19. Kapitel. Der Stücklohn | Inhalt | 7. Abschnitt. Der Akkumulationsprozeß des Kapitals

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 23, "Das Kapital", Bd. I, Sechster Abschnitt, S. 583 - 588
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1968

ZWANZIGSTES KAPITEL
Nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne

<583> Im fünfzehnten Kapitel beschäftigten uns die mannigfachen Kombinationen, welche einen Wechsel in der absoluten oder relativen (d.h. mit dem Mehrwert verglichen) Wertgröße der Arbeitskraft hervorbringen kann, während andrerseits wieder das Quantum von Lebensmitteln, worin der Preis der Arbeitskraft realisiert wird, von dem Wechsel dieses Preises unabhängige (64) oder verschiedne Bewegung durchlaufen konnte. Wie bereits bemerkt, verwandeln sich durch einfache Übersetzung des Werts, resp. Preises der Arbeitskraft in die exoterische Form des Arbeitslohns alle jene Gesetze in Gesetze der Bewegung des Arbeitslohns. Was innerhalb dieser Bewegung als wechselnde Kombination, kann für verschiedne Länder als gleichzeitige Verschiedenheit nationaler Arbeitslöhne erscheinen. Beim Vergleich nationaler Arbeitslöhne sind also alle den Wechsel in der Wertgröße der Arbeitskraft bestimmende Momente zu erwägen, Preis und Umfang der natürlichen und historisch entwickelten ersten Lebensbedürfnisse, Erziehungskosten des Arbeiters, Rolle der Weiber- und Kinderarbeit, Produktivität der Arbeit, ihre extensive und intensive Größe. Selbst die oberflächlichste Vergleichung erheischt, zunächst den Durchschnitts-Taglohn für dieselben Gewerbe in verschiednen Ländern auf gleich große Arbeitstage zu reduzieren. Nach solcher Ausgleichung der Taglöhne muß der Zeitlohn wieder in Stücklohn übersetzt werden, da nur der letztere ein Gradmesser sowohl für die Produktivität als die intensive Größe der Arbeit.

In jedem Lande gilt eine gewisse mittlere Intensität der Arbeit, unter welcher die Arbeit bei Produktion einer Ware mehr als die gesellschaftlich <584> notwendige Zeit verbraucht, und daher nicht als Arbeit von normaler Qualität zählt. Nur ein über den nationalen Durchschnitt sich erhebender Intensitätsgrad ändert, in einem gegebnen Lande, das Maß des Werts durch die bloße Dauer der Arbeitszeit. Anders auf dem Weltmarkt, dessen integrierende Teile die einzelnen Länder sind. Die mittlere Intensität der Arbeit wechselt von Land zu Land; sie ist hier größer, dort kleiner. Diese nationalen Durchschnitte bilden also eine Stufenleiter, deren Maßeinheit die Durchschnittseinheit der universellen Arbeit ist. Verglichen mit der weniger intensiven, produziert also die intensivere nationale Arbeit in gleicher Zeit mehr Wert, der sich in mehr Geld ausdrückt.

Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, daß auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt, sooft die produktivere Nation nicht durch die Konkurrenz gezwungen wird, den Verkaufspreis ihrer Ware auf ihren Wert zu senken.

Im Maß, wie in einem Lande die kapitalistische Produktion entwickelt ist, im selben Maß erheben sich dort auch die nationale Intensität und Produktivität der Arbeit über das internationale Niveau.(64a) Die verschiedenen Warenquanta derselben Art, die in verschiedenen Ländern in gleicher Arbeitszeit produziert werden, haben also ungleiche internationale Werte, die sich in verschiedenen Preisen ausdrücken, d.h. in je nach den internationalen Werten verschiednen Geldsummen. Der relative Wert des Geldes wird also kleiner sein bei der Nation mit entwickelterer kapitalistischer Produktionsweise als bei der mit wenig entwickelter. Folgt also, daß der nominelle Arbeitslohn, das Äquivalent der Arbeitskraft ausgedrückt in Geld, ebenfalls höher sein wird bei der ersten Nation als bei der zweiten; was keineswegs besagt, daß dies auch für den wirklichen Lohn gilt, d.h. für die dem Arbeiter zur Verfügung gestellten Lebensmittel.

