MLWerke | Marx/Engels - Werke | Artikel und Korrespondenzen 1892 | ||
Seitenzahlen verweisen auf: | Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 533-537. | |
Korrektur: | 1 | |
Erstellt: | 06.04.1999 |
Aus dem Französischen.
["L'Eclair" vom 6. April 1892]
|533| Herr Engels, ein Feind jeglicher Interviews, hatte die Güte, uns zuliebe eine Ausnahme zu machen und uns seine Eindrücke mitzuteilen.
"Was denken Sie", fragten wir ihn, "über die jüngsten Attentate, die in Paris von den Anarchisten verübt wurden?"
"Ich kann darin nur das Werk von agents provocateurs sehen, die dafür bezahlt werden, daß sie versuchen, die Parteien, in denen sie eine Rolle spielen, in Mißkredit zu bringen. Die Regierung hat das größte Interesse an diesen Explosionen, die zugleich den Interessen der Bourgeoisie im allgemeinen und den Intrigen gewisser politischer Gruppen im besonderen dienen. Was man tatsächlich will, ist folgendes - die Bevölkerung erschrecken, den Terror organisieren und damit eine Reaktion herbeiführen.
Dieselbe Methode wurde kürzlich in Deutschland während der 'Berliner Unruhen' angewandt. Auch hier werden wir gut daran tun, die Hand der Polizei zu suchen. Sicherlich konnten am ersten Tage dieser angeblich sozialistischen Demonstrationen einige der Unsrigen in die Bewegung hineingeraten sein, aber unsere irregeführten Freunde haben den wahren Charakter der Demonstration rasch erkannt und sich sofort zurückgezogen.
Der Beweis dafür ist, daß mehrere Läden, die bekannten Sozialisten gehören, geplündert wurden. Der Prozeß gegen die verhafteten Aufrührer zeigte, daß die Anstifter Antisemiten waren, die den Hunger einiger armer Teufel auszunutzen suchten, um sie 'Nieder mit den Juden!' schreien zu lassen.
In Italien - ebenfalls dasselbe System bei dem Prozeß gegen Cipriani und die anderen Anarchisten. Auch dort wurden die Machenschaften der agents provocateurs vor dem Schwurgericht aufgedeckt.
Aber das gelingt nicht immer. In Paris haben sich ein oder zwei Elende gefunden, die das Spiel der Polizei mitmachten, aber niemand, außer der Polizei selber, wird behaupten können, daß sie der sozialistischen Partei angehören."
Die russische Diplomatie
"Fürchten Sie nicht, daß all diese inneren Erschütterungen die Regierungen dahin bringen, den Ausweg in einem europäischen Krieg zu suchen? Zum Beispiel Ihr Kaiser Wilhelm ...""Nein. Ich wünsche, daß Kaiser Wilhelm lange lebe zum größten Wohle der deutschen Sozialisten", sagte Herr Engels lachend. "Übrigens glaube ich nicht an einen unmittelbar bevorstehenden Krieg."
"Hat Ihnen die Allianz Rußlands mit Frankreich keine Besorgnis in dieser Hinsicht eingeflößt?"
"Keine. Im vergangenen Jahre gab es in Rußland vielleicht Aggressionsgelüste. Die Demonstrationen von Kronstadt, das ganz offensichtliche Entgegenkommen des kaiserlichen Rußlands gegenüber dem republikanischen Frankreich konnten verdächtig erscheinen. Die Truppenkonzentrationen an der Grenze schienen auch einigen Alarm zu verursachen. Aber heute ist es ganz anders.
Rußland müßte tatsächlich einen Krieg führen wollen, den es nicht führen könnte. Aber es hat augenblicklich einen schlimmeren Feind als alle anderen zu bekämpfen: den Hunger.
Diese Geißel ist nicht das Ergebnis einer vorübergehenden Notlage, die durch schlechte Witterungsverhältnisse oder anderes entstand: Sie ist die Frucht der neuen Organisation der russischen Gesellschaft.
Seit dem Krimkrieg, in dem ganze Regimenter im Schnee umkamen, hat sich die Situation sehr verändert. Dieser Krieg kennzeichnet den Beginn einer großen Krise in der russischen Geschichte. Als die Niederlage vollständig und die Ohnmacht Rußlands ganz Europa klar vor Augen geführt worden war und als Zar Nikolaus verzweifelt feststellte, in welch beklagenswertem Zustand sich sein Reich befand, zögerte er nicht, sich zu vergiften. So sah sich Alexander II. bei der Thronbesteigung verpflichtet, irgend etwas zu versuchen, um der schrecklichen Situation abzuhelfen, in der sich sein Land befand.
