Gesamtverzeichnis "MLWerke" | E. Thälmann

Ernst Thälmann

Die SPD-Arbeiter und das »kleinere Übel« Anm1

Aus einer Rede im Hamburger Wahlkampf, September 1931


Aus: Hamburger Volkszeitung vom 18.9.1931

Der Text wurde entnommen: Ernst Thälmann: Reden und Aufsätze, 1930-1933, Bd. 1, Köln 1975., S. 288-290

Zur Frage des »kleineren Übels« möchte ich an ein Wort von Wilhelm Liebknecht erinnern, dem Mitarbeiter August Bebels und Schüler von Marx und Engels. Er sagte 1899 in einer Streitschrift gegen die damaligen Rechtssozialisten:

»Die Annahme eines neuen Sozialistengesetzes wäre ein kleineres Übel gewesen, als die Verwischung des Klassengegensatzes und der Parteigrenzen durch ein neues Landtagswahlrecht.«

Ich möchte allen sozialdemokratischen Arbeitern den Rat geben, diese Worte des alten Führers und Mitbegründers der Deutschen Sozialdemokratie sich gründlich durch den Kopf gehen zu lassen. Vergleicht man solche Anschauungen mit der heutigen Politik der SPD, so wird jeder denkende Arbeiter verstehen, daß es heute nur eine Partei in Deutschland gibt, die auf den Traditionen der alten sozialistischen Vorkämpfer fußt: und das ist die KPD!

Ich weiß, Genossen, daß es manchem SPD-Arbeiter schwer fällt, zu uns zu kommen, weil er denkt: »Nun habe ich jahrzehntelang geholfen, eine Partei aufzubauen und soll sie zum Schluß verlassen?« Aber ich frage die sozialdemokratischen Arbeiter:

Hat denn die heutige Sozialdemokratie noch irgend etwas mit einer sozialistischen Partei zu schaffen? Könnt ihr euch August Bebel oder Wilhelm Liebknecht in den Reihen dieser Partei vorstellen, z.B. als Hamburger Bürgermeister, Seite an Seite mit den Pfeffersäcken? Oder Karl Marx und Friedrich Engels als Koalitionsminister in der Preußenregierung? Das ist unmöglich!

Ich will noch ein Beispiel für die Kluft anführen, die jene Sozialisten von den heutigen Führern der SPD trennt. Im Jahre 1910 stand die Frage des Demonstrationsverbots auf dem Magdeburger Parteitag der Sozialdemokratie. Damals erklärte der offizielle Referent des SPD-Parteivorstandes wörtlich:

»Was sollte das Volk tun? Es mußte auf die Straße gehen, es mußte öffentlich demonstrieren, da es sich ferner nicht als Heloten behandeln lassen will. Und wenn dabei die Polizei mit rücksichtsloser Brutalität die Arbeiter in die Enge treiben und von hinten und vorn attackieren ließ, dann wird das dabei vergossene Blut, dann wird die Blutschuld,

dann wird dieses verderbliche Beginnen ewig auf den Machthabern lasten bleiben. Immer ist es ruhig und glatt vonstatten gegangen, wenn nur die Polizei ihre Nase aus dem Spiel ließ.«

Das war der SPD-Parteivorstand von 1910. Und nun das Gegenstück: Severing, der heutige hervorragende Führer der SPD, sagte in seinem Scharfschießerlaß vom 6. Juni dieses Jahres folgendes:

»Ich werde daher keinem Beamten, der auf Grund dieser Bestimmungen von seinen Waffen Gebrauch macht, meinen Schutz versagen. Die Beamten sind auf das Genaueste über ihr Recht zum Waffengebrauch zu unterrichten.«

Ich glaube, diese Gegenüberstellung bedarf kaum eines Kommentars.

