Die sexuelle Revolution in der Sowjetunion setzte mit der Auflösung der Familie ein. Sie zerfiel radikal in allen Kreisen der Bevölkerung, hier früher, dort später. Dieser Prozeß war schmerzhaft und chaotisch; er verursachte Schrecken und Verwirrung. Ein vollgültiger objektiver Beweis für die Richtigkeit der sexualökonomischen Theorie über Wesen und Funktion der Zwangsfamilie war gegeben: Die patriarchale Familie ist die strukturelle und ideologische Reproduktionsstätte aller gesellschaftlichen Ordnungen, die auf dem Autoritätsprinzip beruhen. Mit der Abschaffung dieses Prinzips mußte automatisch auch die Familiensituation erschüttert werden.
Der Zerfall der Zwangsfamilie ist der Ausdruck dafür, daß die sexuellen Bedürfnisse der Menschen die Fesseln sprengen, die ihnen mit der wirtschaftlichen und autoritären familiären Bindung auferlegt wurden. Es vollzieht sich die Trennung von Wirtschaft und Sexualität. Stand vorher im Patriarchat das Sexualbedürfnis im Dienste und daher unter dem Zwange wirtschaftlicher Interessen einer Minderheit; stand im urkommunistischen Matriarchat die Wirtschaft im Dienste der Bedürfnisbefriedigung der Gesamtgesellschaft (auch der sexuellen), so zielt die echte soziale Revolution eindeutig darauf, die Wirtschaft wieder in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung aller produktiv Arbeitenden zu stellen. Diese Umkehrung des Verhältnisses von Bedürfnis und Wirtschaft ist einer der Kernpunkte der sozialen Revolution. Nur aus diesem allgemeinen Prozeß ist der Zerfall der Zwangsfamilie zu begreifen. Er würde sich rasch und gründlich, auch reibungslos vollziehen, käme nichts anderes in Frage als die Last, die die familiäre ökonomische Bindung für die Familienmitglieder bedeutet, und die Stärke der durch sie gefesselten sexuellen Bedürfnisse. Das Problem ist also nicht so sehr das, weshalb die Familie zerfällt; die Gründe dafür liegen klar zutage. Viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, weshalb dieser Zerfall psychisch so schmerzhaft ist wie keine andere Umwälzung. Die Enteignung der Produktionsmittel bereitet nur ihrem früheren Besitzer Schmerzen, jedoch nicht der Masse, dem Träger der Revolution. Doch die Aufhebung der Familie betrifft gerade diejenigen, die die wirtschaftliche Umwälzung vollziehen sollen: die Arbeiter, Angestellten, Bauern.
Gerade hier enthüllt sich die konservative Funktion der Familienbindung am allerdeutlichsten. Durch die ungeheuer intensiven Familiengefühle wirkt sich eine Bremsung gerade auf den Träger der Revolution selbst aus. Seine Bindung an Frau und Kinder, seine Liebe zum Heim, wenn er es hat, auch wenn es noch so notdürftig ist, sein Hang zur gebundenen Marschroute usw. behindert ihn mehr oder minder, wenn er den Hauptakt der Revolution, den Umbau des Menschen, durchführen soll. So wie bei der Heranbildung der faschistischen Diktatur etwa in Deutschland die familiäre Bindung als Bremsung der revolutionären Kraft sich ausgewirkt hatte (was Hitler erst ermöglichte, die imperialistische, nationalistische Ideologie auf dem festen Fundament dieser Bindungen aufzubauen), so wirkt sich in der Revolution die familiäre Bindung bremsend auf die beabsichtigte Änderung des Lebens aus. Es entsteht ein schwerer Widerspruch zwischen dem Zerfall der Grundlagen der Familie einerseits und der alten, nicht so rasch wandelbaren familiären Struktur der Menschen, die die Familie gefühlsmäßig, und zwar meist unbewußt, aufrechterhalten wollen, andererseits.
