gemietete Journalisten uns des Bundes mit der Konterrevolution anklagen! Konterrevolution ist ja bekanntlich keineswegs das, was den Weltimperialismus festigt, sondern das, was die Verdauung des kommunistischen Funktionärs stört. Die Bolschewiki-Leninisten kann Verleumdung nicht schrecken und wird sie nicht von der Erfüllung ihrer revolutionären Pflicht abhalten. Nichts darf verschwiegen, nichts abgeschwächt werden. Man muß den fortgeschrittenen Arbeitern laut und vernehmlich sagen: Nach der »dritten Periode« des Abenteurertums und der Prahlerei ist schon die »vierte Periode« angebrochen - die der Panik und der Kapitulation.

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Übersetzt man das Schweigen der jetzigen Führer der russischen KP in artikulierte Sprache, so besagt es: »Laßt uns in Frieden!« Die inneren Schwierigkeiten der UdSSR sind außerordentlich groß. Die unregulierten ökonomischen und sozialen Widersprüche verschärfen sich. Die Demoralisierung des Apparats, das unvermeidliche Produkt eines plebiszitären Regimes, hat wahrhaft bedrohliche Ausmaße angenommen. Die politischen Beziehungen, vor allem die Beziehungen innerhalb der Partei, die Beziehungen zwischen dem demoralisierten Apparat und der zersplitterten Masse, sind aufs äußerste angespannt. Alle Weisheit der Bürokraten liegt im Warten, im Aufschieben. Die Lage in Deutschland droht sich offensichtlich in heftigen Erschütterungen zu entladen. Aber gerade Erschütterungen fürchtet der stalinistische Apparat über alles. »Laßt uns in Frieden! Laßt uns aus den schlimmsten inneren Widersprüchen herauskommen! Und dann... wird man sehen.« Das ist die Stimmung bei den Spitzen der Stalinschen Fraktion. Das verbirgt sich hinter dem skandalösen Schweigen der »Führer« in einem Moment, wo ihre elementarste revolutionäre Pflicht darin besteht, sich klar und deutlich auszusprechen.

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Es ist nicht verwunderlich, daß das verräterische Schweigen der Moskauer Leitung bei den Berliner Führern Panik ausgelöst hat. Jetzt, wo man sich vorbereiten muß, die Massen in den Entscheidungskampf zu führen, zeigt die Leitung der deutschen Kommunistischen Partei Verwirrung, dreht und windet sich mit Phrasen durch. Diese Leute sind nicht gewöhnt, in eigener Verantwortung zu handeln. Sie sinnen jetzt vor allem darüber nach, ob sich nicht irgendwie beweisen ließe, daß der »Marxismus-Leninismus« fordert, sich vor dem Kampf zu drücken.

Eine komplette Theorie dafür haben sie scheinbar noch nicht geschaffen. Aber sie liegt schon in der Luft. Sie wird von Mund zu Mund getragen und schimmert in Artikeln und Reden durch. Der Sinn dieser Theorie ist folgender: Der Faschismus wächst unaufhaltsam; sein Sieg ist ohnehin unvermeidlich; statt sich »blind« in den Kampf zu stürzen und zerschlagen zu lassen, ist es besser, vorsichtig zurückzuweichen, dem Faschismus die Möglichkeit zu geben, die Macht zu ergreifen und sich zu kompromittieren. Dann - oh, dann! - werden wir zeigen, was wir wert sind.

Auf Abenteurertum und Leichtsinn folgen, nach den Gesetzen der politischen Psychologie, Kniefall und Kapitulation. Der Sieg der Faschisten, den man noch vor einem Jahr für unmöglich hielt, gilt heute schon als sicher.

Irgendein Kuusinen, den hinter den Kulissen irgendein Radek inspiriert, bereitet für Stalin die geniale strategische Formel vor: rechtzeitig zurückweichen, die revolutionären Truppen aus der Gefechtszone herausführen, dem Faschismus eine Falle stellen in Form ... der Staatsmacht.zu13

Würde diese Theorie von der deutschen Kommunistischen Partei akzeptiert, würde sie ihren Kurs in den nächsten Monaten bestimmen, so wäre das seitens der Komintern ein Verrat von nicht geringerem historischen Ausmaß als der Verrat der Sozialdemokratie vom 4. August 1914. Die Folgen freilich wären heute noch weitaus schrecklicher.

