Engels an Franz Mehring, Brief vom 14. Juli 1893

Friedrich Engels

1897

Seitenzahlen in diesem Text beziehen sich auf die Veröffentlichung in Friedrich EngelsWerke, Band 39.
Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Dietz-Verlag Berlin, 1968 S. 96-101

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London, 14.Juli 93

Lieber Herr Mehring,

Erst heute komme ich dazu, Ihnen für die mir gütigst zugesandte „Lessing-Legende" zu danken. Ich wollte Ihnen nicht eine bloß' formelle Empfangsanzeige des Buchs schicken, sondern Ihnen auch gleichzeitig etwas darüber - über seinen Inhalt - sagen. Daher die Verzögerung.

Ich fange an mit dem Ende - dem Anhang „Über den historischen Materialismus", worin Sie die Haupttatsachen vortrefflich und für jeden Unbefangnen überzeugend zusammengestellt haben. Wenn ich etwas aus­zusetzen finde, ist es, daß Sie mir mehr Verdienst zuschreiben als mir zu­kommt, selbst wenn ich alles einrechne, was ich möglicherweise selbständig ausgefunden hätte - mit der Zeit -, was aber Marx bei seinem rascheren coup d'oeil und weiteren Überblick viel schneller entdeckte. Wenn man das Glück hatte, vierzig Jahre lang mit einem Mann wie Marx zusammen­zuarbeiten, so wird man bei dessen Lebzeiten gewöhnlich nicht so an­erkannt, wie man es zu verdienen glaubt; stirbt dann der Größere, so wird der Geringere leicht überschätzt - und das scheint mir grade jetzt mein Fall zu sein; die Geschichte wird das alles schließlich in Ordnung bringen, und bis dahin ist man glücklich um die Ecke und weiß nichts mehr von nichts.

Sonst fehlt nur noch ein Punkt, der aber auch in den Sachen von Marx und mir regelmäßig nicht genug hervorgehoben ist und in Beziehung auf den uns alle gleiche Schuld trifft. Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen ver­nachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen. Das hat denn den Gegnern willkommnen Anlaß zu Mißverständ­nissen resp. Entstellungen gegeben, wovon Paul Barth ein schlagendes Exempel. 1<97>Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigent­lichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. Er imaginiert sich also falsche resp. schein­bare Triebkräfte. Weil es ein Denkprozeß ist, leitet er seinen Inhalt wie seine Form aus dem reinen Denken ab, entweder seinem eignen oder dem seiner Vorgänger. Er arbeitet mit bloßem Gedankenmaterial, das er unbe­sehen als durchs Denken erzeugt hinnimmt und sonst nicht weiter auf einen entfernteren, vom Denken unabhängigen Ursprung untersucht, und zwar ist ihm dies selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durchs Denken vermittelt, auch in letzter Instanz im Denken begründet erscheint.

Der historische Ideolog (historisch soll hier einfach zusammenfassend stehn für politisch, juristisch, philosophisch, theologisch, kurz für alle Gebiete, die der Gesellschaft angehören und nicht bloß der Natur) - der historische Ideolog hat also auf jedem wissenschaftlichen Gebiet einen Stoff, der sich selbständig aus dem Denken früherer Generationen gebildet und im Gehirn dieser einander folgenden Generationen eine selbständige, eigne Entwicklungsreihe durchgemacht hat. Allerdings mögen äußere Tatsachen, die dem eignen oder ändern Gebieten angehören, mitbestimmend auf diese Entwicklung eingewirkt haben, aber diese Tatsachen sind nach der stillschweigenden Voraussetzung ja selbst wieder bloße Früchte eines Denkprozesses, und so bleiben wir immer noch im Bereich des bloßen Denkens, das selbst die härtesten Tatsachen anscheinend glücklich verdaut hat.

