MLWerke Marx/Engels - Werke

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 447-473.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Zur Geschichte des Urchristentums

Geschrieben zwischen dem 19. Juni und 16. Juli 1894.
Nach: "Die Neue Zeit", Nr. 1 und 2, 13. Jahrgang, I. Band, 1894-1895.


I

|449| Die Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese, war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft. Beide werden verfolgt und gehetzt, ihre Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt, die einen als Feinde des Menschengeschlechts, die andern als Reichsfeinde, Feinde der Religion, der Familie, der gesellschaftlichen Ordnung. Und trotz aller Verfolgungen, ja sogar direkt gefördert durch sie, dringen beide siegreich, unaufhaltsam vor. Dreihundert Jahre nach seinem Entstehen ist das Christentum anerkannte Staatsreligion des römischen Weltreichs, und in kaum sechzig Jahren hat sich der Sozialismus eine Stellung erobert, die ihm den Sieg absolut sicherstellt.

Wenn also Herr Professor Anton Menger in seinem "Recht auf den vollen Arbeitsertrag" sich wundert, warum bei der kolossalen Zentralisation des Grundbesitzes unter den römischen Kaisern und bei den maßlosen Leiden der damaligen, fast ausschließlich aus Sklaven bestehenden Arbeiterklasse "auf den Sturz des weströmischen Reichs nicht der Sozialismus gefolgt sei", - so sieht er eben nicht, daß dieser "Sozialismus", soweit er damals möglich war, in der Tat bestand und auch zur Herrschaft kam - im Christentum. Nur daß dies Christentum, wie dies den geschichtlichen Vorbedingungen nach gar nicht anders sein konnte, die soziale Umgestaltung nicht in dieser Welt verwirklichen wollte, sondern im Jenseits, |450| im Himmel, im ewigen Leben nach dem Tod, im nahe bevorstehenden "Tausendjährigen Reich".

Die Parallele beider geschichtlichen Erscheinungen drängt sich schon im Mittelalter auf, bei den ersten Erhebungen unterdrückter Bauern und namentlich städtischer Plebejer. Diese Erhebungen, wie alle Massenbewegungen des Mittelalters, trugen notwendig eine religiöse Maske, erschienen als Wiederherstellungen des Urchristentums aus eingerissener Entartung (1); aber regelmäßig verbargen sich hinter der religiösen Exaltation sehr handfeste weltliche Interessen. Am großartigsten trat dies hervor in der Organisation der böhmischen Taboriten unter Johann }i~ka glorreichen Angedenkens; aber durch das ganze Mittelalter geht dieser Zug, bis er nach dem deutschen Bauernkrieg allmählich einschläft, um wieder zu erwachen bei den Arbeiterkommunisten nach 1830. Sowohl die französischen revolutionären Kommunisten wie namentlich Weitling und seine Anhänger berufen sich aufs Urchristentum, lange bevor Ernest Renan sagte: Wollt ihr euch eine Vorstellung von den ersten christlichen Gemeinden machen, so seht euch eine lokale Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation an.

|451| Der französische Belletrist, der auf Grundlage einer selbst in der modernen Journalistik beispiellosen Ausschlachtung der deutschen Bibelkritik den kirchengeschichtlichen Roman: "Origines du Christianisme" anfertigte, wußte selbst nicht, wieviel Wahres in obigem Worte lag. Ich möchte den alten "Internationalen" sehen, der z.B. den sogenannten zweiten Brief Pauli an die Korinther lesen kann, ohne daß wenigstens in einer Beziehung alte Wunden bei ihm aufbrechen. Der ganze Brief, vom achten Kapitel an, hallt den ewigen, ach so wohlbekannten Klageton wider: les cotisations ne rentrent pas - die Beiträge wollen nicht einkommen! Wie viele der eifrigsten Propagandisten der sechziger Jahre würden dem Verfasser dieses Briefs, wer er auch sei, verständnisinnig die Hand drücken und flüstern; also auch dir ging's so! Auch wir können ein Liedchen davon singen - auch in unsrer Assoziation wimmelte es von Korinthern - diese nicht einkommenden Beiträge, die unfaßbar vor unsren Tantalusblicken umherflatterten, das waren ja grade die berühmten "Millionen der Internationale"!

Eine unsrer besten Quellen über die ersten Christen ist Lucian von Samosata, der Voltaire des klassischen Altertums, der gegen jede Art religiösen Aberglaubens sich gleich skeptisch verhielt und daher weder heidnisch-gläubige noch politische Gründe hatte, die Christen anders zu behandeln als irgendwelche andre Religionsgenossenschaft. Im Gegenteil, er verspottet sie alle ihres Aberglaubens halber, die Jupiter-Anbeter nicht minder als die Christus-Anbeter; für seinen flach-rationalistischen Standpunkt ist die eine Sorte Aberglauben ebenso albern wie die andre. Dieser jedenfalls unparteiische Zeuge erzählt unter anderm auch die Lebensgeschichte eines Abenteurers Peregrinus, der sich Proteus nannte, aus Parium am Hellespont. Besagter Peregrinus debütierte in seiner Jugend in Armenien mit einem Ehebruch, wurde auf frischer Tat ertappt und nach Landessitte gelyncht. Glücklich entrannt, erdrosselte er in Parium seinen Vater und mußte fliehen.

