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Anna Seghers

Der Führerschein

(zuerst veröffentlicht in: Die Linkskurve, Nr. 4, 4. Jahrgang 1932)

Im Haufen verdächtiger Zivilpersonen, den die Japaner zusammengetrieben und in einem Haus in Schanghai eingesperrt hatten, stand ein regloser kleiner Mensch, besser gekleidet als die meisten. Sein Gesicht unterschied sich beinahe durch nichts von den Gesichtern im Keller: Das erwartete Urteil hatte sie alle einander ähnlich gemacht.

Ein Offizier trat mit seinen Soldaten ein. Alle Gefangenen starrten ihn an, sein Blick glitt geschwind über alle, blieb an dem Kleinen hängen. Er gab einen Befehl, der Mann wurde vor ihm hingestoßen, ein paar Hände suchten an ihm herum. Weder die Griffe noch die Fragen, die man ihm stellte, brachten den Mann aus der Ruhe. Es gab eine Stockung; denn man fand ein Papier in seinem Rock. Darauf war aber nur verzeichnet, was er bereits geantwortet hatte: Er ist Wu Pei-li, der Chauffeur des Kaufmanns Zang Lo-fei.

Wu Pei-li wurde darauf in den Hof geführt und durch den Häuserblock in einen größeren Hof zu den Garagen. Dort mußte er zwischen Gewehrkolben warten.

Zwei Zivilpersonen befahlen ihm, eins der Autos aus der Garage zu fahren. Der eine nahm neben dem Führersitz Platz, der andere in Wu Pei-lis Rücken. Mit den Revolvern tippten sie zu ihren Befehlen auf seine Schläfe und seinen Hinterkopf. Sie fuhren durch ein paar Straßen, sie hielten vor einem Haus der japanischen Kommandantur. Zwei Generalstäbler mit ihrer Ordonnanz stiegen zu. Man breitete eine Geländekarte aus, man zeichnete den Weg ein. Die Gedanken des Chauffeurs Wu Pei-li wandten sich von dem Tod, der ihm eben noch unvermeidlich erschienen war, dem roten Endpunkt auf der Geländekarte hinter dem Weg zu den Werften zu. Es hieß: "Fahr, was das Zeug hält!" Er hupte; das war das verrückte Hupen der japanischen Militärautos, das ihn seit Tagen und Wochen rasend machte. Sie sausten durch Tschapei, durch die zerstörten, von den Geschossen aufgerissenen Straßen, wimmelnd von ratlosen Menschen. Sie fuhren längs des Kanals, er spürte die Mündungen der Pistolen hart, schon nicht mehr kalt; sie befahlen ihm jede seiner Bewegungen. Aber seine Gedanken entgingen ihnen. Sein Auftrag und sein Entschluß.

Bei der Wendung am Brückenkopf begriff der Chauffeur Wu Pei-li, was jetzt von ihm verlangt wurde. Er drehte das Steuer, und er fuhr das Auto mit den zwei Generalstäblern und ihrer Ordonnanz und den zwei Zivilpersonen und sich selbst in einem kühnen, dem Gedächtnis des Volkes für immer eingebrannten Bogen in den Fluß.

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