Es ist dieser Schein einer selbständigen Geschichte der Staatsverfassun­gen, der Rechtssysteme, der ideologischen Vorstellungen auf jedem Sonder­gebiet, der die meisten Leute vor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle katholische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit seinem republikanischen „Contrat social" den kon­stitutionellen Montesquieu „überwindet", so ist das ein Vorgang, der inner­halb der Theologie, der Philosophie, der Staatswissenschaft bleibt, eine Etappe in der Geschichte dieser Denkgebiete darstellt und gar nicht aus dem Denkgebiet hinauskommt. Und seitdem die bürgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der kapitalistischen Produktion dazu­gekommen, gilt ja sogar die Überwindung der Merkantilisten durch die Physiokraten und A.Smith für einen bloßen Sieg des Gedankens; nicht für den Gedankenreflex veränderter ökonomischer Tatsachen, sondern für die endlich errungene richtige Einsicht in stets und überall bestehende tatsäch­liche Bedingungen; hätten Richard Löwenherz und Philippe Auguste den <98>Freihandel eingeführt, statt sich in Kreuzzüge zu verwickeln, so blieben uns fünfhundert Jahre Elend und Dummheit erspart.

Diese Seite der Sache, die ich hier nur andeuten kann, haben wir, glaube ich, alle mehr vernachlässigt, als sie verdient. Es ist die alte Geschichte: Im Anfang wird stets die Form über den Inhalt vernachlässigt. Wie gesagt, ich habe das ebenfalls getan, und der Fehler ist mir immer erst post festum aufgestoßen. Ich bin also nicht nur weit entfernt davon, Ihnen irgendeinen Vorwurf daraus zu machen - dazu bin ich als älterer Mitschuldiger ja gar nicht berechtigt, im Gegenteil -, aber ich möchte Sie doch für die Zukunft auf diesen Punkt aufmerksam machen.

Damit zusammen hängt auch die blödsinnige Vorstellung der Ideologen: Weil wir den verschiednen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spielen, eine selbständige historische Entwicklung absprechen, sprächen wir ihnen auch jede historische Wirksamkeit ab. Es liegt hier die ordinäre undialektische Vorstellung von Ursache und Wirkung als starr einander entgegengesetzten Polen zugrunde, die absolute Vergessung der Wechselwirkung. Daß ein historisches Moment, sobald es einmal durch andre, schließlich ökonomische Ursachen, in die Welt gesetzt, nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbst seine eignen Ursachen zurück­wirken kann, vergessen die Herren oft fast absichtlich. So Barth z.B. bei Priesterstand und Religion, S. 475 bei Ihnen. Über Ihre Abfertigung dieses über alle Erwartung flachen Burschen habe ich mich sehr gefreut. Und den Mann machen sie zum Geschichtsprofessor in Leipzig! Da war doch der alte Wachsmuth, der auch flach von Hirnkasten war, aber einen sehr großen Sinn für Tatsachen hatte, ein ganz andrer Kerl.

Im übrigen kann ich von dem Buch nur wiederholen, was ich schon von den Artikeln, als sie in der „N[euen] Z[eit]" erschienen, wiederholt gesagt habe: Es ist bei weitem die beste Darstellung der Genesis des preußischen Staats, die existiert, ja ich kann wohl sagen, die einzig gute, in den meisten Dingen bis in die Einzelheiten hinein richtig die Zusammenhänge ent­wickelnde. Man bedauert nur, daß Sie nicht auch gleich die ganze Weiter­entwicklung bis auf Bismarck haben mit hineinnehmen können, und hofft unwillkürlich, daß Sie dies ein andermal tun und das Gesamtbild im Zu­sammenhang darstellen werden vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zum alten Wilhelm. Sie haben ja doch die Vorstudien einmal gemacht und wenigstens der Hauptsache nach so gut wie beendigt. Und gemacht werden muß es ja doch einmal, ehe der Rumpelkasten zusammenbricht; die <99>Auflösung der monarchisch-patriotischen Legenden ist, wenn auch nicht grade eine notwendige Voraussetzung der Beseitigung der die Klassenherr­schaft deckenden Monarchie (da eine reine, bürgerliche Republik in Deutsch­land überholt ist, ehe sie zustande kam), aber doch einer der wirksamsten Hebel dazu.

