Engels an Joseph Bloch in Königsberg

Friedrich Engels

21. September 1890. Text und Seitenangaben beruhen auf "MEW 37", d.h. "Karl Marx Friedrich Engels Werke", Band 37, Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Dietz Verlag, Berlin, 1967

Vorbemerkung der Redaktion: Joseph Bloch hatte in seinem Brief vom 3. September 1890 folgende zwei Fragen an Engels gerichtet: 1. Wie es komme, daß selbst nach dem Aufhören der Blutverwandtschaftsfamilie Ehen unter Geschwistern bei den Griechen nicht unstatthaft gewesen seien; 2. Ob nach der materialistischen Geschichtsauffassung die ökonomischen Verhältnisse allein das bestimmende Moment seien oder nur gewissermaßen die feste Grundlage aller anderen Verhältnisse, die dann selbst auch noch wirken können.

London, 21. Sept. 1890

Sehr geehrter Herr,

Ihr Brief vom 3. cr. wurde mir nach Folkestone nachgeschickt; da ich aber das betr. Buch nicht dort hatte, konnte ich ihn nicht beantworten. Am 12. wieder zu Hause eingetroffen, fand ich einen solchen Haufen dringender Arbeit vor, daß ich erst heute dazu komme, Ihnen ein paar Zeilen zu schreiben. Dies zur Erklärung des Aufschubs mit Bitte um gefl. Ent­schuldigung.

Ad I. Erstens ersehen Sie auf S. 19 des „Ursprungs"1, daß der Prozeß des Heranwachsens der Punaluafamilie als so allmählich verlaufend dar­gestellt wird, daß selbst noch in diesem Jahrhundert in der königlichen Familie in Hawai Ehen von Bruder und Schwester (von einer Mutter) vor­kamen. Und im ganzen Altertum finden wir Beispiele von Geschwister­ehen, z. B. noch bei den Ptolemäern. Hier aber ist - zweitens - der Unter­schied zu machen zwischen Geschwistern von mütterlicher oder bloß von väterlicher Seite; αδελφό, 'αδελφή kommen her von δελφύς Gebärmutter, bedeuten also ursprünglich nur Geschwister von Mutterseite. Und aus der Periode des Mutterrechts hat sich noch lange das Gefühl erhalten, daß Kinder einer Mutter, wenn auch verschiedener Väter, einander näherstehen, als Kinder eines Vaters, aber verschiedener Mütter. Die Punaluaform der Familie schließt nur Ehen zwischen ersteren, keineswegs aber zwischen letz­teren aus, die nach der entsprechenden Vorstellung ja gar nicht einmal verwandt sind (da Mutterrecht gilt). Nun beschränken sich, soviel ich weiß, die im griechischen Altertum vorkommenden Fälle von Geschwisterehen auf solche, wo die Leute entweder verschiedene Mütter haben oder doch solche, von denen dies nicht bekannt, also auch nicht ausgeschlossen ist, widersprechen also dem Punaluagebrauch absolut nicht. Sie haben eben über­sehen, daß zwischen der Punaluazeit und der griechischen Monogamie der <463>Sprung aus dem Matriarchat ins Patriarchat liegt, der die Sache bedeutend ändert.

Nach Wachsmuths „Hellen[ischen] Alterthümern"2ist im heroischen Zeitalter bei den Griechen „von Bedenken über zu nahe Verwandtschaft der Ehegatten, abgerechnet das Verhältnis von Eltern und Kindern, keine Spur" (III, p. 157). „Ehe mit der leiblichen Schwester war in Kreta nicht anstößig" (ib. p. 170). Letzteres nach Strabo, X.Buch, ich kann aber die Stelle augenblicklich nicht finden wegen mangelnder Kapiteleinteilung. — Unter leiblicher Schwester verstehe ich bis zum Gegenbeweis Schwestern von Vaterseite.

Ad II qualifiziere ich Ihren ersten Hauptsatz so: Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökono­mische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate - Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. - Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die un­endliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leich­ter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades.

Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden. Aber auch die politischen usw., ja selbst die in den Köpfen der Menschen spukende Tradition, spielen eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende. Der preußische Staat ist auch durch histori­sche, in letzter Instanz ökonomische Ursachen entstanden und fortent­wickelt. Es wird sich aber kaum ohne Pedanterie behaupten lassen, daß unter den vielen Kleinstaaten Norddeutschlands gerade Brandenburg durch <464>ökonomische Notwendigkeit und nicht auch durch andere Momente (vor allen seine Verwickelung, durch den Besitz von Preußen, mit Polen und dadurch mit internationalen politischen Verhältnissen - die ja auch bei der Bildung der österreichischen Hausmacht entscheidend sind) dazu bestimmt war, die Großmacht zu werden, in der sich der ökonomische, sprachliche und seit der Reformation auch religiöse Unterschied des Nordens vom Süden verkör­perte. Es wird schwerlich gelingen, die Existenz jedes deutschen Klein­staates der Vergangenheit und Gegenwart oder den Ursprung der hoch­deutschen Lautverschiebung, die die geographische, durch die Gebirge von den Sudeten bis zum Taunus gebildete Scheidewand zu einem förm­lichen Riß durch Deutschland erweiterte, ökonomisch zu erklären, ohne sich lächerlich zu machen.

