MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1893

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 538-543.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

[Interview mit dem Korrespondenten der Zeitung "Le Figaro" am 8. Mai 1893]

Aus dem Französischen.


["Le Figaro" vom 13. Mai 1893]

|538| ... Sofort, nachdem sich Engels vom Zweck meines Besuches unterrichtet hatte, erklärte er mir:

"Deutschland tritt in eine der ernstesten Phasen seiner Geschichte, aber ich füge sogleich hinzu, daß wir Sozialisten nichts von der Situation zu befürchten haben; im Gegenteil, wir werden daraus großen Vorteil ziehen. Vor allem unserer Agitation ist es zu verdanken, daß die Rüstungskredite abgelehnt wurden. Es war den verschiedenen Parteien des Parlaments unmöglich, uns zu ignorieren, und noch weniger der Regierung, die sehr wohl weiß, daß wir ihr gefährlichster Gegner sind. Als man in Deutschland vom Entschluß der Regierung erfuhr, neue Rüstungskredite zu fordern, war die Bevölkerung empört, und die Haltung des Zentrums und der Radikalen bei der Abstimmung ist sicherlich durch den Druck der öffentlichen Meinung beeinflußt worden."

"Sehen Sie", fügte Engels hinzu und verlieh seinen Worten besonderen Nachdruck, "in Deutschland sagt das Volk: Wir haben genug Soldaten! Das muß einmal aufhören!"

"Und der neue Reichstag, Herr Engels?"

"In dem Augenblick, da ich mit Ihnen spreche, scheint mir, daß der nächste Reichstag noch weniger als der vergangene geneigt sein wird, die Kredite zu bewilligen. Indes verhehle ich mir nicht die Möglichkeit, daß die Neugewählten, die fünf Jahre Legislaturperiode vor sich haben, mit der Regierung verhandeln könnten, die mit etwas sanfter Gewalt über einen Kompromiß abstimmen lassen wird. Falls der Reichstag die Kredite verweigern sollte, was wahrscheinlich ist, müßte man zu einer zweiten Auflösung Zuflucht nehmen; das hätte nach meiner Überzeugung die Wahl eines Reichstags zur Folge, der sich noch mehr gegen die Annahme der Regierungsvorschläge sträuben würde. Dann wäre der Konflikt akut, und es würde sich nur noch darum handeln festzustellen, wer die Oberhand behält, das Parlament oder der Kaiser. Das wäre eine Wiederholung des Konflikts zwischen |539| Bismarck und dem preußischen Abgeordnetenhaus von 1864, der durch den Krieg mit Österreich beendet wurde."

Durch diese Antwort veranlaßte mich Friedrich Engels, ihm folgende zwei, in der europäischen Presse bereits diskutierte Möglichkeiten vor Augen zu halten: die eines Staatsstreichs Wilhelms II. im Innern und die eines Angriffs nach außen.

"Ein Staatsstreich", erwiderte mir lebhaft mein Gesprächspartner, "ist heute nicht mehr so leicht wie früher. 1864, zur Zeit des Konflikts zwischen Bismarck und dem preußischen Abgeordnetenhaus, war Preußen ein zentralisierter Staat, während heute das Deutsche Reich ein Föderativstaat ist. Die Zentralregierung würde zu viel aufs Spiel setzen, wenn sie einen Staatsstreich wagte. Um die Gewißheit zu haben, ihn durchführen zu können, brauchte sie die einmütige Zustimmung der konföderierten Regierungen. Akzeptierte eine von ihnen den Staatsstreich nicht, so wäre sie von den Verpflichtungen gegenüber dem Reich entbunden, und das würde den Zerfall des Föderativstaats bedeuten. Das ist aber nicht alles. Die Verfassung der Föderation ist die einzige Garantie, die die kleinen Staaten gegen das Übergewicht Preußens haben; verletzen sie diese selber, so liefern sie sich, an Händen und Füßen gebunden, der Willkür der Zentralmacht aus. Ist es wahrscheinlich, daß Bayern in diesem Punkte verzichten würde? Nein, und um mich kurz zu fassen, würde ich folgendes sagen: Um in Deutschland einen Staatsstreich durchführen zu können, müßte der Kaiser entweder das Volk auf seiner Seite haben - und das hat er nicht - oder alle konföderierten Regierungen - und die wird er niemals alle haben."