Es ist Pflicht der Linken Opposition, Alarm zu schlagen: Die Leitung der Komintern führt das deutsche Proletariat in eine gewaltige Katastrophe, in die panische Kapitulation vor dem Faschismus!

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Die Machtergreifung der deutschen »Nationalsozialisten« würde vor allem die Vernichtung der Elite des deutschen Proletariats nach sich ziehen, die Zerstörung seiner Organisationen, den Verlust seines Selbstvertrauens und des Glaubens an seine Zukunft. Entsprechend der weitaus größeren Reife und Schärfe der sozialen Gegensätze in Deutschland würde sich die Höllenarbeit des italienischen Faschismus wahrscheinlich als eine unbedeutende, beinahe humane Erfahrung ausnehmen im Vergleich zur Arbeit des deutschen Nationalsozialismus.

Den Rückzug antreten, sagt Ihr gestrigen Propheten der »dritten Periode«? Führer und Institutionen können zurückweichen. Einzelne Personen können sich verbergen. Aber die Arbeiterklasse wird sich vor dem Faschismus nicht zurückziehen, nirgends sich verbergen können. Hält man wirklich das Ungeheuerliche und Unwahrscheinliche für möglich, daß die Partei tatsächlich dem Kampf ausweichen und damit das Proletariat auf Gnade und Ungnade seinem Todfeind ausliefern wird, so hieße das: die grausamen Kämpfe würden nicht vor, sondern nach der faschistischen Machtergreifung losbrechen, das heißt: unter für den Faschismus zehnmal günstigeren Bedingungen als heute. Der Kampf des von der eigenen Führung verratenen, überraschten, desorientierten, verzweifelten Proletariats gegen das faschistische Regime würde sich in eine Reihe furchtbarer, blutiger und auswegloser Zuckungen verwandeln. Zehn proletarische Aufstände, zehn Niederlagen, eine nach der anderen, könnten die deutsche Arbeiterklasse nicht so verbluten lassen und schwächen wie ein Zurückweichen vor dem Faschismus jetzt, wo erst die Frage entschieden werden muß, wer Herr im Hause Deutschland sein wird.

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Noch ist der Faschismus nicht an der Macht, noch ist ihm der Weg nicht offen. Die Führer des Faschismus fürchten das Risiko noch: sie begreifen, daß der Einsatz zu groß ist, daß es um Kopf und Kragen geht. Unter diesen Umständen können Kapitulationsstimmungen bei der kommunistischen Führung die Aufgabe nur unerwartet vereinfachen und erleichtern.

Augenblicklich fürchten sogar einflußreiche Kreise der Bourgeoisie das faschistische Experiment, weil sie keine Erschütterungen, keinen langen und furchtbaren Bürgerkrieg wünschen. Andererseits würde die Kapitulationspolitik der Kommunistischen Partei, die dem Faschismus den Weg zur Macht öffnet, die Mittelklassen, die noch schwankenden Schichten des Kleinbürgertums und selbst bedeutende Schichten des Proletariats auf die Seite des Faschismus stoßen.

Selbstverständlich wird der siegreiche Faschismus irgendwann einmal den objektiven Widersprüchen und seiner eigenen Unzulänglichkeit zum Opfer fallen. Aber unmittelbar, für eine absehbare Zukunft, für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre würde der Sieg des Faschismus in Deutschland einen Bruch in der Entwicklung der revolutionären Tradition bedeuten, den Zusammenbruch der Komintern, den Triumph des Weltimperialismus in seiner abscheulichsten und blutgierigsten Form.

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Der Sieg des Faschismus in Deutschland würde unvermeidlich einen Krieg gegen die UdSSR nach sich ziehen.

Es wäre in der Tat ausgesprochener politischer Stumpfsinn, zu glauben, daß die an die Macht gekommenen deutschen Nationalsozialisten mit dem Krieg gegen Frankreich oder auch nur gegen Polen begönnen. Der unvermeidliche Bürgerkrieg gegen das deutsche Proletariat wird den Faschismus in der Außenpolitik für die gesamte erste Periode seiner Herrschaft an Händen und Füßen binden. Hitler wird Pilsudski ebenso brauchen wie Pilsudski Hitler. Beide werden gleichermaßen Werkzeuge Frankreichs sein. Fürchtet der französische Bourgeoisie augenblicklich die Machtergreifung der deutschen Faschisten als einen Sprung ins Ungewisse - so wird am Tage von Hitlers Sieg die französische Reaktion, die »nationale« wie die radikalsozialistische, ganz und gar auf den Faschismus setzen.

Keine der »normalen« bürgerlichen Parlamentsregierungen kann augenblicklich einen Krieg gegen die UdSSR riskieren: das könnte unabsehbare innere Verwicklungen mit sich bringen. Wenn Hitler aber an die Macht kommt, wenn er anschließend die Avantgarde der deutschen Arbeiter vernichtet, auf Jahre hinaus das ganze Proletariat zerstäubt und demoralisiert, wäre die faschistische Regierung als einzige zu einem Krieg gegen die UdSSR imstande. Selbstverständlich wird sie dabei in gemeinsamer Front mit Polen, Rumänien und den anderen Randstaaten vorgehen und auch mit Japan im Fernen Osten. Bei diesem Feldzug wäre das Hitlerregime nur Vollstreckungsorgan des gesamten Weltkapitalismus. Clemenceau, Millerand, Lloyd George, Wilson konnten mit der Sowjetregierung nicht unmittelbar Krieg führen, aber sie konnten drei Jahre lang die Armeen Koltschaks, Denikins und Wrangels unterstützen. Hitler würde im Fall seines Sieges zum Ober-Wrangel der Weltbourgeoisie.

Es ist unnütz, ja sogar unmöglich, jetzt zu raten, wie dies gigantische Duell ausgehen würde. Es ist aber vollkommen klar: bräche der Krieg der Weltbourgeoisie gegen die Sowjets nach der Machtergreifung der Faschisten in Deutschland aus, so hätte das für die UdSSR furchtbare Isolierung und einen Kampf auf Leben und Tod unter den schwierigsten und gefährlichsten Bedingungen zur Folge. Die Zerschlagung des deutschen Proletariats durch den Faschismus würde mindestens bereits zur Hälfte den Zusammenbruch der Sowjetrepublik einschließen.

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Doch bevor die Frage sich auf den Schlachtfeldern Europas stellt, muß sie in Deutschland entschieden werden. Daher sagen wir, daß sich in Deutschland der Schlüssel zur internationalen Lage befindet. In wessen Händen? Vorläufig noch in den Händen der Kommunistischen Partei. Noch hat sie ihn nicht fallen lassen. Aber er kann ihr entgleiten. Die Parteiführung stößt sie auf diesen Weg.

Jeder, der den »strategischen Rückzug« predigt, d.h. die Kapitulation, jeder, der solche Predigt duldet, ist ein Verräter. Die Propagandisten des Rückzugs vor den Faschisten müssen als unbewußte Agenten des Feindes in den Reihen des Proletariats angesehen werden.

Es ist die elementare revolutionäre Pflicht der deutschen Kommunistischen Partei, auszusprechen, daß der Faschismus nur durch unbarmherzigen, vernichtenden Bürgerkrieg auf Leben und Tod zur Macht kommen kann. Das müssen vor allem die Arbeiter-Kommunisten wissen. Das müssen die sozialdemokratischen Arbeiter wissen, die Parteilosen, das ganze Proletariat. Das muß beizeiten die Rote Armee wissen.

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Aber ist der Kampf nicht wirklich hoffnungslos? Im Jahre 1923 hat Brandler die Stärke des Faschismus ungeheuerlich überschätzt und damit die Kapitulation verdeckt. Die Folgen dieser Strategie trägt das Weltproletariat bis heute. Die historische Kapitulation der deutschen Kommunistischen Partei und der Komintern im Jahre 1923 war die Basis für den Aufstieg des Faschismus. Gegenwärtig stellt der deutsche Faschismus eine unermeßliche größere politische Kraft dar als vor acht Jahren. Wir haben die ganze Zeit über vor einer Unterschätzung der faschistischen Gefahr gewarnt, und es ist nicht unsere Sache, sie jetzt zu leugnen. Gerade deshalb können und müssen wir den deutschen revolutionären Arbeitern sagen: Eure Führer fallen wieder von einem Extrem ins andere.

