Friedrich Engels

Brief an August Bebel
in Berlin

London, 23.Juli 92

Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Veröffentlichung in
Marx-Engels Werke, Band 38. Briefe von Januar 1891 bis Dezember 1892. Dietz Verlag, Berlin, 1968

Lieber August,

406>Mit Deinem gewöhnlichen Scharfblick hast Du richtig erraten, daß ich Dir mein Gegenwärtiges durch die Hexe01 zukommen lasse. Also vorerst meinen Dank für das k.k. Reichskursbuch und meine Versicherung, daß ich mich bestreben werde, meinen “neuen Kurs” nach Allerhöchst–demselbigen einzurichten. Einige der mysteriösen Zeichen und Wunder, die darin vorkommen, habe ich schon ergründet und hoffe, in den nächsten 14 Tagen damit vollständig auf den Grund zu geraten und infolgedessen nirgends festsitzen zu bleiben.

Also meine Pläne sind wie folgt. Nächsten Mittwoch02 gehe ich zu Pumps03 nach Ryde04 wohin mir alle Briefe nachgeschickt werden. Bleibe dort bis gegen 10. - 15. August, je nach Umständen. Ich erwarte nämlich noch einen Brief von Barmen05 wonach sich der Tag meiner Abreise richten wird. Nach Barmen gehe ich nicht, da hab‘ ich so viel Neffen und Nichten, daß ich mit den Anstandsvisiten allein in 14 Tagen nicht fertig würde. Aber nach Engelskirchen, wo meine Brüder abwechselnd sommerfrischen, will ich auf ein paar Tage. Von da gegen 18. oder 19. nach Zürich, wo ich meiner Cousine, Frau Beust und Familie, einen Besuch, der seit Jahren zugesagt war, machen muß. Ich teile Dir meine Ankunft gleich mit und komme dann am 24. oder 25. nach St. Gallen; wenn Du mich abholst, um so besser. Dann packen wir auf nach Stuckert am Neckarstrande, holen Onkel Georg mit, und fort nach München und — womöglich durch die Alpen — nach Wien usw. Das andre kann sie Dir mündlich erzählen (nämlich nicht Frau Beust, die das grammatische Subjekt, sondern die Hexe, die ja ohnehin ein sehr ungrammatisches Subjekt ist).

Wie Tussy sagt, haben die Wahlen 06 hier im Ostend einen rasenden <407> Enthusiasmus hervorgerufen. Die Arbeiter haben endlich gesehn, daß sie was können, sobald sie nur wollen. Der liberale Zauber ist gebrochen, und auch in der “Workman‘s Times” wird von allen Ecken und Enden die Independent Labour Party07 als das einzig Nötige proklamiert. Dem hartköpfigen John Bull imponiert eben nichts als Tatsachen, diese tun‘s aber auch sicher.

Die Vollmariade beweist wieder, daß der Mann alle Fühlung mit der Partei verloren hat08. Es wird wohl in diesem oder dem nächsten Jahr zum Bruch mit ihm kommen müssen; er scheint die staatssozialistischen Schnurren der Partei mit Gewalt aufdrängen zu wollen. Da er aber ein abgefeimter Intrigant ist, und da ich in Kämpfen mit dieser Art Leuten allerlei Erfahrung habe — M[arx] und ich haben gegenüber dieser Sorte oft Böcke in der Taktik gemacht und entsprechendes Lehrgeld zahlen müssen —, so bin ich so frei, Dir hier einige Winke zu unterbreiten.

Vor allen Dingen gehn diese Leute darauf hinaus, uns formell ins Unrecht zu setzen, und das muß man vermeiden. Sonst reiten sie auf diesem Nebenpunkt herum, um den Hauptpunkt, dessen Schwäche sie fühlen, zu verdunkeln. Also Vorsicht in den Ausdrücken, öffentlich wie privatim. Du siehst, wie geschickt der Kerl Deine Äußerung über L[ie]bk[necht] benutzt, um zwischen ihm, L[iebknecht], und Dir Krakeel zu erzeugen — er kennt ja doch ganz gut Eure gegenseitige Stellung! — und so Dich zwischen zwei Stühle zu setzen.09