"Und da geschah es" - ich zitiere nach der Übersetzung von Schott, "daß er auch die wundersame Weisheit der Christianer kennenlernte, mit deren Priestern und Schriftgelehrten er in Palästina Umgang gepflogen hatte. Und in kurzer Zeit brachte er es so weit, daß seine Lehrer nur Kinder gegen ihn zu sein schienen. Er ward Prophet, Gemeindeältester, Synagogenmeister, kurz, alles in allem: er legte ihre Schriften aus und schrieb selbst welche in großer Zahl, so daß sie am Ende ein höheres Wesen in ihm zu sehen glaubten, sich Gesetze von ihm geben ließen, und ihn zu ihrem Vorsteher (Bischof) ernannten ... Aus dieser Veranlassung" (d.h. als Christ) "ward nun einmal auch Proteus von der Obrigkeit festgenommen und ins Gefängnis geworfen ... Während er so in Banden lag, machten die Christianer, welche seine Gefangenmachung ein |452| großes Unglück dünkte, alle möglichen Versuche, ihn zu befreien. Allein es gelang nicht, und nun wurde ihm von ihnen alle mögliche Pflege mit der ungewöhnlichsten Sorgfalt erwiesen. Mit Tagesanbruch schon sah man alte Mütterchen, Witwen und junge Waisen vor der Tür seines Gefängnisses harren; die angeseheneren Christianer bestachen sogar die Gefangenwärter und brachten ganze Nächte bei ihm zu; sie trugen daselbst ihre Mahlzeiten zusammen, lasen bei ihm ihre heiligen Bücher; kurz, der liebe Peregrinus (so hieß er damals noch) war ihnen nichts Geringeres als ein andrer Sokrates. Sogar aus einigen kleinasiatischen Städten erschienen Abgeordnete der christianischen Gemeinden, ihm hülfreiche Hand zu leisten, ihn zu trösten und seine Fürsprecher vor Gericht zu sein. Es ist unglaublich, wie schnell diese Leute überall bei der Hand sind, wenn es eine Angelegenheit ihrer Gemeinschaft betrifft; sie sparen alsdann weder Mühe noch Kosten. Und so kamen auch dem Peregrinus damals Gelder von allen Seiten zu, so daß seine Gefangenschaft für ihn Quelle einer reichlichen Einnahme wurde. Die armen Leute haben sich nämlich beredet, mit Leib und Seele unsterblich zu sein und in alle Ewigkeit zu leben; daher kommt es auch, daß sie den Tod verachten und viele von ihnen sich demselben sogar freiwillig hingeben. Sodann hat ihnen ihr vornehmster Gesetzgeber die Meinung beigebracht, daß sie alle untereinander Brüder wären, sobald sie übergegangen, d.h. die griechischen Götter verleugnet und sich zur Anbetung jenes gekreuzigten Sophisten bekannt hätten und nach dessen Vorschriften lebten. Daher verachten sie alle äußern Güter ohne Unterschied und besitzen sie gemeinschaftlich Lehren, die sie auf Treu und Glauben, ohne Prüfung und Beweis, angenommen haben. Wenn nun ein geschickter Betrüger an sie kommt, der die Umstände schlau zu benutzen weiß, so kann es ihm in kurzem gelingen, ein reicher Mann zu werden und die einfältigen Tröpfe ins Fäustchen auszulachen. Übrigens wurde Peregrinus von dem damaligen Präfekten von Syrien wieder auf freien Fuß gesetzt."

Nach einigen weiteren Abenteuern heißt es dann:

"Nun zog unser Mann zum zweitenmal" (von Parium) "aufs Landstreichen aus, wobei ihm statt alles Reisegeldes die Gutmütigkeit der Christianer genügte, welche ihm überall zur Bedeckung dienten und es ihm an nichts gebrechen ließen. Eine Zeitlang ward er auf diese Weise gefüttert. Als er aber auch gegen die Gesetze der Christianer verstieß - man hatte ihn, glaube ich, etwas bei ihnen Verbotnes essen sehen -, so schlossen sie ihn aus ihrer Gemeinschaft aus."

Welche Jugenderinnerungen steigen mir auf bei dieser Stelle Lucians. Da ist zuerst der "Prophet Albrecht", der von etwa 1840 an die Weitlingschen Kommunistengemeinden der Schweiz auf einige Jahre im buchstäblichen Sinn des Worts unsicher machte - ein großer starker Mann mit langem Bart, der die Schweiz zu Fuß durchwanderte und Zuhörer für sein geheimnisvolles neues Weltbefreiungs-Evangelium aufstöberte -, der aber im übrigen ein ziemlich harmloser Konfusionarius gewesen zu sein scheint und bald starb. Da ist sein weniger harmloser Nachfolger, der "Dr." Georg |453| Kuhlmann aus Holstein, der die Zeit benutzte, da Weitling im Gefängnis saß, um die Gemeinden der französischen Schweiz zu seinem Evangelium zu bekehren, und zeitweilig mit solchem Glück, daß er sogar den weitaus geistreichsten, aber auch verbummeltsten unter ihnen, August Becker, einfing. Dieser Kuhlmann hielt ihnen Vorlesungen, die 1845 zu Genf veröffentlicht wurden unter dem Titel: "Die Neue Welt, oder das Reich des Geistes auf Erden. Verkündigung". Und in der von seinen Anhängern (wahrscheinlich von August Becker) redigierten Einleitung heißt es:

"Es fehlte an einem Mann, in dessen Munde all' unsere Leiden und all' unser Sehnen und Hoffen, mit einem Wort alles was unsre Zeit im Innersten bewegt, zur Sprache würde ... Dieser Mann, den unsre Zeit erwartet, er ist aufgetreten. Er ist der Dr. Georg Kuhlmann aus Holstein. Er ist aufgetreten mit der Lehre von der neuen Welt oder dem Reich des Geistes in der Wirklichkeit."