Die Ersetzung der patriarchalischen Familienform durch das Arbeitskollektiv stellt fraglos den Kern des revolutionären Kulturproblems dar. Durch das oft so laute rebellische Geschrei: "Los von der Familie" darf man sich hier keineswegs täuschen lassen. Oft ist gerade der, der am lautesten die Vernichtung der Familie fordert, unbewußt am allerstärksten an seine familiäre Kindheit gebunden. Solche Rufer sind wenig geeignet, das schwerste aller Probleme, die Ablösung der familiären Bindung durch gesellschaftliche Bindungen theoretisch und praktisch zu lösen. Gelingt es nun nicht, gleichzeitig mit der Herstellung der selbstregulierenden arbeitsdemokratischen Gesellschaft ihre strukturelle Verankerung in der psychischen Struktur des Menschen zu sichern, erhält sich auf die Dauer das familiäre Gefühl, dann muß notwendigerweise eine immer weiter klaffende Schere entstehen zwischen der wirtschaftlichen und der massenstrukturellen, d.h. kulturellen Entwicklung der arbeitsdemokratischen Gesellschaft. Die Umwälzung im kulturellen Überbau bleibt aus, weil der Träger und Pfleger dieser Umwälzung, die psychische Struktur des Menschen nicht qualitativ mit verändert wurde.
Wir finden in Trotzkis Fragen des Alltagslebens (S. 53-60) reichlich Material zum Prozeß des Familienzerfalls in den Jahren 1919 - 1920. Folgende Tatsachen wurden festgestellt:
Die Familie, auch die proletarische, hat sich "gelockert". Diese Tatsache wurde bei einer Besprechung der Moskauer Agitatoren als feststehend betrachtet und von niemandem bestritten. Sie wurde während der Besprechung in verschiedener Weise bewertet: "von den einen mehr beunruhigt, von den anderen zurückhaltend, von den dritten unschlüssig." Es war für alle klar, daß man "irgendeinen großen, sehr chaotischen, bald tragische Formen annehmenden Prozeß" vor sich hatte, der noch "gar nicht di in ihm verborgenen Möglichkeiten einer neuen, höheren Familienordnung offenbaren konnte". Hinweise über den Verfall der Familie drangen auch in die Presse, "wenn auch äußerst selten und in allgemeiner Form". Viele glaubten, daß man in dem Zerfall der Arbeiterfamilien das Zutagetreten des "bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat" erblicken müßte. Viele andere hielten diese Erklärung für falsch. Die Sache, meinten sie, wäre tiefer und komplizierter. Natürlich bestünde ein Einfluß der bürgerlichen Vergangenheit und der bürgerlichen Gegenwart. Aber der Hauptprozeß wäre in der krankhaften und krisenhaften "Evolution der proletarischen Familie" selbst zu suchen; man wäre Zeuge der ersten sehr chaotischen Etappen dieses Prozesses.
Auf dem Gebiete des Familienlebens wäre die erste Zerrüttungsperiode noch bei weitem nicht beendet; die Zerrüttung und der Zerfall wären noch im vollen Gange. Das Alltagsleben wäre viel konservativer als die Wirtschaft, unter anderem auch deshalb, weil es viel weniger bewußt erkannt wurde als diese.
Ferner wurde festgestellt, daß sich der Zerfall der alten Familie nicht auf die oberste Schicht der Klasse beschränkte, die dem Einfluß der neuen Verhältnisse am meisten ausgesetzt war, sondern über die Avantgarde hinaus noch weiter drang. Letzten Endes machte, so lautete die Ansicht, die kommunistische Avantgarde nur früher und in schrofferer Form durch, was für die Klasse als Ganzes mehr oder weniger unvermeidlich war.
Der Mann oder die Frau geriet mehr und mehr in öffentliche Funktionen; dadurch zerstörte sich der Anspruch der Familie auf das Familienmitglied. Heranwachsende Kinder kamen in die Kollektive. So entstand eine Konkurrenz zwischen den familiären und den gesellschaftlichen Bindungen. Doch die gesellschaftlichen Bindungen waren neu, jung, kaum geboren, die familiären saßen hingegen in jeder Ritze und Fuge des Alltagslebens, in jeder Äußerung der psychischen Struktur. Die geistige Öde der sexuellen Beziehungen in den meisten Ehen konnte mit den neuen und lebensfrohen sexuellen Beziehungen im Kollektiv nicht konkurrieren. Und dies alles auf der Grundlage einer ständig fortschreitenden Entwurzelung des Hauptverbandes der Familie, der materiellen Gewalt des Vaters über Frau und Kinder. Die wirtschaftliche Bindung riß, und mit ihr zerbrach die sexuelle Hemmung.
Doch das bedeutete noch nicht "sexuelle Freiheit". Die äußere Freiheit zum sexuellen Glück ist noch nicht das Glück selbst. Dazu gehört vor allem die psychische Fähigkeit, es zu gestalten und zu genießen. Doch in der Familie waren meist an die Stelle der genitalen Bedürfnisse säuglinghafte Abhängigkeiten oder krankhafte Sexualgewohnheiten getreten. Bedürfnisse, die mit aller Kraft sexueller Energie ausgestattet sind, aber jede biologisch normale orgastische Erlebnisfähigkeit zerstören. Die Familienmitglieder haßten einander bewußt oder unbewußt und übertönten den Haß mit einer krampfhaften Liebe und mit einer klebrigen Abhängigkeit, die ihre Herkunft aus verhülltem Haß schlecht verbarg.