Die Ursachen der Hungersnot in Rußland
Und damals ging der Zar an die Emanzipation der Leibeigenen, eine Emanzipation, die als Vorwand für eine Neuaufteilung der Ländereien zwischen den Adligen und den Bauern diente. Den Adligen gab man die besseren Ländereien, dazu die Gewässer und Wälder. Den Bauern überließ man nur Landstücke geringerer Qualität; überdies erfolgte diese Verteilung auf unbefriedigende Art und Weise und gegen eine Ablösungssumme, die in Jahresraten im Laufe von 49 Jahren zu zahlen war! Was ist dabei herausgekommen?
|535| Die Bauern konnten die Abgaben an den Staat nicht zahlen und waren gezwungen, Geld zu leihen: sie hatten zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig. Eine Bande von Kulaken (Geldverleihern) stürzte sich auf diese Ackerleute, und nach und nach gerieten diese so in Schulden, daß sie jede Hoffnung verloren, sich jemals befreien zu können. Wenn die Wucherer keine Vorschüsse mehr geben wollten, waren die Bauern gezwungen, ihre Ernten zu verkaufen, um sich Geld zu verschaffen, und sie verkauften nicht nur das für ihre Ernährung notwendige Getreide, sondern auch jenes, das für die Aussaat unerläßlich war, so daß die künftigen Ernten in Frage gestellt wurden.
Unter diesen Umständen mußte die erste schlechte Ernte zu einer wahren Hungersnot führen. Diese Hungersnot kam und versetzte ihrerseits der landwirtschaftlichen Produktion Rußlands den letzten Schlag. Der Bauer, der sein Vieh nicht mehr ernähren konnte, war tatsächlich gezwungen, es entweder zu töten oder zu verkaufen. Ohne Haustiere jedoch kann man das Land weder bearbeiten noch düngen. So ist die landwirtschaftliche Produktion auf Jahre hinaus lahmgelegt.
Die Emanzipation der Bauern war nur die eine Seite der ökonomischen Revolution, die in Rußland vor sich gegangen ist; die andere ist die künstliche Schaffung einer Industriebourgeoisie, dazu bestimmt, als Zwischenklasse zu dienen. Um schneller dahin zu gelangen, errichtete man ein ganzes Prohibitivsystem, das die russische Industrie auf eine außergewöhnliche Art begünstigte und entwickelte; da aber diese Industrie nicht exportieren konnte, brauchte sie einen inneren Markt. Der russische Bauer kauft aber fast gar nichts, da er gewöhnt ist, alles selber herzustellen: Häuser, Handwerkszeug, Kleidung etc.; er fertigte sogar noch unlängst viele Artikel aus Holz, Eisen und Leder selber und verkaufte sie auf den Jahrmärkten. Als man aber den Bauern das Holz entzog, indem man die Wälder den Gutsbesitzern gab, geriet die ländliche Industrie in Gefahr. Die Fabrikindustrie richtete sie vollends zugrunde, und nun mußten die Bauern zur Fabrikindustrie Zuflucht nehmen. In dem Augenblick jedoch, als diese Industrie dabei war, ihren Siegeszug anzutreten, versetzte ihr die Hungersnot einen tödlichen Schlag: die Bauern können nichts mehr von ihr kaufen, und der Ruin der einen führt zum Ruin der anderen."
Die ökonomische und militärische Situation
"Dann wird also nach Ihrer Ansicht die ökonomische Situation Rußlands es daran hindern, an einen Krieg zu denken?"
"Ja. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß das Bild, das Vauban und Boisguillebert vom französischen Bauern im siebzehnten Jahrhundert zeichneten, sich auf den russischen Bauern anwenden läßt, der heute |536| genötigt ist, Gras zu essen. Der Übergang vom Feudalregime zum bürgerlichen Regime vollzog sich in Frankreich nicht ohne Erschütterungen; in Rußland erzeugte er soeben eine Krise, die aus dem jetzigen akuten Zustand chronisch zu werden droht. Aus allen diesen Gründen denken die Russen im Augenblick eher ans Essen als daran, sich zu schlagen."
"Die letzte russische Anleihe ..."
"Von ihr wollte ich gerade sprechen. Das ist ein kolossaler Mißerfolg. Die französische Bourgeoisie, die sehr gern von Revanche spricht, hat es mit dem Patriotismus nicht so weit getrieben, daß sie ihre Börse öffnete. Die Zarenregierung bat um zwanzig Millionen Pfund Sterling; sie hat nur zwölf erhalten..."
"Man hat gesagt, daß die Rothschilds zum Mißerfolg dieser Anleihe beigetragen hätten, um ihre von der russischen Regierung verfolgten Glaubensgenossen zu rächen?"