Ich brauche wohl nicht hinzuzusetzen, daß diese Lehre von der neuen Welt weiter nichts ist als die allerordinärste Gefühlsduselei, in halbbiblische Redensarten à la Lamennais gebracht und mit Prophetenarroganz vorgetragen. Was die guten Weitlingianer nicht verhinderte, diesen Schwindler ebenso auf den Händen zu tragen wie jene asiatischen Christen den Peregrinus. Sie, die sonst erzdemokratisch und egalitär bis aufs äußerste waren, derart, daß sie gegen jeden Schulmeister, Journalisten, überhaupt Nicht-Handwerker, als gegen einen "Gelehrten", der sie ausbeuten wolle, einen unauslöschlichen Verdacht hegten, sie ließen sich von dem melodramatisch ausstaffierten Kuhlmann beibringen, daß in der "neuen Welt" der Weiseste, id est Kuhlmann, die Verteilung der Genüsse regeln werde und deshalb auch schon jetzt, in der alten Welt, die Jünger demselben Weisesten die Genüsse scheffelweis zutragen, sich selbst aber mit den Brosamen begnügen müßten. Und Peregrinus-Kuhlmann lebte herrlich und in Freuden auf Kosten der Gemeinden - solange es währte. Sehr lange währte es freilich nicht;

wachsendes Murren der Zweifler und Ungläubigen, drohende Verfolgungen der Waadtländer Regierung machten dem "Reich des Geistes" in Lausanne ein Ende - Kuhlmann verschwand.

Jedem, der die europäische Arbeiterbewegung in ihren Anfängen aus Erfahrung gekannt hat, werden ähnliche Beispiele zu Dutzenden ins Gedächtnis kommen. Heutzutage sind solche extreme Fälle, wenigstens in den größern Zentren, unmöglich geworden, aber in abgelegnern Gegenden, wo die Bewegung neues Terrain erobert, kann so ein kleiner Peregrinus noch auf zeitweiligen beschränkten Erfolg rechnen. Und wie sich an die Arbeiterpartei in allen Ländern alle Elemente herandrängen, die von der offiziellen |454| Welt nichts zu erwarten oder bei ihr ausgespielt haben - Impfgegner, Mäßigkeitsleute, Vegetarianer, Antivivisektionisten, Naturärzte, freigemeindliche Prediger, denen die Gemeinde aus dem Leim gegangen, Verfasser neuer Weltentstehungstheorien, erfolglose oder verunglückte Erfinder, Dulder wirklicher oder vermeintlicher Ungerechtigkeiten, die von der Bürokratie als "unnütze Querulanten" bezeichnet werden, ehrliche Narren und unehrliche Betrüger -, so ging es den ersten Christen auch. Alle die Elemente, die der Auflösungsprozeß der alten Welt freigesetzt, d.h. an die Luft gesetzt hatte, kamen nacheinander in den Anziehungskreis des Christentums als des einzigen Elements, das diesem Auflösungsprozeß widerstand - weil es eben sein eigenes notwendiges Produkt war - und das daher blieb und wuchs, während die andern Elemente nur Eintagsfliegen waren. Keine Schwärmerei, Narrheit oder Schwindelei, die nicht an die jungen Christengemeinden sich herangedrängt, die nicht wenigstens an einzelnen Orten zeitweilig offne Ohren und willige Gläubige gefunden hätte. Und wie unsre ersten kommunistischen Arbeitergemeinden, so waren auch die ersten Christen für Dinge, die in ihren Kram paßten, von einer beispiellosen Leichtgläubigkeit, so daß wir nicht einmal sicher sind, daß nicht aus "der großen Zahl Schriften", die Peregrinus für die Christenheit verfaßte, das eine oder andre Fragment sich in unser Neues Testament verirrt hat.

II

|455| Die deutsche Bibelkritik, bis jetzt die einzige wissenschaftliche Grundlage unsrer Kenntnis der Geschichte des Urchristentums, ist in doppelter Richtung verlaufen.

Die eine Richtung ist die der Tübinger Schule, zu der im weitern Sinn auch D. F. Strauß zu rechnen ist. Sie geht in der kritischen Untersuchung so weit, wie eine theologische Schule gehn kann. Sie gibt zu, daß die vier Evangelien keine Berichte von Augenzeugen, sondern spätere Überarbeitungen verlorner Schriften, und daß von den dem Apostel Paulus zugeschriebnen Briefen höchstens vier echt sind usw. Sie streicht alle Wunder und alle Widersprüche als unzulässig aus der Geschichtserzählung aus; von dem übrigen aber sucht sie "zu retten, was noch zu retten ist", und dabei kommt dann ihr Charakter als der einer Schule von Theologen sehr zum Vorschein. Sie hat es damit möglich gemacht, daß Renan, der großenteils auf ihr fußt, durch Anwendung derselben Methode noch viel mehr "gerettet" hat und uns außer vielen mehr als zweifelhaften neutestamentlichen Erzählungen auch noch eine Menge sonstiger Märtyrerlegenden als historisch beglaubigt aufnötigen will. Jedenfalls aber kann alles, was die Tübinger Schule im Neuen Testament als ungeschichtlich oder untergeschoben verwirft, als endgültig für die Wissenschaft beseitigt gelten.