Da mich Engels' letzte Erklärung nicht überzeugt hatte, bestand ich auf dieser Möglichkeit eines Staatsstreichs im Innern.

"Oh!", erwiderte er, "ich sage keineswegs, daß das, was ich die Revolution von oben nennen würde, nicht eine Drohung für die Zukunft sei. Bebel und mehrere unserer Freunde haben schon gesagt, daß sie ein Attentat auf das allgemeine Wahlrecht voraussehen."

"Würden Sie in diesem Falle die Gewalt mit Gewalt beantworten?"

"Wir würden nicht so närrisch sein, in die Falle zu gehen, die uns die Regierung stellt, denn die deutsche Regierung wünscht nichts sehnlicher als einen Aufstand, um uns vernichten zu können. Wir kennen den gegenwärtigen Stand unserer Kräfte und den der Regierung zu gut, um leichtfertig eine solche Partie zu wagen. Übrigens, würde Wilhelm II. es wagen, das allgemeine Wahlrecht vollständig zu unterdrücken? Das glaube ich nicht. Vielleicht wird er die Altersgrenze für die Wähler heraufsetzen und uns ein revidiertes und korrigiertes allgemeines Wahlrecht bescheren" (und bei diesen Worten begann Engels zu lachen), "mit dem jetzt Belgien Erfahrungen machen wird."

|540| "Befürchten Sie nicht Massenverhaftungen von Abgeordneten der Opposition?"

"Oh!", rief Engels, "niemand in Deutschland hält so etwas für möglich. Es gibt konföderierte Regierungen, Bayern z.B., die niemals einwilligen würden, einen so flagranten Verfassungsbruch zu sanktionieren. Vergessen Sie nicht, daß die Reichsverfassung und der Reichstag für die kleinen Staaten die einzigen Waffen sind, um zu verhindern, daß sie von der preußischen Regierung absorbiert werden."

Wir gelangten dann zu der Hypothese eines Angriffs nach außen. Engels ist weit davon entfernt, Pessimist zu sein.

"Augenscheinlich", erklärte er mir, "kann plötzlich ein Krieg ausbrechen. Aber wer würde es heute wagen, die Verantwortung auf sich zu nehmen, ihn zu provozieren, wenn nicht vielleicht Rußland, dessen Territorium infolge seiner ungeheuren Ausdehnung nicht erobert werden kann? ... Und dennoch! ... Im Augenblick befindet sich Rußland in einer solchen Situation, daß es einen Krieg keine vier Wochen aushalten könnte, wenn es nicht Geld aus dem Ausland bekäme."

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Hier hielt mein Gesprächspartner einen Augenblick inne, dann sagte er mit kaum verhaltenem Zorn:

"Wahrhaftig, ich begreife die französische Regierung nicht. Rußland braucht doch Frankreich, und nicht Frankreich Rußland. Rußland ist ruiniert, sein Boden ist erschöpft. Wenn die französische Regierung die Situation so auffaßte, wie sie tatsächlich ist, könnte sie von Rußland alles haben, was sie wollte ... alles ... alles ... außer Geld und wirksame militärische Hilfe. Ohne Frankreich wäre Rußland isoliert, vollkommen isoliert ... Und man erzähle mir nichts von der militärischen Stärke der Russen! Erinnern Sie sich an den Türkischen Krieg. Ohne die Rumänen waren die Russen vor Plewna machtlos ... Nein, je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich an einen Krieg. Seine Aussichten sind heute so ungewiß! Die Armeen sind auf einen ganz neuen Stand gebracht, der alle Berechnungen umstößt. Da gibt es Gewehre, mit denen man zehn Schüsse in der Minute abgeben kann, deren Reichweite sich der einer Kanone nähert und deren Projektile eine unerhörte Durchschlagskraft haben! Da gibt es Melinitgranaten, Roburitgranaten etc.! All diese furchtbaren Zerstörungswerkzeuge wurden noch niemals in einem Krieg erprobt. Wir wissen daher überhaupt nicht, welche Wirkung diese Revolution in der Bewaffnung auf die Taktik und die Moral des Soldaten ausüben wird.