Aber auch abgesehn von dieser relativen Verschiedenheit des Geldwerts in verschiedenen Ländern, wird man häufig finden, daß der Tages-, Wochen-, etc. Lohn bei der ersteren Nation höher ist als bei der zweiten, während der relative Arbeitspreis, d.h. der Arbeitspreis im Verhältnis sowohl zum Mehrwert wie zum Wert des Produkts, bei der zweiten Nation höher steht als bei der ersteren.(65)

<585> J. W. Cowell, Mitglied der Fabrikkommission von 1833, kam nach sorgfältiger Untersuchung der Spinnerei zum Ergebnis, daß

"in England die Löhne der Sache nach niedriger für den Fabrikanten sind als auf dem Kontinent, obwohl sie für den Arbeiter höher sein mögen" (Ure, p. 314).

Der englische Fabrikinspektor Alexander Redgrave weist im Fabrikbericht vom 31. Oktober 1866 durch vergleichende Statistik mit den Kontinentalstaaten nach, daß trotz niedrigerem Lohn und viel längerer Arbeitszeit die kontinentale Arbeit, verhältnismäßig zum Produkt, teurer ist als die englische. Ein englischer Direktor (manager) in einer Baumwollfabrik in Oldenburg erklärt, daß dort die Arbeitszeit von 5.30 Uhr morgens bis 8 Uhr abends währt, samstags eingeschlossen, und daß die dortigen Arbeiter, wenn unter englischen Arbeitsaufsehen, während dieser Zeit nicht ganz soviel Produkt liefern als Engländer in 10 Stunden, unter deutschen Arbeitsaufsehern aber noch viel weniger. Der Lohn stehe viel tiefer als in England, in vielen Fällen um 50%, aber die Zahl der Hände im Verhältnis zur Maschinerie sei viel größer, in verschiedenen Departements im Verhältnis von 5 : 3. Herr Redgrave gibt sehr genaue Details über die russischen Baumwollfabriken. Die Data sind ihm geliefert durch einen dort noch kürzlich beschäftigten englischen manager. Auf diesem russischen Boden, an allen Infamien so fruchtbar, stehn auch die alten Greuel aus der Kindheitspreiode der englischen factories <Fabriken> in vollster Blüte. Die Dirigenten sind natürlich Engländer, da der eingeborene russische Kapitalist nicht für das Fabrikgeschäft taugt. Trotz aller Überarbeit, fortlaufender Tag- und Nachtarbeit und schmählichster Unterzahlung der Arbeiter, vegetiert das russische Fabrikat nur durch Prohibition des ausländischen. - Ich gebe <586> schließlich noch eine vergleichende Übersicht des Herrn Redgrave über die Durchschnitts-Spindelzahl per Fabrik und per Spinner in verschiednen Ländern Europas. Herr Redgrave bemerkt selbst, daß er diese Zahlen vor einigen Jahren gesammelt hat und daß seit der Zeit die Größe der Fabriken und die Spindelzahl per Arbeiter in England gewachsen seien. Er unterstellt aber verhältnismäßig gleich großen Fortschritt in den aufgezählten Kontinentalländern, so daß die Zahlenangaben ihren komparativen Wert behalten hätten.