Die andere Richtung ist vertreten nur durch einen Mann - Bruno Bauer. Sein großes Verdienst besteht nicht nur in der rücksichtslosen Kritik der Evangelien und apostolischen Briefe, sondern auch darin, daß er zum erstenmal Ernst gemacht hat mit der Untersuchung, nicht nur der jüdischen und griechisch-alexandrinischen, sondern auch der rein griechischen und griechisch-römischen Elemente, die dem Christentum erst die Laufbahn zur Weltreligion eröffnet haben. Die Sage von dem aus dem Judentum fix und fertig erstandnen Christentum, das von Palästina aus mit in der Hauptsache feststehender Dogmatik und Ethik die Welt eroberte, ist |456| seit Bruno Bauer unmöglich geworden; nur in den theologischen Fakultäten kann sie noch fortvegetieren und bei Leuten, die "dem Volk die Religion erhalten" wollen selbst auf Kosten der Wissenschaft. Der gewaltige Anteil, den die philonische Schule Alexandriens und die griechisch-römische Vulgärphilosophie - platonische und namentlich stoische - an dem Christentum haben, das unter Konstantin Staatsreligion wurde, ist noch lange nicht im einzelnen festgestellt, aber sein Dasein ist erwiesen, und das ist vorwiegend Bruno Bauers Werk; er hat den Grund des Beweises gelegt, daß das Christentum nicht von außen, von Judäa in die römisch-griechische Welt importiert und ihr aufgenötigt worden, sondern daß es, wenigstens in seiner Weltreligionsgestalt, das eigenste Produkt dieser Welt ist. Natürlich schoß Bauer, wie alle gegen eingewurzelte Vorurteile ankämpfenden Leute, bei dieser Arbeit weit übers Ziel hinaus. Um den Einfluß Philos und namentlich Senecas auf das werdende Christentum auch literarisch zu fixieren und die neutestamentlichen Schriftsteller förmlich als Plagiatoren jener Philosophen darzustellen, muß er die Entstehung der neuen Religion um ein halbes Jahrhundert später setzen, die entgegenstehenden Berichte der römischen Geschichtschreiber verwerfen und überhaupt mit der Geschichtsdarstellung sich starke Freiheiten erlauben. Das Christentum als solches entsteht nach ihm erst unter den flavischen Kaisern, die neutestamentliche Literatur erst unter Hadrian, Antonin und Marcus Aurelius. Damit verschwindet bei Bauer denn auch jeder historische Hintergrund für die neutestamentlichen Erzählungen von Jesus und seinen Jüngern; sie lösen sich auf in Sagen, worin die inneren Entwicklungsphasen und Gemütskämpfe der ersten Gemeinden auf mehr oder weniger fingierte Personen übertragen sind. Nicht Galiläa und Jerusalem, sondern Alexandria und Rom sind nach Bauer die Geburtsstätten der neuen Religion.

Wenn also die Tübinger Schule uns in dem von ihr unangefochtenen Residuum der neutestamentlichen Geschichte und Literatur das äußerste Maximum dessen bot, was die Wissenschaft sich heute selbst noch als streitig gefallen lassen kann, so bietet uns Bruno Bauer das Maximum dessen, was sie darin anfechten kann. Zwischen diesen Grenzen liegt die tatsächliche Wahrheit. Ob diese mit den heutigen Mitteln sich bestimmen läßt, scheint sehr zweifelhaft. Neue Funde namentlich in Rom, im Orient, vor allem in Ägypten werden viel mehr dazu beitragen als alle Kritik.

Nun aber haben wir im Neuen Testament ein einziges Buch, dessen Abfassungszeit sich bis auf wenige Monate feststellen läßt, das zwischen Juni 67 und Januar oder April 68 geschrieben sein muß; ein Buch, das also der allerersten christlichen Zeit angehört und uns deren Vorstellungen mit der |457| naivsten Treue und in entsprechend idiomatischer Sprache widerspiegelt, und das daher, meiner Ansicht nach, für die Feststellung dessen, was das Urchristentum wirklich war, weit wichtiger ist als das ganze übrige, in seiner jetzigen Fassung weit spätere Neue Testament. Dies Buch ist die sogenannte Offenbarung Johannis, und da dies scheinbar dunkelste Buch der ganzen Bibel zudem, dank der deutschen Kritik, heute das allerverständlichste und durchsichtigste ist, so will ich meinen Lesern darüber berichten.

Man braucht nur einen Blick in dies Buch zu werfen, um sich zu überzeugen, wie exaltiert nicht nur der Verfasser war, sondern auch das "umgebende Mittel", worin er sich bewegte. Unsre "Offenbarung" ist nicht die einzige ihrer Art und ihrer Zeit. Vom Jahr 164 vor unsrer Zeitrechnung. wo die erste uns erhaltene, das sog. Buch Daniel, geschrieben wurde, bis zu etwa 250 unsrer Zeitrechnung, dem ungefähren Datum des Commodianischen "Carmen", zählt Renan nicht weniger als fünfzehn uns erhaltne klassische "Apokalypsen" auf, ungerechnet die späteren Nachahmungen. (Ich zitiere Renan deshalb, weil sein Buch auch außerhalb Fachkreisen am bekanntesten und am leichtesten zugänglich ist.) Es war eine Zeit, wo selbst in Rom und Griechenland, noch weit mehr aber in Kleinasien, Syrien und Ägypten eine absolut kritiklose Mischung des krassesten Aberglaubens der verschiedensten Völker unbesehen akzeptiert und durch frommen Betrug und direkten Scharlatanismus ergänzt wurde; wo Wunder, Verzückungen, Visionen, Geisterkram, Erforschung der Zukunft, Goldmacherei, Kabbala und andrer verborgner Zauberkram die erste Rolle spielten. Das war die Atmosphäre, worin das Urchristentum entstand, und zwar unter einer Klasse von Leuten, die mehr als jede andre für diese übernatürlichen Phantastereien offne Ohren hatte. Haben doch die christlichen Gnostiker Ägyptens während des zweiten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung, wie u.a. die Leydenschen Papyrusschriften beweisen, stark in Alchimie mitgemacht und alchimistische Vorstellungen in ihre Lehren aufgenommen. Und die chaldäischen und jüdischen mathematici, die nach Tacitus zweimal, unter Claudius und nochmals unter Vitellius, aus Rom vertrieben wurden wegen Zauberei, sie trieben keine andren Geometriekünste, als die wir im Kernpunkt der Offenbarung Johannis wiederfinden werden.