Wenn Wilhelm II. sich in den Krieg stürzen wollte, würde er in seinem eigenen Generalstab auf Widerstand stoßen; man würde ihn das ungeheure Risiko eines Krieges spüren lassen. Zur Zeit Napoleons III. konnte man |541| lokalisierte Kriege führen, heute wäre der Krieg allgemein und Europa an England ausgeliefert, denn England könnte die eine oder die andere kriegführende Seite nach Belieben aushungern. Weder Deutschland noch Frankreich erzeugen genug Getreide im eigenen Lande; sie sind gezwungen, es aus dem Ausland einzuführen. Sie versorgen sich namentlich in Rußland. Stände Deutschland mit Rußland im Kriege, könnte es keinen einzigen Hektoliter Getreide bekommen. Zöge Zentraleuropa gegen Frankreich zu Felde, wäre andererseits Frankreich vom russischen Getreide abgeschnitten. Es bliebe also nur noch der Seeweg offen. Das Meer aber befände sich in Kriegszeiten mehr denn je in der Macht der Engländer. Da die englische Regierung den Schiffahrtsgesellschaften, welche die verschiedenen Überseedienste versehen, Gelder bewilligt, stehen ihr auch deren unter ihrer Kontrolle gebauten Schiffe zur Verfügung. So besäße England im Falle einer Kriegserklärung außer seiner mächtigen Flotte noch fünfzig bis sechzig Kreuzer, deren Aufgabe es wäre, die Lieferungen an diesen oder jenen Kriegsteilnehmer, gegen den England auftreten würde, zu unterbinden. Selbst wenn es neutral bliebe, wäre es noch der oberste Richter der Situation. Während die kriegführenden Länder sich im Kampfe erschöpfen würden, könnte es zum geeigneten Zeitpunkt seine Friedensbedingungen diktieren. Im übrigen, beruhigen Sie sich über die Möglichkeit eines von Wilhelm II. provozierten Krieges. Der deutsche Kaiser hat viel von seinem anfänglichen Ungestüm verloren ..."

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Es blieb mir noch, Herrn Engels über einen wichtigen Punkt zu befragen: über die Aussichten der deutschen Sozialisten bei den bevorstehenden Wahlen.

"Ich bin überzeugt", antwortete er auf diese Frage, "daß wir gegenüber den Wahlen von 1890 siebenhunderttausend bis eine Million Stimmen gewinnen werden. Wir werden also insgesamt zweieinviertel, wenn nicht zweieinhalb Millionen Stimmen auf uns vereinen. Aber die eroberten Sitze werden dieser Zahl nicht entsprechen ... Wenn die Sitze gleichmäßig verteilt wären, hätten wir nach den Wahlen, die uns anderthalb Millionen Stimmen brachten, im letzten Reichstag achtzig Abgeordnete haben müssen statt sechsunddreißig. Nach der Reichsgründung, als die Wahlbezirke festgelegt wurden, hat sich die Verteilung der Bevölkerung zu unseren Ungunsten verändert. Bei der Bildung der Wahlbezirke galt folgende Regel: ein Abgeordneter auf 100.000 Einwohner. Berlin aber, das immer nur sechs Abgeordnete stellt, hat gegenwärtig eine Bevölkerung von mehr als anderthalb Millionen. Berlin müßte heute also von Rechts wegen sechzehn Abgeordnete haben. Ein anderes Beispiel: Köln, das jetzt 250.000 Einwohner zählt, hat immer nur einen Abgeordneten."

|542| "Wird die sozialistische Partei in allen Wahlbezirken Kandidaten aufstellen?"