Alles, was die SPD den Massen im Laufe der letzten Jahre erzählt hat, erwies sich als Lug und Trug. Nie hat es eine Partei gegeben, die so vollständig Bankrott gemacht hat. Wenn man die Rolle der deutschen Sozialdemokratie und ihre Führer in der Geschichte der deutschen Revolution kennzeichnen will, so muß man an jene Worte erinnern, die der heutige zweite Vorsitzende der SPD in seinen besseren Tagen gegen die Partei, an deren Spitze er heute steht, geschrieben hat. Herr Artur Crispien erklärte damals:

»Die Ermunterung zur Gegenrevolution, zum Sammeln und zum Widerstand, ist dem schieläugigen Verhalten der Rechtssozialisten zu verdanken, die immer trachteten, es mit der besitzenden Klasse nicht zu verderben. Die Massenmorde an revolutionären Arbeitern in Berlin, München, Bremen, im Ruhrgebiet und Oberschlesien, in hunderten anderen deutschen Städten werden ein ewiges Schandmal für die rechtssozialistischen bürgerlichen Machthaber in der nachrevolutionären Zeit sein.«

Der zweite Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei hat vollkommen recht. Das einzige, was wir hinzufügen müssen, ist, daß dieses ewige Schandmal auf der Stirn Crispiens selber steht.

Wir Kommunisten wissen, daß wir im Namen von Hunderten und Tausenden von sozialdemokratischen Arbeitern sprechen, wenn wir die sozialdemokratischen Führer des dauernden skrupellosen Arbeiterverrats anklagen und ihnen zurufen:

Was habt ihr aus der Partei August Bebels und Wilhelm Liebknechts gemacht?

Aus einer Partei der Sozialisten habt ihr eine Partei der Polizeipräsidenten, eine Partei der Minister, eine Partei gemacht, die den unglaublichsten Klassenverrat gegen das Proletariat begeht!

Während der sozialdemokratische Arbeiter hungert, genau wie seine kommunistischen Klassengenossen, beziehen die SPD-Führer Gehälter, Diäten und Pensionen, die monatlich sehr oft vierstellige Zahlen ausmachen.

Während der arbeitslose Gewerkschaftskollege aus seiner Wohnung exmittiert wird, bewilligt sich ein Teil der Gewerkschaftssekretäre aus der Gewerkschaftskasse 10 000 bis 20 000 Mark Baudarlehen für ein hübsches Eigenhaus.

Und der Arbeiter, der nicht mehr die zwei Groschen für die Straßenbahn erschwingen kann, sieht sehr oft in eleganten Privatautos »Arbeiterführer«, den sogenannten Minister a.D. oder den Direktor der Arbeiter an sich vorübersausen. Diese Kluft spiegelt sich noch schärfer in der Politik der SPD- und ADGB-Führer wieder. Was tut der ADGB mit 4 1/2 Millionen organisierten Arbeitern gegen den dauernden Lohnraub, die Massenentlassungen, die Erwerbslosigkeit und die Notverordnungspolitik auf allen Gebieten? Wo tritt die Millionenpartei, wie sie die SPD doch zu sein behauptet, in Erscheinung?

Die Preußenregierung und der ADGB sind keine Machtfaktoren für die Arbeiterklasse, sondern die stärksten Bollwerke für die Brüningregierung und die kapitalistische Reaktion.

Die werktätigen Massen in Deutschland erkennen immer mehr, daß sie sich Brot und Freiheit nur im revolutionären Kampf, unter Führung der KPD und RGO erkämpfen können. Will das Volk leben, muß die Bourgeoisie sterben.

Wer sterben will, soll mit Brüning und Hitler gehen, wer aber leben will, der muß mit der KPD kämpfen und siegen!

Wir fragen euch, sozialdemokratische Genossen: wollt ihr für Brüning kämpfen oder für den Sozialismus?

Das ist die Entscheidungsfrage, die heute vor jedem SPD-Arbeiter, vor jedem Funktionär, vor der SAJ, der proletarischen Jugend steht. Nach seinem eigenen Klasseninstinkt muß der SPD-Arbeiter die Entscheidung fällen, und sie kann nur lauten:

Mit den Kommunisten gegen die Kapitalisten, gegen den Faschismus, gegen die Regierung zur Durchführung der faschistischen Diktatur, gegen Brüning und alle, die zur Brüningfront zählen!

Unser Appell geht an alle sozialdemokratischen Klassengenossen. Wir rufen ihnen zu: macht Schluß mit denen, die euch jahraus, jahrein betrogen und verraten haben! Macht Schluß mit den Polizeisozialisten! Macht Schluß mit einer Partei, deren Chef heute schon nicht mehr Wels oder Crispien heißt, sondern deren Politik vom kapitalistischen Zentrumskanzler Brüning geführt wird!

 


Anm1Siehe zur Frage des »kleineren Übels« den entsprechenden Abschnitt in dem Artikel »Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?« von Leo Trotzki.Zurück


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