Durchschnittsanzahl von Spindeln per Fabrik

In England Durchschnittszahl von Spindeln auf je eine Fabrik

12.600

In der Schweiz Durchschnittszahl von Spindeln auf je eine Fabrik

8.000

In Östreich Durchschnittszahl von Spindeln auf je eine Fabrik

7.000

In Sachsen Durchschnittszahl von Spindeln auf je eine Fabrik

4.500

In Belgien Durchschnittszahl von Spindeln auf je eine Fabrik

4.000

In Frankreich Durchschnittszahl von Spindeln auf je eine Fabrik

1.500

In Preußen Durchschnittszahl von Spindeln auf je eine Fabrik

1.500

Durchschnittsanzahl von Spindeln per Kopf

In Frankreich

eine Person auf 14 Spindeln

In Rußland

eine Person auf 28 Spindeln

In Preußen

eine Person auf 37 Spindeln

In Bayern

eine Person auf 46 Spindeln

In Östreich

eine Person auf 49 Spindeln

In Belgien

eine Person auf 50 Spindeln

In Sachsen

eine Person auf 50 Spindeln

In den kleinern deutschen Staaten

eine Person auf 55 Spindeln

In der Schweiz

eine Person auf 55 Spindeln

In Großbritannien

eine Person auf 74 Spindeln

"Diese Vergleichung", sagt Herr Redgrave, "ist, außer andren Gründen, besonders auch deswegen für Großbritannien ungünstig, weil dort eine sehr große Zahl Fabriken existiert, worin die Maschinenweberei mit der Spinnerei verbunden ist, während die Rechnung keinen Kopf für die Webstühle abzieht. Die auswärtigen Fabriken sind dagegen meist bloße Spinnereien. Könnten wir genau Gleiches mit Gleichem vergleichen, so könne ich viele Baumwollspinnereien in meinem Distrikt aufzählen, worin Mules mit 2.200 Spindeln von einem einzigen Mann (minder) und zwei Handlangerinnen überwacht und täglich 220 Pfund Garn, 400 (englische) Meilen in Länge, fabriziert werden."("Reports of Insp. of Fact., 31st Oct. 1866", p. 31-37 passim.)

Man weiß, daß in Osteuropa sowohl wie in Asien englische Kompanien Eisenbahnen in Bau übernommen haben und dabei neben einheimischen auch eine gewisse Zahl englischer Arbeiter verwenden. Durch praktische <587> Notwendigkeit gezwungen, so den nationalen Unterschieden in der Intensität der Arbeit Rechnung zu tragen, hat ihnen das keinen Schaden gebracht. Ihre Erfahrung lehrt, daß, wenn auch die Höhe des Lohnes mehr oder weniger der mittleren Arbeitsintensität entspricht, der relative Arbeitspreis (im Verhältnis zum Produkt) sich im allgemeinen im entgegengesetzten Sinn bewegt.