Dazu kommt noch ein Zweites. Alle Apokalypsen schreiben sich das Recht zu, ihre Leser zu täuschen. Nicht nur sind sie in der Regel von ganz andern - meist weit spätern - Leuten geschrieben als von ihren angeblichen Verfassern, z.B. das Buch Daniel, das Buch Henoch, die Apokalypsen des |458| Esra, Baruch, Juda etc., die Sibyllinischen Bücher, sondern sie prophezeien auch, ihrem Hauptinhalt nach, lauter Dinge, die längst geschehen und dem wirklichen Verfasser vollkommen bekannt sind. So läßt der Verfasser des Buchs Daniel im Jahr 164, kurz vor dem Tod des Antiochus Epiphanes, den angeblich zur Zeit Nebukadnezars lebenden Daniel den Aufgang und Niedergang der persischen und makedonischen und den Anfang der römischen Weltherrschaft vorhersagen, um auf diesen Beweis seiner Prophetenpotenz hin den Leser empfänglich zu machen für die Schlußprophezeiung, daß das Volk Israel alle Leiden überstehn und endlich siegreich sein wird. Wäre also die Offenbarung Johannis wirklich das Werk des angeblichen Verfassers, so wäre sie die einzige Ausnahme unter der ganzen apokalyptischen Literatur.

Der Johannes, der sich als Verfasser angibt, war jedenfalls ein unter den kleinasiatischen Christen sehr angesehener Mann. Dafür bürgt der Ton der Sendschreiben an die sieben Gemeinden. Möglicherweise also der Apostel Johannes, dessen historische Existenz allerdings nicht durchaus beglaubigt, aber doch sehr wahrscheinlich ist. Und sollte dieser Apostel wirklich der Verfasser sein, dann um so besser für unsern Standpunkt. Es wäre die beste Beglaubigung dafür, daß das Christentum dieses Buchs das wirkliche, echte Urchristentum ist. Nebenbei sei nur noch bemerkt, daß die Offenbarung erwiesenermaßen nicht von demselben Verfasser herrührt wie das Evangelium oder die drei Briefe, die auch dem Johannes zugeschrieben werden.

Die Offenbarung besteht aus einer Reihe von Visionen. In der ersten erscheint Christus, als Hoherpriester gekleidet, wandelnd zwischen sieben Leuchtern, die die sieben asiatischen Gemeinden darstellen, und diktiert dem "Johannes'' Briefe an die sieben "Engel" dieser Gemeinden. Gleich hier im Anfang tritt der Unterschied dieses Christentums und der vom Nicänischen Konzil formulierten konstantinischen Weltreligion schlagend hervor. Die Dreieinigkeit ist nicht nur unbekannt, sie ist hier eine Unmöglichkeit. Statt des späteren, einen heiligen Geistes haben wir hier die von den Rabbinern aus Jesaia 11,2 herauskonstruierten "sieben Geister Gottes". Christus ist der Sohn Gottes, der Erste und der Letzte, das Alpha und das Omega, aber durchaus nicht selbst Gott oder Gott gleich, sondern im Gegenteil "der Anfang der Kreatur Gottes", also eine von Ewigkeit existierende, aber untergeordnete Emanation Gottes, ähnlich wie die erwähnten sieben Geister. Kap. 15,3 singen die Märtyrer im Himmel "das Lied Mosis des Knechtes Gottes und das Lied des Lammes" zur Verherrlichung Gottes. Hier erscheint also Christus nicht nur als Gott unter- |459| geordnet, sondern sogar in gewisser Beziehung mit Moses auf dieselbe Stufe gestellt. Christus ist in Jerusalem gekreuzigt (11,8), aber auferstanden (1,5 [und] 18), er ist "das Lamm", das geopfert worden für die Sünden der Welt und mit dessen Blut die Gläubigen Gott erkauft sind aus allerlei Volk und Zungen. Hier finden wir die Grundvorstellung, die es dem Urchristentum möglich machte, sich zur Weltreligion fortzuentwickeln. Allen damaligen Religionen der Semiten und Europäer war die Ansicht gemeinsam, die durch Handlungen der Menschen beleidigten Götter könnten durch Opfer versöhnt werden; die erste revolutionäre (der philonischen Schule entlehnte) Grundvorstellung im Christentum war die, daß durch das eine große, freiwillige Opfer eines Mittlers aller Zeiten und Menschen Sünden ein für allemal gesühnt seien - für die Gläubigen. Hiermit fiel die Notwendigkeit aller ferneren Opfer weg und damit die Grundlage einer Menge religiöser Zeremonien; Freiheit von Zeremonien, die den Umgang mit Andersgläubigen erschweren oder verbieten, war aber erste Bedingung einer Weltreligion. Und trotzdem saß die Gewohnheit des Opferns so tief in den Volkssitten, daß der Katholizismus - der so viel Heidnisches wieder aufnahm - es für angemessen fand, dieser Tatsache durch Einführung wenigstens des symbolischen Meßopfers sich anzubequemen. - Vom Dogma von der Erbsünde dagegen findet sich in unsrem Buche nicht eine Spur.

Das bezeichnendste in diesen Sendschreiben wie im ganzen Buch ist aber, daß es dem Verfasser nie und nirgends einfällt, sich und seine Glaubensgenossen anders zu bezeichnen denn als - Juden. Den Sektierern in Smyrna und Philadelphia, gegen die er eifert, wirft er vor: "sie sagen, sie seien Juden, und sind es nicht, sondern sind des Satans Schule"; von denen in Pergamus heißt es: sie halten an der Lehre Balaams, welcher lehrete durch den Balak ein Ärgernis aufrichten vor den Kindern Israels, zu essen der Götzen Opfer und Hurerei zu treiben. Wir haben es hier also nicht mit bewußten Christen zu tun, sondern mit Leuten, die sich für Juden ausgeben; ihr Judentum ist allerdings eine neue Entwicklungsstufe des früheren, aber eben deshalb auch das einzig wahre. Daher kommen bei dem Erscheinen der Heiligen vor dem Thron Gottes zuerst 144.000 Juden, je 12.000 von jedem Stamm, und erst dann die unzählige Masse der zu diesem erneuerten Judentum bekehrten Heiden. So wenig wußte unser Verfasser im 69. Jahr der christlichen Zeitrechnung, daß er eine ganz neue Phase der religiösen Entwicklung vertrat, die eins der revolutionärsten Elemente in der Geschichte des menschlichen Geistes werden sollte.