Dann werden Sie auch mehr Raum und Gelegenheit haben, die preu­ßische Lokalgeschichte als Stück der deutschen Gesamtmisere darzustellen. Es ist das der Punkt, wo ich von Ihrer Auffassung hier und da etwas ab­weiche, namentlich in der Auffassung der Vorbedingungen der Zersplitte­rung Deutschlands und des Fehlschlagens der deutschen bürgerlichen Re­volution des 16. Jahrhunderts. Wenn ich dahin komme, die historische Ein­leitung zu meinem „Bauernkrieg" neu zu bearbeiten, was, wie ich hoffe, nächsten Winter geschieht, dann werde ich die bezüglichen Punkte dort entwickeln können.2 Nicht daß ich die von Ihnen angegebnen für un­richtig hielte, aber ich stelle andre daneben und gruppiere etwas anders.

Beim Studium der deutschen Geschichte - die ja eine einzige fort­laufende Misère darstellt - habe ich immer gefunden, daß das Vergleichen der entsprechenden französischen Epochen erst den rechten Maßstab gibt, weil dort das grade Gegenteil von dem geschieht, was bei uns. Dort die Herstellung des Nationalstaats aus den disjectis membris des Feudalstaats, grade als bei uns der Hauptverfall. Dort eine seltne objektive Logik in dem ganzen Verlauf des Prozesses, bei uns öde und stets ödere Zerfahrenheit. Dort repräsentiert der englische Eroberer im Mittelalter in seiner Ein­mischung zugunsten der provenzalischen Nationalität gegen die nord­französische die fremde Einmischung; die Engländerkriege stellen sozu­sagen den 30jährigen Krieg vor, der aber mit der Vertreibung der aus­ländischen Einmischung und der Unterwerfung des Südens unter den Norden endigt. Dann kommt der Kampf der Zentralmacht mit dem sich auf ausländische Besitzungen stützenden burgundischen Vasallen, der die Rolle von Brandenburg-Preußen spielt, der aber mit dem Sieg der Zentral­macht endigt und die Herstellung des Nationalstaats endgültig macht. Und grade in dem Moment bricht bei uns der Nationalstaat vollständig zusammen (soweit man das „deutsche Königtum" innerhalb des Heiligen Römischen Reichs einen Nationalstaat nennen kann) und die Plünderung deutsches Gebiets auf großem Maßstab fängt an. Es ist ein im höchsten Grad für den Deutschen beschämender Vergleich, aber eben darum um so lehrreicher, und seitdem unsre Arbeiter Deutschland wieder in die erste <100Reihe der geschichtlichen Bewegung gestellt haben, können wir die Schmach der Vergangenheit etwas leichter schlucken.

Ganz besonders bezeichnend für die deutsche Entwicklung ist noch, daß die beiden Teilstaaten, die schließlich ganz Deutschland unter sich ge-teilt, beides keine rein deutschen, sondern Kolonien auf erobertem slawischem Gebiet sind: Österreich eine bayrische, Brandenburg eine sächsische Kolo­nie, und daß sie sich Macht in Deutschland verschafft haben nur dadurch, daß sie sich auf fremden, undeutschen Besitz stützten: Österreich auf Ungarn (von Böhmen nicht zu sprechen), Brandenburg auf Preußen. An der am meisten bedrohten Westgrenze fand so was nicht statt, an der Nord­grenze überließ man den Dänen, Deutschland gegen die Dänen zu schützen, und im Süden war so wenig zu schützen, daß die Grenzwächter, die Schweizer, sich sogar selbst von Deutschland losreißen konnten!

Doch ich gerate auf allerhand Allotria - lassen Sie sich dies Gerede wenigstens zum Beweis dienen, wie anregend Ihre Arbeit auf mich wirkt.

Nochmals herzlichen Dank und Gruß von

Ihrem

F. Engels

1  Paul Barth: "Die Geschichtsphilosophie Hegel's und der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann. Ein kritischer Versuch", Leipzig 1890.

2  Engels hat die Zeit nicht gefunden, seine Schrift "Der deutsche Bauernkrieg" neu zu bearbeiten und zu erweitern. Notizen dazu finden sich in unserem Archiv in den Artikeln [Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie] von 1984 und Zum "Bauernkrieg" ebenfalls 1884 geschrieben