Im Vordergrunde der Schwierigkeiten stand die Unfähigkeit der genital-sexuell verkrüppelten und für wirtschaftliche Selbständigkeit unvorbereiteten Frauen zum Verzicht auf den familiären Sklavenschutz und auf die Ersatzbefriedigung in der Herrschaft über die Kinder. Die Frau, deren ganzes Leben sexuell öde und wirtschaftlich abhängig war, hatte in der Aufzucht ihrer Kinder den Sinn ihres Lebens gesehen. Jede, auch die für die Kinder günstige Einschränkung dieser Beziehung, empfand sie als eine schwere Beeinträchtigung, und sie verstand es, sich kräftig dagegen zu wehren. Dieses Wehren ist durchaus begreiflich; man muß ihm Rechnung tragen. Aus Gladkows Roman Neue Erde geht eindeutig hervor, daß der Kampf um den Aufbau des Kollektivs keiner Schwierigkeit begegnet, die sich mit dem Kampf der Frauen um Heim, Familie und Kinder auch nur annähernd hätte vergleichen lassen können.
Die Kollektivierung des Lebens ging zunächst von oben mit Dekreten und mit Unterstützung der revolutionären Jugend vor sich, die die Fesseln der elterlichen Autorität zerbrach. Doch die Hemmungen der Familienbindung wirkten in jedem Schritt, den das durchschnittliche Mitglied der Masse zur Kollektivierung hin machen wollte, in erster Linie in Form der eigenen unbewußten familiären Abhängigkeit und Sehnsucht.
Was sich an Schwierigkeiten und Konflikten im kleinen Alltagsleben ergab, entsprach nicht etwa einem "zufälligen" "chaotischen" Zustand, der durch die "Unvernunft" oder "Unsittlichkeit" der Menschen zustande gekommen wäre; er stand vielmehr durchaus im Einklang mit einem Gesetz, das die Beziehungen zwischen den Sexualformen und den gesellschaftlichen Organisationsformen beherrscht.
In der Urgesellschaft, die kollektiv und "urkommunistisch" strukturiert ist, ist die Einheit der Klan, die Summe aller von einer Urmutter sich ableitenden Blutsverwandten. Innerhalb dieses Klans, der gleichzeitig auch die wirtschaftliche Einheit darstellt, existiert nur die lockere Paarungsehe. In dem Maße, in dem infolge wirtschaftlicher Umwälzungen die Klans der keimhaft patriarchalischen Familie des Häuptlings untertan werden, beginnt auch die Zerstörung des Klans durch die Familie. Familie und Klan treten in Gegensatz zueinander. Die Familie wird nunmehr fortschreitend anstelle des Klans zur wirtschaftlichen Einheit und somit zum gesellschaftlichen Kristallisationspunkt des Patriarchats. Der Häuptling der mutterrechtlichen Klanorganisation, der ursprünglich in keinem Gegensatz zur Klangesellschaft stand, wird allmählich der Patriarch der Familie, bekommt dadurch ein ökonomisches Übergewicht und entwickelt sich fortschreitend zum Patriarchen des gesamten Stammes. Es entsteht, wie sich nachweisen ließ, erstmalig ein Klassengegensatz zwischen der Familie des Häuptlings und den unteren Klans des Stammes.
Die ersten Klassen waren also die Familie des Häuptlings auf der einen Seite, die Gens auf der anderen Seite.
In der Entwicklung vom Mutterrecht zum Vaterrecht, die sich solcherweise anbahnte, erhält die Familie neben ihrer wirtschaftlichen Funktion noch die andere und bedeutsamere der Umstrukturierung des Menschen vom freien Klangenossen zum unterdrückten Familienmitglied. In der heutigen indischen Großfamilie ist diese Funktion am klarsten ausgeprägt. Indem sich die Familie gegenüber dem Klan verselbständigt, wird sie nicht nur Ursprungsorganisation des Klassenverhältnisses, sondern auch der sozialen Unterdrückung innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen. Der nun entstehende "Familienmensch" beginnt die werdende patriarchalische Klassenorganisation der Gesellschaft durch Veränderung seiner Struktur zu reproduzieren. Der Kernmechanismus dieser Reproduktion ist der Umschwung von der Sexualbejahung zur Sexualunterdrückung, ihre Basis ist das materielle Übergewicht des Häuptlings.