Bisher liegt die Hauptkraft der Faschisten in der Zahl. Ja, sie bekommen viele Stimmen bei den Wahlen. Aber im sozialen Kampf entscheidet nicht der Stimmzettel. Die Hauptarmee des Faschismus bleibt immer noch das Kleinbürgertum und der neue Mittelstand: das kleine Handwerks- und Handelsvolk der Stadt, Beamte, Angestellte, technisches Personal, Intelligenz, heruntergekommene Bauern. Auf der Waage der Wahlstatistik wiegen tausend faschistische Stimmen ebenso viel wie tausend kommunistische. Aber auf der Waage des revolutionären Kampfes stellen tausend Arbeiter eines Großunternehmens eine hundertmal größere Kraft dar als tausend Beamte und Büroangestellte samt ihren Frauen und Schwiegermüttern. Die Hauptmasse der Faschisten besteht aus menschlichem Staub.

Die Sozialrevolutionäre waren in der russischen Revolution die Partei der meisten Stimmen. Für sie stimmte in der ersten Zeit alles, was nicht bewußter Bourgeois oder bewußter Arbeiter war. Selbst in der Konstituierenden Versammlung, also nach dem Oktoberumsturz, hatten die Sozialrevolutionäre die Mehrheit. Sie hielten sich daher für die große nationale Partei. Sie erwiesen sich als große nationale Null.

Wir denken nicht daran, russische Sozialrevolutionäre und deutsche Nationalsozialisten einander gleichzusetzen. Aber es gibt zweifellos ähnliche Züge bei beiden, die zur Klärung der hier behandelten Frage beitragen können. Die Sozialrevolutionäre waren die Partei der verworrenen Volkshoffnungen. Die Nationalsozialisten sind die Partei der nationalen Verzweiflung. Das Kleinbürgertum geht besonders leicht von Hoffnung zur Verzweiflung über und zieht einen Teil des Proletariats mit. Die Hauptmasse der Nationalsozialisten ist, wie bei den Sozialrevolutionären, menschlicher Staub.

19

Der Panik verfallen, vergessen die Unglücksstrategen die Hauptsache: die große soziale und kämpferische Überlegenheit des Proletariats. Seine Kräfte sind nicht verausgabt. Es ist nicht nur zum Kämpfen, sondern auch zum Siegen fähig. Die Geschichten über mutlose Stimmung in den Betrieben spiegeln in der Mehrzahl der Fälle die mutlose Stimmung der Beobachter selbst, der verwirrten Parteifunktionäre. Aber man muß auch in Betracht ziehen, daß die Arbeiter die verwickelte Lage und die Konfusion bei der Führung beunruhigen muß. Die Arbeiter verstehen, daß ein großer Kampf eine feste Führung erfordert. Nicht die Kraft des Faschismus und nicht die Notwendigkeit des grausamen Kampfes schrecken die Arbeiter. Sie beunruhigen die Unsicherheit und Wankelmütigkeit der Führung, die Schwankungen im entscheidendsten Augenblick. Von den Stimmungen der Bedrücktheit und Mutlosigkeit in den Betrieben wird keine Spur bleiben, sobald nur die Partei fest, klar und sicher ihre Stimme erhebt.

20

Kein Zweifel, die Faschisten haben wirkliche Kampfkader, erfahrene Sturmabteilungen. Das darf man nicht leicht nehmen: die »Offiziere« spielen auch in der Bürgerkriegsarmee eine große Rolle. Doch nicht die Offiziere entscheiden, sondern die Soldaten. Die Soldaten der proletarischen Armee aber sind denen der Hitler-Armee unvergleichlich überlegen, sie sind verläßlicher und ausdauernder.

Nach der Machteroberung wird der Faschismus leicht Soldaten finden. Mit Hilfe des Staatsapparates läßt sich eine Armee aus Bourgeoissöhnchen, Intellektuellen, Verwaltungsangestellten, demoralisierten Arbeitern, Lumpenproletariern usw. schaffen. Beispiel: der italienische Faschismus. Aber auch hier muß man sagen: eine ernste historische Erprobung der Kampfkraft der italienischen faschistischen Miliz hat noch nicht stattgefunden. Aber der deutsche Faschismus ist ja noch nicht an der Macht. Die Macht muß erst im Kampf mit dem Proletariat erobert werden.

Wird die Kommunistische Partei für diesen Kampf etwa schlechtere Kader als die Faschisten haben? Und kann man auch nur einen Augenblick annehmen, daß die deutschen Arbeiter, die machtvolle Produktions- und Transportmittel in Händen haben, die aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen eine Armee des Eisens, der Kohle, der Eisenbahnen, der Elektrizitätswerke bilden, im Entscheidungskampf nicht ihre unermeßliche Überlegenheit über Hitlers Menschenstaub zeigen werden?