Wir sehen also, das damalige, sich selbst noch unbewußte Christentum war himmelweit verschieden von der späteren, dogmatisch fixierten Welt- |460| religion des Nicänischen Konzils; das eine ist in der andern gar nicht wiederzuerkennen. Weder die Dogmatik noch die Ethik des späteren Christentums existiert hier; dafür aber ein Gefühl, daß man sich im Kampf gegen eine ganze Welt befindet und diesen Kampf siegreich bestehn wird; eine Kampfeslust und eine Siegesgewißheit, die dem heutigen Christen total abhanden gekommen und die in unsrer Zeit sich nur findet am andern Gesellschaftspol, bei den Sozialisten.

In der Tat, der Kampf gegen eine anfangs übermächtige Welt und der gleichzeitige Kampf der Neuerer untereinander, ist beiden gemeinsam, den Urchristen wie den Sozialisten. Beide große Bewegungen sind nicht von Führern und Propheten gemacht - obwohl Propheten genug bei beiden vorkommen -, sie sind Massenbewegungen. Und Massenbewegungen sind im Anfang notwendig konfus; konfus, weil alles Massendenken sich zuerst in Widersprüchen, Unklarheiten, Zusammenhangslosigkeiten bewegt, konfus aber auch eben wegen der Rolle, die die Propheten anfangs noch darin spielen. Die Konfusion zeigt sich in der Bildung zahlreicher Sekten, die sich untereinander mit mindestens ebenderselben Heftigkeit bekämpfen wie den gemeinsamen Feind draußen. So war's im Urchristentum, so war's in den ersten Zeiten der sozialistischen Bewegung, so sehr das auch die wohlmeinenden Biedermänner betrübte, die Einigkeit predigten, wo keine Einigkeit möglich war.

War denn die Internationale zusammengehalten durch ein einheitliches Dogma? Im Gegenteil. Da waren Kommunisten französischer Tradition von vor 1848, diese selbst wieder verschiedner Schattierung; Kommunisten Weitlingscher Schule und andre des regenerierten Bundes der Kommunisten; Proudhonisten, in Frankreich und Belgien vorherrschend; Blanquisten; die deutsche Arbeiterpartei; endlich bakunistische Anarchisten, die einen Augenblick in Spanien und Italien die Oberhand hatten - und das waren nur die Hauptgruppen. Von der Stiftung der Internationale an hat es ein volles Vierteljahrhundert gebraucht, bis die Scheidung von den Anarchisten endgültig und überall vollzogen und eine Einheit wenigstens für die allgemeinsten ökonomischen Gesichtspunkte hergestellt werden konnte. Und das mit unsern Verkehrsmitteln, mit den Eisenbahnen, den Telegraphen, den industriellen Riesenstädten, der Presse, den organisierten Volksversammlungen.

Bei den ersten Christen dieselbe Spaltung in zahllose Sekten, die grade das Mittel war, die Diskussion und eben dadurch die spätere Einheit zu erzwingen. Schon in diesem unserm unzweifelhaft ältesten christlichen Dokument finden wir sie, und unser Verfasser eifert gegen sie mit derselben |461| unversöhnlichen Heftigkeit wie gegen die große sündige Welt draußen. Da sind zuerst die Nikolaiten in Ephesus und in Pergamus; diejenigen, die da sagen, sie seien Juden, aber sind die Synagoge des Satans, in Smyrna und Philadelphia; die Anhänger der Lehre des als Bileam bezeichneten falschen Propheten in Pergamus; die so da sagen, sie seien Apostel und sind es nicht, in Ephesus; endlich die Anhänger der falschen Prophetin, die als Jesabel bezeichnet wird, in Thyatira. Näheres über diese Sekten erfahren wir nicht, nur von den Nachfolgern des Bileam und der Jesabel wird gesagt, sie äßen Götzenopfer und trieben Hurerei. Man hat nun versucht, alle diese fünf Sekten als Paulinische Christen, und alle diese Sendschreiben als gegen Paulus, den falschen Apostel, den angeblichen Bileam und "Nikolaus" gerichtet zu fassen. Die diesbezüglichen, sehr wenig stichhaltigen Argumente findet man zusammengestellt bei Renan, "Saint-Paul", Paris 1869, S. 303 bis 305, 367-370. Sie laufen alle darauf hinaus, die Sendschreiben zu erklären durch die Apostelgeschichte und die sog. Paulinischen Briefe, Schriften, die wenigstens in ihrer jetzigen Fassung um mindestens 60 Jahre jünger sind als die Offenbarung, und deren diesbezügliche tatsächliche Angaben also nicht nur äußerst zweifelhaft, sondern auch einander total widersprechend sind. Entscheidend aber ist, daß es unserm Verfasser nicht einfallen konnte, eine und dieselbe Sekte mit fünf verschiedenen Bezeichnungen zu belegen, ja sogar für Ephesus allein mit zwei (falsche Apostel und Nikolaiten) und für Pergamus ebenfalls mit zwei (Bileamiten und Nikolaiten), und zwar jedesmal ausdrücklich als zwei verschiedene Sekten. Wobei die Wahrscheinlichkeit nicht geleugnet werden soll, daß sich unter diesen Sekten ebenfalls Elemente befanden, die man heute als paulinisch bezeichnen würde.