Zweitens aber macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine un­endliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante - das geschichtliche Ergebnis - hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich densel­ben Bewegungsgesetzen unterworfen. Aber daraus, daß die einzelnen Willen - von denen jeder das will, wozu ihn Körperkonstitution und äußere, in letzter Instanz ökonomische Umstände (entweder seine eignen persön­lichen oder allgemein-gesellschaftliche) treiben - nicht das erreichen, was sie wollen, sondern zu einem Gesamtdurchschnitt, einer gemeinsamen Resultante verschmelzen, daraus darf doch nicht geschlossen werden, daß sie = 0 zu setzen sind. Im Gegenteil, jeder trägt zur Resultante bei und ist insofern in ihr einbegriffen.

Des weiteren möchte ich Sie bitten, diese Theorie in den Original­quellen und nicht aus zweiter Hand zu studieren, es ist wirklich viel leich­ter. Marx hat kaum etwas geschrieben, wo sie nicht eine Rolle spielt. Be­sonders aber ist „Der 18. Brumaire des L. Bonaparte" ein ganz ausgezeichnetes Beispiel ihrer Anwendung. Ebenso sind im „Kapital" viele Hinweise. Dann darf ich Sie auch wohl verweisen auf meine Schriften: „Herrn E. Dühring's Umwälzung der Wissenschaft" und „L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", wo ich die ausführlichste Darlegung des historischen Materialismus gegeben habe, die meines Wissens existiert.

<465Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst ver­schulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen ge­leugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines histori­schen Abschnitts, also zur praktischen Anwendung kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich. Es ist aber leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren „Marxisten" nicht ersparen, und es ist da dann auch wunderbares Zeug geleistet worden.

Ad I habe ich gestern (ich schreibe dies am 22. Sept.) noch folgende ent­scheidende, meine obige Darstellung vollauf bestätigende Stelle gefunden bei Schoemann, „Griech[ische] Alterthümer"3, Berlin 1855, I, p.52: „Daß aber Ehen zwischen Halbgeschwistern von verschiedenen Müttern im späte­ren Griechenland nicht als Blutschande galten, ist bekannt."

Ich hoffe, die entsetzlichen Einschachtelungen, die mir der Kürze halber in die Feder geflossen sind, werden Sie nicht zu sehr abschrecken, und bleibe

Ihr ergebener

F. Engels

Nach: „Der sozialistische Akademiker". 1. Jg., Nr. 19. Berlin, 1. Oktober 1895.

1  Friedrich Engels: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", in MEW 21, S. 44-45 oder hier in diesem Archiv

2  Wachsmuth, Wilhelm (1784-1866) "Hellenische Alterthumskunde aus dem Gesichtspunkte des Staates", Schwetschke, Halle, erste Auflage 1826 bzw.1830, gesetzt in einer Frakturschrift, zweite "umgearbeitete und vermehrte Ausgabe" 1846, gesetzt in einer Antiqua. In den Bibliotheken finden sich Bände 1 und 2, ein Band III war bei einer Suche im KVK (Karlsruher Virtueller Katalog) nicht zu finden. Es steht zu fürchten, daß die Redakteure des "Sozialistischen Akademikers" nicht das von Engels gemeinte aus dem handschriftlichen Brief entziffern konnten.
Band 1 der ersten Auflage von 1826 "1, Die Verfassungen und das äußere politische Verhältnis der hellenischen Staaten ; Abt. 1, Die Zeit vor den Perserkriegen"
Band 2 der ersten Auflage von 1830: "2, Die Regierung ; Abt. 2, Oeffentliche Zucht, Götterdienst, Kunst, Wissenschaft".
Band 1 der zweiten Auflage von 1846 "Hellenische Alterthumskunde: aus dem Gesichtspunkte des Staats". Halle, Schwetschke & Sohn, 1846 ;
Band 2 der zweiten Auflage von 1846 "Hellenische Alterthumskunde: aus dem Gesichtspunkte des Staats". Schwetschke & Sohn, 1846
Das von Engels Zitierte konnte die mlwerke-Redaktion nicht finden, wohl aber ein passendes: "Die aus den Anfängen des Staatslebens stammende Vorliebe für Verbindung mit Blutsverwandten blieb; für unerlaubt galt jedoch die Ehe zwischen Kindern Einer Mutter, nicht aber hinderte das Gesetz die Ehe eines Bürgers mit einer Schwester, die mit ihm nur den Vater gemein hatte."
in Wachsmuth, 2. Band 2. Aufl. 1846, S. 164 (Fünftes Buch: Recht und Polizei; § 103: Das attische Privatrecht)

3  Schömann, Georg Friedrich (1793-1879): "Griechische Alterthümer. Das Staatswesen", Berlin ; 1855 ; VII, 542 Seiten. Seite 52 in den Digitalen Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek