Sie müssen mir wirklich verzeihen, wenn ich Sie so lange auf Antwort habe warten lassen. Ich habe so viel Störungen aller Art gehabt, daß ich, um endlich einmal an die Arbeit zu kommen, alle Nebensachen übers Knie brechen und alle nicht absolut nötige Korrespondenz beiseite legen mußte. Und da Sie mir mit Ihrer Kolonialfrage[415] ein Pensum stellten, das gar nicht so leicht zu lösen ist, so traf das Schicksal auch Ihre Briefe, und der gute Walter wurde dabei vergessen.
Wenn Walter und Dr. Braun herkommen, so wird es mir angenehm sein, sie zu sehn, und was da für sie zu tun ist, geschieht meinerseits gern. Das andre findet sich dann schon. Aber was soll denn W[alter] eigentlich hier studieren? Darüber muß man sich doch vor allem klarwerden. Sozialismus als solchen? Dazu braucht er nicht herzukommen, das kann er außerhalb Östreich und Deutschland überall; dazu ist das Feld bald erschöpft, d.h. die lesenswerte Literatur. Ökonomie? Geschichte? Da hat er im Britischen Museum embarras de richesses1, so zwar, daß ein Unerfahrner Gefahr läuft, sich alsbald zu verirren. Naturwissenschaft? Dazu gehören Vorlesungen, die hier rasend teuer sind. Ich meine, ehe man den Mann herschickt, sollte man mit ihm einen bestimmten Plan feststellen für seine Studien - wenigstens in den Grundzügen und wenn man mir dann diesen mitteilt, so kann ich eher beurteilen, ob der hier oder anderwärts besser ausführbar ist. Ohne wenigstens einige Kenntnis des Englischen wäre er zudem hier ganz auf dem trocknen. Ich glaube, man würde gut tun, ihn vorher 6 Monate lang Französisch und Englisch studieren zu lassen, damit er beides wenigstens notdürftig lesen kann, ehe er ins Ausland geht. Zudem muß er doch auch sonst gewisse geschichtliche, geographische und womöglich auch mathematische und naturwissenschaftliche Vorkenntnisse haben, wenn er mit Erfolg studieren soll. Wie es damit steht, kann ich nicht wissen; <357>sollte es aber damit hapern, so wäre es sicher am besten, ihn zuerst nach Wien zu ziehn, damit er sich unter Leitung seiner Freunde diese erst aneignet und überhaupt erst lernt, wie man, selbständig gestellt, etwas Tüchtiges lernen kann. Sonst wäre das Geld hier in London doch großenteils weggeworfen. Das sind so Gedanken, die mir bei dem Kasus durch den Kopf gehn, und die vielleicht ganz unangebracht sind, aber ich weiß ja über den Bildungsgrad des jungen Mannes so gut wie nichts, und da glaube ich doch, auf diese Punkte hinweisen zu müssen. Wenn Sie mir darüber nähere Auskunft geben, so sollen Sie nicht auf Antwort zu warten haben. Sonst wissen Sie ja, daß ich immer dafür bin, junge strebsame Leute ins Ausland zu ziehn, damit sie ihren Horizont erweitern und die in der Heimat unumgänglichen Lokalvorurteile abstreifen.
Auf M[arx] dürfen Sie übrigens in Beziehung auf W[alter] nicht viel rechnen. Er wird schwerlich vor nächstem Mai zurückkommen, und auch dann sich wohl noch sehr schonen müssen, um seine Arbeiten zu vollenden. Namentlich ist ihm auch jetzt noch vieles Sprechen streng verboten, und dazu soll er abends Ruhe haben, weil er sonst schlechte Nächte hat. Am Tag aber will er natürlich arbeiten. Wenn man eine langjährige chronische Bronchitis abtöten und nach dreimaliger heftiger Pleuritis dafür sorgen muß, daß nicht nur die Reste davon verschwinden, sondern auch keine neue sich einstellt, und das alles im 65. Jahr, so hat man damit allein schon genug zu schaffen.
Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken: dasselbe, was die Bourgeois davon denken. Es gibt hier ja keine Arbeiterpartei, es gibt nur Konservative und Liberal-Radikale, und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands. Meiner Ansicht nach werden die eigentlichen Kolonien, d.h. die von europäischer Bevölkerung besetzten Länder, Kanada, Kap, Australien, alle selbständig werden; dagegen die bloß beherrschten, von Eingebornen bewohnten Länder, Indien, Algier, die holländischen, portugiesischen und spanischen Besitzungen, vom Proletariat vorläufig übernommen werden und so rasch wie möglich der Selbständigkeit entgegengeführt werden müssen. Wie sich dieser Prozeß entwickeln wird, ist schwer zu sagen, Indien macht vielleicht Revolution, sogar sehr wahrscheinlich, und da das sich befreiende Proletariat keine Kolonialkriege führen kann, würde man es gewähren lassen müssen, wobei es natürlich nicht ohne allerhand Zerstörung abgehn würde, aber dergleichen ist eben von allen Revolutionen unzertrennlich. Dasselbe könnte sich auch noch anderwärts abspielen, z.B. in Algier und <358Ägypten, und wäre für uns sicher das beste. Wir werden genug zu Hause zu tun haben. Ist Europa erst reorganisiert und Nordamerika, so gibt das eine so kolossale Macht und ein solches Exempel, daß die halbzivilisierten Länder ganz von selbst ins Schlepptau kommen; das besorgen allein schon die ökonomischen Bedürfnisse. Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder dann durchzumachen haben, bis sie ebenfalls zur sozialistischen Organisation kommen, darüber, glaube ich, können wir heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen. Nur das eine ist sicher: das siegreiche Proletariat kann keinem fremden Volk irgendwelche Beglückung aufzwingen, ohne damit seinen eignen Sieg zu untergraben. Womit natürlich Verteidigungskriege verschiedner Art keineswegs ausgeschlossen sind.
Diese Geschichte in Ägypten[83] ist von der russischen Diplomatie eingefädelt. Gladstone soll Ägypten nehmen (was er noch lange nicht hat, und wenn er’s hätte, noch lange nicht behält), damit Rußland Armenien nimmt; was ja nach Gladstone wieder die Befreiung eines christlichen Landes vom muhamedanischen Joch wäre. Alles andre bei der Sache ist Schein, Flause, Vorwand. Ob das Plänchen gelingt, wird sich bald zeigen.
Mit bestem Gruß.
Ihr F. E.
Dr. Sax hat mir sein Buch über Thüringen soeben zugeschickt, wollen Sie ihm dafür in meinem Namen danken, sobald ich es gelesen, werde ich ihm antworten.
Deckadresse an mich: Mrs. P. W. Rosher, 122, Regent’s Park Road, ohne inneres Kuvert. Es ist Pumps, sie hat beiläufig auch schon ein kleines Mädchen2. Sie wohnt zwar nicht mehr bei mir, aber das macht nichts aus.