In den beiden Fällen, wo Näheres angegeben ist, läuft die Anklage hinaus auf das Essen von Götzenopfern und Hurerei, die beiden Punkte, worüber die Juden - die alten sowohl wie die christlichen - in ewigem Streit lagen mit den übergetretenen Heiden. Fleisch von heidnischen Opfern wurde nicht nur bei Festmahlzeiten aufgetragen, wo die Zurückweisung des Dargebrachten unanständig scheinen, ja gefährlich werden konnte, sondern auch auf öffentlichen Märkten verkauft, wo ihm nicht immer anzusehn war, ob es koscher oder nicht. Unter Hurerei verstanden dieselben Juden nicht nur außerehelichen geschlechtlichen Umgang, sondern auch die Ehe in nach jüdischem Gesetz verbotnen Verwandtschaftsgraden oder auch zwischen Juden und Heiden; und dies ist der Sinn, der dem Wort in der Stelle Apostelgeschichte 15,20 und 29 gewöhnlich beigelegt wird. Unser Johannes aber hat eigne Ansichten auch über den den orthodoxen Juden erlaubten |462| Geschlechtsverkehr. Er sagt 14,4 von den 144.000 himmlischen Juden: "Diese sind es, die mit Weibern nicht befleckt sind, denn sie sind Jungfrauen." Und in der Tat, in dem Himmel unsres Johannes gibt es keine einzige Frau. Er gehört also der auch in andern urchristlichen Schriften oft auftretenden Richtung an, die den Geschlechtsverkehr überhaupt für sündhaft ansieht. Und wenn wir dann noch bedenken, daß er Rom die große Hure nennt, mit welcher gehuret haben die Könige der Erde und sind trunken worden von dem Wein ihrer Hurerei, und ihre Kaufleute sind reich geworden von ihrer großen Wollust, so können wir unmöglich das Wort in den Sendschreiben in dem engen Sinn nehmen, den die theologische Apologetik ihm beilegen möchte, um dadurch eine Bestätigung für andre neutestamentliche Stellen herauszuklauben. Im Gegenteil. Diese Stellen der Sendschreiben weisen offenbar hin auf die allen tieferregten Zeiten gemeinsame Erscheinung, daß, wie an allen andern Schranken, auch an den überlieferten Banden des Geschlechtsverkehrs gerüttelt wird. Auch in den ersten christlichen Jahrhunderten tritt, neben der Askese, die das Fleisch abtötet, oft genug die Tendenz auf, die christliche Freiheit auf mehr oder weniger schrankenlosen Umgang zwischen Mann und Weib auszudehnen. Ebenso ging's in der modernen sozialistischen Bewegung. Welch greuliches Entsetzen rief nicht in der damaligen "frommen Kinderstube" Deutschland in den dreißiger Jahren die saint-simonistische réhabilitation de la chair hervor, die man verdeutschte als "Wiedereinsetzung des Fleisches"! Und am greulichsten waren entsetzt jene damals herrschenden vornehmen Stände (Klassen gab's damals noch nicht bei uns), die in Berlin ebensowenig wie auf ihren Landgütern leben konnten, ohne stets wiederholte Wiedereinsetzung ihres Fleisches! Ja, hätten die guten Leute erst den Fourier gekannt, der dem Fleisch noch ganz andre Sprünge in Aussicht stellt! Mit der Überwindung des Utopismus haben diese Extravaganzen einer rationelleren und in Wirklichkeit weit radikaleren Auffassung Platz gemacht, und seitdem Deutschland aus der frommen Kinderstube Heines sich zum Zentralgebiet der sozialistischen Bewegung entwickelt hat, lacht man über die heuchlerische Entrüstung der vornehmen frommen Welt.

Das ist der ganze dogmatische Inhalt der Sendschreiben. Im übrigen feuern sie die Genossen auf zu eifriger Propaganda, zu kühnem und stolzem Bekennen ihres Glaubens angesichts der Gegner, zu unablässigem Kampf gegen die Feinde draußen und drinnen - und soweit dies geht, hätten sie ebensogut geschrieben sein können von einem prophetisch angehauchten Enthusiasten aus der Internationale.

III

|463| Die Sendschreiben sind nur die Einleitung zu dem eigentlichen Thema der Mitteilung unsres Johannes an die sieben kleinasiatischen Gemeinden und durch sie an die übrige Reformjudenschaft des Jahres 69, aus der sich dann später die Christenheit entwickelte. Und hiermit treten wir in das innerste Allerheiligste des Urchristentums.

Aus was für Leuten rekrutierten sich die ersten Christen? Hauptsächlich aus den "Mühseligen und Beladenen", den Angehörigen der untersten Volksschichten, wie es einem revolutionären Element geziemt. Und woraus bestanden diese? In den Städten aus heruntergekommenen Freien - Leuten aus allerlei Volk, ähnlich den mean whites |armen Weißen| der südlichen Sklavenstaaten und den europäischen Bummlern und Abenteurern der kolonialen und chinesischen Seestädte, ferner aus Freigelassenen und besonders aus Sklaven; auf den Latifundien Italiens, Siziliens, Afrikas aus Sklaven, in den Landdistrikten der Provinzen aus mehr und mehr der Schuldknechtschaft verfallenden Kleinbauern. Einen gemeinsamen Weg zur Emanzipation aller dieser Elemente gab es absolut nicht. Für sie alle lag das Paradies als verlorenes hinter ihnen; für den verkommenen Freien die ehemalige Polis, Stadt und Staat zugleich, deren freier Bürger seine Vorfahren dereinst gewesen; für den kriegsgefangenen Sklaven die Zeit der Freiheit vor der Unterjochung und Gefangenschaft; für den Kleinbauern die vernichtete Gentilgesellschaft und Bodengemeinschaft. Alles das hatte die gleichmachende eiserne Faust des erobernden Römers niedergeworfen. Die größte gesellschaftliche Gruppe, wozu das Altertum es gebracht hatte, war der Stamm und der Bund verwandter Stämme; bei Barbaren nach Geschlechtsverbänden organisiert, bei den städtegründenden Griechen und Italern in der einen oder mehrere verwandte Stämme umfassenden Polis. |464| Philipp und Alexander gaben der hellenischen Halbinsel die politische Einheit, aber eine griechische Nation kam darum doch nicht zustande. Nationen wurden erst möglich durch den Untergang der römischen Weltherrschaft. Diese machte den kleinen Verbänden ein für allemal ein Ende; Militärgewalt, römische Gerichtsbarkeit, Steuereintreibungsapparat lösten die überlieferte innere Organisation vollends auf. Zum Verlust der Unabhängigkeit und eigenartigen Organisation kam die gewaltsame Beraubung durch die Militär- und Zivilbehörden, die den Unterjochten erst ihre Schätze wegnahmen und sie ihnen dann zu Wucherzinsen wieder liehen, um damit neue Erpressungen zahlen zu können. Der Steuerdruck und das dadurch hervorgerufne Bedürfnis nach Geld in Gegenden reiner oder vorherrschender Naturalwirtschaft warf die Bauern immer tiefer in die Schuldknechtschaft von Wucherern, erzeugte große Vermögensunterschiede, bereicherte die Reichen, verarmte die Armen vollends. Und aller Widerstand der einzelnen kleinen Stämme oder Städte gegen die riesige römische Weltmacht war hoffnungslos. Wo blieb da ein Ausweg, eine Rettung für die Versklavten, Unterdrückten und Verarmten, ein Ausweg, gemeinsam für alle diese verschiednen Menschengruppen mit einander fremden oder gar entgegengesetzten Interessen? Und doch mußte ein solcher gefunden werden, sollte eine einzige große revolutionäre Bewegung sie alle umfassen.