Ein wichtiges Element der Stärke einer Partei und einer Klasse ist auch die Vorstellung, die sie sich vom Kräfteverhältnis im Lande machen. In jedem Krieg bemüht sich der Feind, eine übertriebene Vorstellung von seinen Kräften zu erwecken. Darin bestand eines der Geheimnisse der Napoleonischen Strategie. Prahlen kann Hitler jedenfalls nicht minder als Napoleon. Aber seine Aufschneiderei wird zu einem militärischen Faktor erst in dem Augenblick, wo die Kommunisten ihr Glauben schenken. Wichtiger als alles andere ist jetzt eine realistische Einschätzung der Kräfteverhältnisse. Worüber verfügen die Nationalsozialisten in den Betrieben, bei den Eisenbahnen, in der Armee; über wieviel organisierte und bewaffnete Offiziere? Eine klare Analyse der sozialen Zusammensetzung beider Lager, ständige und wachsame Berechnung der Kräfte - die sind Quellen des revolutionären Optimismus, der sich keine Illusionen macht.

Die Stärke der Nationalsozialisten liegt gegenwärtig nicht so sehr in ihrer eigenen Armee als in der Zersplitterung der Armee ihres Todfeindes. Aber gerade die Realität der faschistischen Gefahr, ihr bedrohliches Wachstum, das Bewußtsein der Notwendigkeit, sie um jeden Preis abzuwenden, muß unvermeidlich die Arbeiter dazu bringen, sich zur Selbstverteidigung zusammenzuschließen. Die Konzentration der proletarischen Kräfte wird sich umso rascher und erfolgreicher vollziehen, je mehr sich das Zentrum dieses Prozesses als verläßlich erweisen wird: die Kommunistische Partei. Der Schlüssel zur Situation liegt noch in ihren Händen. Wehe ihr, wenn sie ihn sich entgleiten läßt!

In den letzten Jahren haben die Funktionäre der Komintern bei jeder Gelegenheit, manchmal ganz unangebracht, über die der UdSSR unmittelbar drohende Kriegsgefahr großes Geschrei erhoben. Jetzt nimmt diese Gefahr realen Charakter und konkrete Umrisse an. Für jeden revolutionären Arbeiter muß zum Axiom werden: der faschistische Versuch zur Machtergreifung in Deutschland muß die Mobilisierung der Roten Armee nach sich ziehen. Für den proletarischen Staat wird es hier im unmittelbarsten Sinn um die revolutionäre Selbstverteidigung gehen. Deutschland ist nicht bloß Deutschland. Es ist das Herz Europas. Hitler ist nicht bloß Hitler. Er kandidiert für die Rolle eines Ober-Wrangel. Aber auch die Rote Armee ist nicht nur die Rote Armee. Sie ist eine Waffe der proletarischen Weltrevolution!

P.S.

Die Arbeit »Gegen den Nationalkommunismus« des Autors dieser Zeilen hat zweideutige Zustimmung in der sozialdemokratischen und demokratischen Presse gefunden. Es wäre nicht nur merkwürdig, sondern unnatürlich, wenn zur selben Zeit, wo der deutsche Faschismus so erfolgreich die gröbsten Fehler des deutschen Kommunismus ausnützt, die Sozialdemokraten nicht auch versuchten, die offene und scharfe Kritik dieser Fehler auszunützen.

Natürlich hat die stalinistische Bürokratie in Moskau wie in Berlin nach den Artikeln der sozialdemokratischen und demokratischen Presse über unsere Broschüre gehascht wie nach einem wertvollen Geschenk: Jetzt gibt es endlich ein wirkliches »corpus delicti« unserer Einheitsfront mit der Sozialdemokratie und der Bourgeoisie. Leute, die während der chinesischen Revolution Hand in Hand mit Tschiang Kai-schek gingen und im britischen Generalstreik mit Purcell, Citrin und Cook - das waren keine bloßen Artikel, sondern grandiose historische Ereignisse! - sind gezwungen, sich mit Freuden an Episoden der Zeitungspolemik zu klammern. Aber wir fürchten die Auseinandersetzung auch auf diesem Terrain nicht. Nur muß man nachdenken und nicht zetern, analysieren, statt zu schimpfen.