"Ich habe die Rothschilds zur Genüge angegriffen, als daß ich sie gegen die Behauptung verteidigen könnte, sie seien so dumm. Die Rothschilds haben sich ausschließlich mit ihren Bankiersinteressen beschäftigt -, Interessen, die darin bestanden, die größtmöglichen Geschäfte zu ergattern und die größtmögliche Zahl von Leichtgläubigen auszubeuten, das ist alles."
"Um zusammenzufassen: Sie glauben nicht an die Macht Rußlands?"
"Rußland, stark in der Defensive, ist nicht stark im Angriff, weder zu Wasser noch zu Lande. Ich habe Ihnen gezeigt, daß ihm seine ökonomische Situation nicht gestattet, sich in gefährliche und kostspielige Unternehmungen einzulassen. Wenn wir seine militärische Organisation prüfen, sehen wir, daß es auch von dieser Seite nicht furchterregend ist.
Im Falle eines Krieges würde es nicht mehr Soldaten an die Front schicken können, als es gegenwärtig unter Waffen hat. Seine Reserven existieren nur auf dem Papier, und wenn es Tausende und aber Tausende Soldaten haben kann, so fehlen ihm doch die Reserveoffiziere, um sie einzureihen. Woher sollte man sie denn auch nehmen? Aus welchen Kreisen?
In Deutschland haben wir auf 100 Reserveoffiziere 50 mehr, als wir brauchen. Wäre nicht auch Frankreich in dieser Beziehung relativ unterlegen?" sagte unser Gesprächspartner.
Das starke Frankreich
" ... Keinesfalls", antworteten wir. "In Frankreich haben wir nicht allzuviele Offiziere, aber die Kerntruppen sind vollzählig."
"Das mißfällt mir durchaus nicht", sagte uns Herr Engels. "Ich möchte die deutsche Armee nicht so stark sehen, daß sie ganz Europa erobern könnte. Um unser Ziel zu erreichen, kann die Befreiungsbewegung der europäischen Arbeiterklasse ein mächtiges Frankreich, das Herr seiner |537| selbst ist, ebensogut benötigen wie ein Deutschland, das die gleichen Vorteile genießt. Ihr großer Landsmann Saint-Simon hat als erster die Notwendigkeit einer Allianz von Frankreich, England und Deutschland als erste Voraussetzung für die Ruhe in Europa verkündet. Das wäre die wahre 'Tripelallianz'."
"Gestatten Sie uns, um zum Schluß zu kommen, Ihnen zu sagen, daß Sie ein etwas düsteres Bild von der Situation in Rußland entworfen haben."
"Keinesfalls. Hören Sie zu; Wollen Sie eine Anekdote hören? Sie wissen, daß beschlossen wurde, als Hilfe für die hungernden russischen Bauern Getreide aus dem Kaukasus zu schicken, wo man zuviel davon hatte. Man erteilte entsprechende Befehle; das Getreide wurde in großer Menge herbeigeschafft und Waggons geschickt, um es wegzutransportieren. Nun passierte es jedoch, daß die leer entsandten Waggons in so großer Anzahl zusammengestellt wurden, daß es eine Stauung gab: das Getreide lag neben den Waggons, und diese konnten nicht abfahren. Als der Zar |Alexander III.| davon erfuhr, geriet er in heftigen Zorn und schickte einen General an Ort und Stelle; der Militär machte viel Lärm, verkündete, alles ginge gut, vermochte aber nur einige Züge abzufertigen: der größte Teil des Getreides verfaulte dort, wo es lag. Was hätte das im Falle einer Mobilmachung ergeben? Rußland hat noch nicht so viele Eisenbahnen, und seine Offiziere wissen sich nicht einmal ihrer zu bedienen."
Die Frage Elsaß-Lothringen
"Noch eine Frage: und Elsaß-Lothringen, die Ursache aller Zwistigkeiten? Glauben Sie nicht an eine friedliche Lösung, die zugleich Frankreich und Deutschland zufriedenstellen würde?"
"Ich hoffe, daß die deutsche sozialistische Partei in etwa zehn Jahren an der Macht sein wird. Es wird ihre erste Sorge sein, die Elsaß-Lothringer in die Lage zu versetzen, ihre politische Zukunft selbst zu bestimmen. Folglich wird die Frage entschieden werden, ohne daß sich ein einziger französischer Soldat rührt. Umgekehrt wäre ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich das einzige Mittel, den Machtantritt der Sozialisten zu verhindern. Und wenn Frankreich und Rußland, miteinander verbündet, Deutschland angriffen, würde dieses seine nationale Existenz, an der die deutschen Sozialisten noch mehr interessiert sind als die Bourgeois, bis zum äußersten verteidigen. Die Sozialisten würden bis auf den letzten Mann kämpfen und nicht zögern, zu den revolutionären Mitteln zu greifen, die von Frankreich 1793 angewandt wurden."
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