Fassen wir das Wesen dieses psychischen Umschwungs kurz zusammen: An die Stelle der freien, freiwilligen, nur von gemeinsamen Lebensinteressen getragenen Beziehung der Klan- und Stammesgenossen tritt ein Gegensatz wirtschaftlicher und mit ihnen sexueller Interessen. An die Stelle der freiwilligen Arbeitsleistung tritt die Forderung nach ihr und die Rebellion gegen sie; an die Stelle der natürlichen sexuellen Sozialität die moralische Forderung; an die Stelle kameradschaftlicher Kriegerschaft die autoritäre Gefolgschaft; an die Stelle der freiwilligen, glückhaften Liebesvereinigung die "seelische Pflicht"; an die Stelle der Klansolidarität die Familienbindung gleichzeitig mit der Rebellion gegen sie; an die Stelle des sexualökonomisch geordneten Lebens die genitale Einschränkung und mit ihr erstmalig seelische Erkrankungen und sexuelle Perversionen; der natürliche starke, selbstsichere biologische Organismus wird hilflos, anlehnungsbedürftig, gottesfürchtig; das orgastische Naturerleben macht mystischer Extatik, dem späteren "religiösen Erleben", und unauslöschlicher vegetativer Sehnsucht Platz; das geschwächte Ich jedes einzelnen sucht Stärkung in der Anlehnung und Identifizierung mit dem Stamm, der allmählich zur "Nation" wird, mit dem Stammeshäuptling, der allmählich zum Stammespatriarchen und schließlich zum König wird. Die Geburt der Untertanenstruktur ist vollzogen; die strukturelle Verankerung der menschlichen Unterjochung ist gesichert.
Die soziale Revolution in der Sowjetunion enthüllt uns in ihren ersten Phasen die neuerliche Umkehr dieses Prozesses: Die Wiederherstellung der urkommunistischen Verhältnisse auf einer höheren, zivilisierten Ebene; den Umschwung von der Sexualverneinung zur Sexualbejahung.
Nach den Feststellungen von Marx, die im Kommunistischen Manifest entwickelt sind, ist eine der Hauptaufgaben der sozialen Revolution die Aufhebung der Familie (Daß die Aufhebung der getrennten Wirtschaft von der Aufhebung der Familie nicht zu trennen ist, versteht sich von selbst.). Was hier theoretisch aus dem Prozeß der Gesellschaft erschlossen wurde, fand seine Bestätigung später durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation in der Sowjetunion: An die Stelle der Familie begann eine Organisation zu treten, die mit dem alten Klan der Urgesellschaft bestimmte Ähnlichkeiten hatte: das sozialistische Kollektiv im Betrieb, in der Schule, im Kolchos usw. Der Unterschied zwischen dem Klan der Urzeit und dem Kollektiv des Kommunismus ist der, daß jener auf der Blutsverwandtschaft beruht und als solcher auch zu einer wirtschaftlichen Einheit wird; das sozialistische Kollektiv des Kommunismus dagegen besteht aus nicht blutsverwandten Menschen und gründet sich auf gemeinsame wirtschaftliche Funktionen; es entsteht als wirtschaftliche Einheit und führt notwendigerweise zur Bildung persönlicher Beziehungen, die es auch als ein sexuelles Kollektiv kennzeichnen, besser zu kennzeichnen beginnen.
So wie in der Urgesellschaft die Familie den Klan zerstörte, so zerstört im Kommunismus das wirtschaftliche Kollektiv die Familie, die schon in der Krise des Kapitalismus zu zerbröckeln begann. Der Prozeß kehrt sich um. Wenn die Familie ideologisch oder strukturell festgehalten wird, dann wird das Kollektiv in seiner Entwicklung gebremst; gelingt es ihm nicht, die Bremsen zu überwinden, dann zerstört es sich selbst an den Schranken der familiären Struktur des Menschen wie z. B. in den Jugendkommunen (vgl. Kapitel V). Der Prozeß im Beginn der kommunistischen Entwicklung läßt sich kennzeichnen als ein Konflikt zwischen wirtschaftlichem Kollektiv und der ihr anhängenden sexualbejahenden Tendenz zur sexuellen Selbständigkeit auf der einen Seite und der individualistisch-familiären, sexualängstlichen Struktur der Individuen auf der anderen Seite.