Vor allem stellen wir die Frage: Wem hat die unsinnige und verbrecherische Teilnahme der deutschen Kommunistischen Partei am faschistischen Volksentscheid geholfen? Die Ereignisse haben bereits eine unbestreitbare Antwort auf diese Frage gegeben: den Faschisten und ihnen allein. Gerade deshalb hat sich der Hauptinspirator dieses verbrecherischen Abenteuers feige der Vaterrechte begeben: in einer Rede vor verantwortlichen Parteiarbeitern in Moskau hat Stalin die Teilnahme am Volksentscheid verteidigt, sich aber dann besonnen und den Zeitungen nicht nur den Abdruck seiner Rede, sondern sogar deren Erwähnung untersagt.

Selbstverständlich, 'Vorwärts', 'Berliner Tageblatt', 'Wiener Arbeiterzeitung'zuPS - vor allem die letztere - zitieren unsere Broschüre im höchsten Maße unredlich. Aber kann man von der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Presse Aufrichtigkeit gegenüber den Ideen der proletarischen Revolution verlangen? Doch wir wollen von den Fälschungen absehen und auf die Anklagen der stalinistischen Funktionäre eingehen. Wir sind bereit, zuzugeben, daß die Sozialdemokratie, sofern sie sich vor dem Sieg der Faschisten fürchtet und damit die revolutionäre Unruhe der Arbeiter widerspiegelt, auch ein gewisses objektives Recht hat, unsere Kritik an den Stalinisten auszunützen, die den Faschisten einen ungeheuren Dienst erwiesen haben. Grundlage dieses ihres »Rechtes« ist nicht unsere Broschüre, sondern Eure Politik, o weise Strategen! Ihr sagt, wir hätten eine »Einheitsfront« mit Wels und Severing gebildet? Nur soweit, wie Ihr Euch in die Einheitsfront mit Hitler und seinen Schwarzhundert-Banden begeben habt. Und auch hier noch mit dem Unterschied, daß es bei Euch um eine gemeinsame Aktion ging, bei uns aber die Sache sich lediglich auf die zweideutige Ausnützung einiger Zitate durch den Gegner beschränkte.

Als Sokrates das philosophische Prinzip »Erkenne Dich selbst« aufstellte, hat er gewiß Thälmann, Neumann und Remmele im Auge gehabt.

Fußnoten

Anmerkungen von der Redaktion "Stimmen der Proletarischen Revolution"

zu01  Spanische Revolution:

nach dem Sturz der Diktatur von Primo de Rivera im Januar 1930, der seit Mitte September 1923 mit Unterstützung des Königs Alfons dem 13. (Alfonso XIII de España ... de Borbón y Austria-Lorena, genannt «el Africano», 1886-1941 ) über Spanien herrschte, und der kurzlebigen Regierung des Generals Berenguer (Januar 1930 - Februar 1931) ernannte der König den Admiral Juan Bautista Aznar zum Ministerpräsidenten. Anstatt ein neues Parlament wählen zu lassen, rief Azanr zu Kommunalwahlen am Sonntag, den 12. April 1931 auf, bei denen die republikanischen Parteien eine Mehrheit errangen. Am Vormittag des Dienstag, 14. April gab der König auf, nachdem ihm ein Militär erklärt hatte, daß er die republikanischen Demonstrationen nicht gewaltsam auflösen könne, weil die Soldaten den Befehl verweigerten, und machte sich dann auf nach Cartagena, um das Land per Schiff zu verlassen, ohne allerdings abzudanken. Am selben 14.4. wurde in mehreren Städten, Eíbar, Valencia, Barcelona und Madrid die republikanische Trikolore gehißt und die Zweite Republik ausgerufen (die erste dauerte von 1873-1874) , in Barcelona auch noch nachträglich der "Estat Català" (Catalanischer Staat), der Mitglied einer "Föderation der iberischen Völker" sein sollte. Am Abend konstituierte sich in Madrid das im vorigen Herbst gebildete Revolutionskomitee aus Republikanern und Sozialisten als Provisorische Regierung der Republik, die sich auf breite Massenmobilisierungen in den Städten stützen konnte. Am 28. Juni 1931 wurden Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung abgehalten. Im November erklärte die verfassungsgebende Versammlung die Monarchie für beendet, sprach dem "don Alfonso de Borbón y Habsburgo-Lorena" alle Titel ab und nationalisierte alle Besitztümer des ex-Monarchen. Dieser Stand der Republik ist bis heute nicht wiederhergestellt.