In "Versuch über die Rate des Arbeitslohns" (66), einer seiner frühsten ökonomischen Schriften, sucht H. Carey nachzuweisen, daß die verschiednen nationalen Arbeitslöhne sich direkt verhalten wie die Produktivitätsgrade der nationalen Arbeitstage, um aus diesem internationalen Verhältnis den Schluß zu ziehen, daß der Arbeitslohn überhaupt steigt und fällt wie die Produktivität der Arbeit. Unsre ganze Analyse der Produktion des Mehrwerts beweist die Abgeschmacktheit dieser Schlußfolgerung, hätte Carey selbst seine Prämisse bewiesen, statt seiner Gewohnheit gemäß unkritisch und oberflächlich zusammengerafftes statistisches Material kunterbunt durcheinanderzuwürfeln. Das Beste ist, daß er nicht behauptet, die Sache verhalte sich wirklich so, wie sie sich der Theorie nach verhalten sollte. Die Staatseinmischung hat nämlich das naturgemäße ökonomische Verhältnis verfälscht. Man muß daher die nationalen Arbeitslöhne so berechnen, als ob der Teil derselben, der dem Staat in der Form von Steuern zufällt, dem Arbeiter selbst zufiele. Sollte Herr Carey nicht weiter darüber nachdenken, ob diese "Staatskosten" nicht auch "naturgemäße Früchte" der kapitalistischen Entwicklung sind? Das Räsonnement ist ganz des Mannes würdig, der die kapitalistischen Produktionsverhältnisse erst für ewige Natur- und Vernunftsgesetze erklärte, deren frei harmonisches Spiel nur durch die Staatseinmischung gestört werde, um hinterher zu entdecken, daß Englands diabolischer Einfluß auf den Weltmarkt, ein Einfluß, der, wie es scheint, nicht den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringt, die Staatseinmischung nötig macht, nämlich den Schutz jener Natur- und Vernunftsgesetze durch den Staat, alias das Protektionssystem. Er entdeckte ferner, daß die Theoreme Ricardos usw., worin existierende gesellschaftliche Gegensätze und Widersprüche formuliert sind, nicht das ideale Produkt der wirklichen ökonomischen Bewegung, sondern daß umgekehrt die wirklichen Gegensätze der kapitalistischen Produktion in England und anderswo das Resultat der Ricardoschen usw. Theorie sind! Er <588> entdeckte schließlich, daß es in letzter Instanz der Handel ist, der die eingebornen Schönheiten und Harmonien der kapitalistischen Produktionsweise vernichtet. Noch einen Schritt weiter, und er entdeckt vielleicht, daß der einzige Mißstand an der kapitalistischen Produktion das Kapital selbst ist. Nur ein Mann von so entsetzlicher Kritiklosigkeit und solcher Gelehrsamkeit de faux aloi <von falschem Gehalt> verdiente, trotz seiner protektionistische Ketzerei, die Geheimquelle der harmonischen Weisheit eines Bastiat und aller andern freihändlerischen Optimisten der Gegenwart zu werden.


Fußnoten

(64) "Es ist nicht richtig, zu sagen, daß die Löhne" (handelt sich hier von ihrem Preise) "gestiegen sind, weil man mit ihnen mehr von einem billigeren Artikel kaufen kann." (David Buchanan in seiner Ausgabe von A. Smiths "Wealth etc.", 1814, v. I, p. 417, Note.) <=

(64a) An andrer Stelle werden wir untersuchen, welche Umstände, in Beziehung auf die Produktivität, dies Gesetz für einzelne Produktionszweige modifizieren können. <=

(65) James Anderson bemerkt in Polemik gegen A. Smith: "Es verdient gleicherweise bemerkt zu werden, daß, obgleich der Preis der Arbeit in armen Ländern, wo die Feldfrüchte, und besonders das Getreide, billig sind, scheinbar gewöhnlich niedriger ist, so ist er doch in der Tat dort meistens wirklich höher als in andern Ländern. Denn nicht der Lohn, den ein Arbeiters pro Tag erhält, stellt den realen Preis der Arbeit dar, obgleich er ihr scheinbarer Preis ist. Der reale Preis ist das, was ein bestimmtes Quantum geleisteter Arbeit den Unternehmer tatsächlich kostet; und unter diesem Gesichtswinkel ist Arbeit in fast allen Fällen in reichen Ländern billiger als in ärmeren, obwohl der Preis des Getreides und anderer Lebensmittel gewöhnlich in den letzteren weit niedriger ist als in den ersteren ... Arbeit im Taglohn ist viel niedriger in Schottland als in England ... Arbeit im Stücklohn ist im allgemeinen billiger in England." (James Anderson, "Observations on the means of exciting a spirit of National Industry etc.", Edinb. 1777, p. 350, 351.) - Umgekehrt produziert ihrerseits die Niedrigkeit des Arbeitslohns Verteuerung der Arbeit. "Arbeit ist teurer in Irland als in England ... weil die Löhne so viel niedriger sind." (Nr. 2074 in "Royal Commission on Railways, Minute", 1867.) <=

(66) "Essay on the Rate of Wages: with an Examination of the Causes of the Differences in the Conditions of the Labouring Population throughout the World", Philadelphia 1835. <=