"Ja, wir werden in den 400 Wahlbezirken Kandidaten aufstellen. Uns kommt es darauf an, eine Heerschau unserer Kräfte zu halten."

"Und was ist Ihr, der deutschen Sozialisten, Endziel?" Herr Engels sah mich einige Augenblicke an und sagte dann:

"Aber wir haben kein Endziel. Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren. Vorgefaßte Meinungen in bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im einzelnen? Davon werden Sie bei uns keine Spur finden. Wir sind schon zufrieden, wenn wir die Produktionsmittel in die Hände der ganzen Gesellschaft gebracht haben, und wir wissen wohl, daß das bei der gegenwärtigen monarchistischen und föderativen Regierung ein Ding der Unmöglichkeit ist."

Ich erlaubte mir zu bemerken, daß mir die Zeit noch sehr fern scheint, da die deutschen Sozialisten imstande sein werden, ihre Theorien zu verwirklichen.

"Nicht so fern, wie Sie denken", erwiderte Herr Engels. "Ich meine, es naht die Zeit, da unsere Partei berufen sein wird, die Regierung in ihre Hände zu nehmen ... Gegen Ende des Jahrhunderts werden Sie dieses Ereignis vielleicht eintreten sehen.

Schauen Sie sich doch die Zahl unserer Anhänger seit dem Beginn unserer parlamentarischen Kämpfe an! Bei jeder Wahl ist ein ständiges Anwachsen zu verzeichnen. Was mich angeht, so bin ich überzeugt, wenn der letzte Reichstag seine gesetzliche Dauer gehabt hätte, d.h. wenn die Wahlen erst 1895 stattgefunden hätten, dann hätten wir dreieinhalb Millionen Stimmen auf uns vereinigt. Nun gibt es aber in Deutschland zehn Millionen Wähler, von denen durchschnittlich sieben Millionen abstimmen. Mit dreieinhalb Millionen von sieben Millionen Wählern kann das Deutsche Reich in seiner jetzigen Form nicht weiterbestehen. Und ... vergessen Sie das nicht - das ist sehr wichtig - die Zahlen unserer Wähler zeigen uns die Zahl unserer Anhänger in der Armee. Da schon anderthalb Millionen von zehn Millionen Wählern, das ist etwa ein Siebentel der Bevölkerung, für uns stimmen, können wir damit rechnen, daß auf sechs Soldaten ein Unsriger kommt. Wenn wir dreieinhalb Millionen Stimmen haben werden - was nicht mehr sehr fern ist - wird die Hälfte der Armee auf unserer Seite sein."

Da ich über die Prinzipientreue der sozialistischen Soldaten in der Armee im Falle einer Revolution Zweifel äußerte, erklärte mir Herr Engels wörtlich:

"An dem Tage, an dem wir in der Mehrheit sein werden, wird sich das, was die französische Armee instinktiv getan hat, als sie nicht auf das Volk schoß, bei uns in bewußter Weise wiederholen. Ja, was die verängstigten Bourgeois auch sagen mögen, wir können den Zeitpunkt berechnen, zu dem |543| wir die Mehrheit der Bevölkerung auf unserer Seite haben werden; unsere Ideen verbreiten sich überall, unter den Professoren, den Ärzten, den Rechtsanwälten etc. ebenso wie unter den Arbeitern. Wenn wir morgen die Leitung der Staatsgeschicke in die Hand nehmen müßten, brauchten wir Ingenieure, Chemiker und Agronomen. Nun, ich bin überzeugt, daß bereits eine ganze Anzahl von ihnen auf unserer Seite steht. In fünf oder zehn Jahren werden wir ihrer mehr haben, als wir benötigen."

Und nach diesen äußerst optimistischen Worten nahm ich von Herrn Friedrich Engels Abschied.


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