zu10  Die Rote Fahne, 13. Jahrgang Nr. 216 vom Dienstag, 16. September 1930 (die Reichstagswahl war am Sonntag, dem 14.9.1930), Leitartikel "Unser Wahlsieg und der Kampf gegen den Faschismus" auf Seite 1. Darin auf der 2. Seite:

Die Faschisten, die mit 107 Mandaten in den neuen Reichstag einziehen, müssen unvermeidlich das Vertrauen ihrer 6,4 Millionen Wähler zerstören, ihre Erwartungen enttäuschen, ihre Forderungen mit Füßen treten. Darum trägt der Wahlerfolg Hitlers mit unentrinnbarer Sicherheit den Keim seiner künfigen Niederlage in sich. Der 14. September [1930] war der Höhepunkt der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland. Was nachher kommt, kann nur Niedergang und Abstieg sein.

Die NSDAP hatte ihre 810.127 Stimmen bei der Wahl am 20. Mai 1928 in zweieinhalb Jahren auf 6.379.672 am 14. September fast verachtfacht, und stellte dann mit 107 statt 12 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion, während die KPD sich von 3.264.793 in 1928 auf 4.590.160 immerhin noch um 40% steigern konnte. Die SPD hatte 577.735 oder 6,7% der 9.152.979 Stimmen von 1928 auf 8.575.244 verloren, bei einer um um 6,4 Prozentpunkte auf 82,0 % gestiegenen Wahlbeteiligung. "Niedergang und Abstieg" der NSDAP erwies sich bei den Wahlen vom Juli 1932 als ein Anwachsen deren Stimme auf mehr als das doppelte mit 13.745.680 Millionen, während das Anwachsen der Stimmen für die revolutionäre Partei, d.h. KPD, um nur 15% auf 5.282.636 weit dahinter zurückblieb.

zu13 Am Mittwoch, 13. Oktober 1931 sagte Hermann Remmele in der Reichstagsdebatte zur Vorstellung des 2. Kabinett Brüning u.a. folgendes

So zeigen alle Maßnahmen, die Sie ergreifen wollen, daß es keinen Ausweg gibt. Der Bourgeoisie erklären wir: es wird noch weniger ein Ausweg sein, wenn Sie dort die faschistischen Horden zur Macht kommen lassen.

Das hat Herr Brüning sehr klar gesagt: wenn sie erstmal an der Macht sind, wird die Einheitsfront des Proletariats zustande kommen und wird alles wegfegen. [Beifall KPD] Das wird also ebensowenig eine Rettung sein.

Heute steht fest: die sterbende, untergehende kapitalistische Welt hat keine Mittel mehr, sich zu retten und aufrechtzuerhalten. Kein Machtmittel mehr kann ihr dazu helfen. Wir sind die Sieger von morgen, und die Frage steht nicht mehr: Wer wen? Diese Frage ist bereits entschieden. [Beifall KPD]. Die Frage lautet nur noch: Zu welchem Zeitpunkt werden wir die Bourgeoisie werfen? Der Zeitpunkt wird der Augenblick sein, in dem die Arbeiterklasse die Einheitsfront hergestellt hat.

Das haben wir in der Vergangenheit gezeigt, im Jahre 1918, beim Kapp-Putsch und dann bei der Cuno-Regierung. In dem Augenblick, in dem die Einheitsfront vorhanden war, war es aus mit dem Spuk der kapitalistischen Herrschaft. [Beifall KPD] Wenn diese kapitalistische Herrschaft bisher noch gerettet werden konnte, so nur dank des Stillhaltekonsortiums der SPD.

Deswegen kann die Einheitsfront nur zustandekommen im schärfsten Kampfe gegen alle ohne Ausnahme, von den Sozialdemokraten bis zu den Faschisten.

Die faschistische Herrschaft, die faschistische Regierung schreckt uns nicht. Sie hat rascher abgewirtschaftet als jede andere Regierung.

Remmeles Rede beginnt auf Seite 28.

Quelle ist Verhandlungen des Reichstags, 5. Wahlperiode 1930. Band 446 - Stenographische Berichte (von der 53. Sitzung am 13. Oktober 1931 bis zur 64. Sitzung am 12. Mai 1932)

zuPS  In der Wiener "Arbeiter-Zeitung" (44. Jahrgang Nr. 280 vom Sonntag, 31. Oktober 1931, auf Seiten 3 und 4) ist dieser ungezeichnete Artikel erschienen: "Vom Kommunismus zum Nationalfascismus - Von Lenin zu Scheringer".