Zweitens, da es für sie darauf ankommt, die Hauptfrage zu verdunkeln, muß man jeden Anlaß dazu vermeiden; alle Nebenpunkte, die sie aufrühren, so kurz und so schlagend wie möglich erledigen, damit sie ein für allemal aus der Welt kommen, selbst muß man aber jeden sich etwa bietenden Seitenweg oder Nebenpunkt soweit irgend möglich vermeiden, trotz aller Versuchung. Sonst wird das Feld der Debatte immer ausgedehnter, und der ursprüngliche Streitpunkt verschwindet immer mehr aus dem Gesichtsfeld. Und dann ist auch kein entscheidender Sieg mehr möglich, und das ist für den Klüngler schon ein hinreichender Erfolg und für uns wenigstens eine moralische Schlappe.

Drittens folgt aus 1. und 2., daß gegen solche Leute die reine Defensive so lange die beste Taktik ist, bis sie sich selbst gehörig hineingeritten — dann kurzes erdrückendes Artilleriefeuer und entscheidender Bajonettangriff. Hier wie nirgends sonst heißt es seine Munition und seine Reserven sparen bis auf den letzten Moment.

Jedesmal, wo wir uns von diesen Regeln im Kampf mit den Bakunisten, Proudhonisten, deutschen Professoren und sonstigem derartigen Gelichter <408entfernt, haben wir dafür büßen müssen, und deshalb stelle ich sie Dir hiermit nochmals zur Verfügung.

Also herzlichen Gruß auch an Frau Julie von

Deinem

General

Auf Wunsch von Siegel lege ich seinen letzten Brief bei.

01  Die Hexe ist Louise Kautsky, geborene Strasser (1860-1950). Louise war die erste Ehefrau von Karl Kautsky, bis 1889 (nicht zu verwechseln mit Luise K. – ohne 'o', geborene Ronsperger – seit 1890 Kautskys zweiter Ehefrau), ab 1894 verheiratet mit Ludwig Freyberger. Seit 1890 war sie Engels' Sekretärin.

02  Mittwoch, den 27. Juli 1892

03  Pumps war der Spitzname von Mary Ellen Rosher, geboren ca. 1860 als Mary Ellen Burns. Nichte von Engels' Frauen.

04 , Engels schrieb am 12. Juli 1892 an seinen Bruder Hermann in Barmen, daß er bei seiner geplanten Reise auf den Kontinent um den 10. und 12. August die Verwandschaft in Engelskirchen besuchen mochte.

05  Engels blieb aufgrund einer Erkrankung bis zum 6.September 1892 in Ryde.

06  Wahlsieger der Unterhauswahlen im Sommer 1892 waren die Liberalen, aber von den zahlreichen Kandidaten von sozialistischen und Arbeiterorganisationen hatten drei ihren Wahlkreis gewonnen: James Keir Hardie, John Burns, und John Havelock Wilson.

07  Die Independent Labour Party wurde im Januar 1893 gegründet unter Mitwirkung von Mitgliedern der alten und neuen Trade-Unions, der Fabian Society, der Social Democratic Federation und anderer sozialistischer Vereinigungen.

08  Georg von Vollmar hatte in seinem Artikel "Le socialisme de M. de Bismarck et le socialisme de l'empereur Guillaume" in der Pariser Zeitschrift "Revue bleue. Revue politique et littéraire" vom Juni 1892 behauptet, daß´das Erfurter Programm sich mit mehreren Forderungen dem "Staatssozialismus" von Bismarck und Kaiser Wilhelm II annähere. Das löste eine heftige Polemik in der sozialdemokratischen Presse aus.

09  Vollmar hatte Bebel eine Einmischung in die Redaktion der Parteizeitung "Vorwärts" vorgeworfen, was Bebel in einem Brief an Vollmar zurückwies, er habe Liebknecht seit 2 Wochen nicht gesehen. Vollmar hatte daraufhin in einem Artikel vom 19.7.1892 der "Münchener Post" diesen Brief so entstellt wiedergegeben, als ob Bebel dem Liebknecht die Vernachlässigung seiner Pflichten als Redakteur des "Vorwärts" vorgeworfen hätte.