Dieser Ausweg fand sich. Aber nicht in dieser Welt. Wie die Dinge lagen, konnte er nur ein religiöser Ausweg sein. Und da erschloß sich eine andre Welt. Die Fortexistenz der Seele nach dem Tod des Leibes war allmählich überall in der römischen Welt anerkannter Glaubensartikel geworden. Auch eine Art Belohnung und Bestrafung der verstorbnen Seele für die auf Erden begangnen Handlungen wurde mehr und mehr allgemein angenommen. Mit der Belohnung sah es allerdings ziemlich windig aus; das Altertum war viel zu naturwüchsig-materialistisch, um nicht auf das irdische Leben unendlich höheren Wert zu legen als auf das im Schattenreich; bei den Griechen galt das Fortleben nach dem Tod vielmehr als ein Pech. Da kam das Christentum, machte Ernst mit der Belohnung und Bestrafung im Jenseits, schuf Himmel und Hölle, und der Ausweg war gefunden, der die Mühseligen und Beladnen aus diesem irdischen Jammertal hinüberführte ins ewige Paradies. Und in der Tat, nur mit der Aussicht auf eine jenseitige Belohnung war es möglich, die stoisch-philomsche Weltentsagung und Askese zum ethischen Grundprinzip einer neuen, die unterdrückten Volksmassen hinreißenden Weltreligion zu erheben.

Dies himmlische Paradies öffnet sich aber den Gläubigen nicht ohne weiteres mit dem Tode. Wir werden sehn, daß das Reich Gottes, dessen |465| Hauptstadt das neue Jerusalem ist, erst nach heftigen Kämpfen mit den Mächten der Hölle erobert und eröffnet wird. Aber in der Vorstellung der ersten Christen standen diese Kämpfe nahe bevor. Unser Johannes bezeichnet sein Buch gleich anfangs als die Offenbarung dessen, "was in der Kürze geschehen soll"; gleich darauf, Vers 3, preist er "selig den, der liest und hört die Worte der Weissagung, denn die Zeit ist nahe"; der Gemeinde zu Philadelphia läßt Christus schreiben: "Siehe, ich komme bald." Und im letzten Kapitel sagt der Engel, er habe Johannes gezeigt, "was bald geschehen muß", und befiehlt ihm: "Versiegle nicht die Worte der Weissagung in diesem Buch, denn die Zeit ist nahe", und Christus selbst sagt zweimal Vers 12 und Vers 20: "ich komme bald". Der weitere Verlauf wird uns zeigen, wie bald dies Kommen erwartet wurde.

Die apokalyptischen Visionen, die uns der Verfasser jetzt vorführt, sind durchweg, und meist wörtlich, früheren Mustern entlehnt. Teils den klassischen Propheten des Alten Testaments, besonders Ezechiel, teils den späteren, nach dem Vorbild des Buchs Daniel verfaßten jüdischen Apokalypsen, namentlich dem damals wenigstens schon zum Teil geschriebnen Buch Henoch. Die Kritik hat aufs allereinzelste nachgewiesen, woher unser Johannes jedes Bild, jedes drohende Vorzeichen, jede auf die ungläubige Menschheit ausgegoßne Plage, kurz das gesamte Material seines Buchs entlehnt hat; so daß er nicht nur eine ganz besondre Geistesarmut an den Tag legt, sondern auch selbst den Beweis liefert, daß er seine angeblichen Verzückungen und Gesichte nicht einmal in der Einbildung so erlebt hat, wie er sie beschreibt.

Der Gang dieser Geistererscheinungen ist kurz wie folgt. Zuerst sieht Johannes Gott auf seinem Thron, ein Buch mit sieben Siegeln in der Hand und vor ihm das geschlachtete, aber wieder lebendige Lamm (Christus), das würdig befunden wird, die Siegel zu lösen. Bei ihrer Lösung erfolgen allerlei drohende Wunderzeichen. Beim fünften sieht Johannes unter dem Altar Gottes die Seelen der Märtyrer Christi, die erwürget wurden um des Worts Gottes willen, und sie schrien laut: Herr, wie lange richtest du und rächest nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? worauf man ihnen ein weißes Kleid gibt und sie vertröstet, noch zu warten eine kleine Zeit, es müßten noch mehr Märtyrer getötet werden. - Hier ist also noch keine Rede von der "Religion der Liebe", von dem: Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen usw., hier wird unverhohlene Rache gepredigt, Rache, gesunde ehrliche Rache an den Verfolgern der Christen. Und so im ganzen Buch. Je näher die Krisis rückt, je dichter die Plagen und Strafgerichte vom Himmel herunterregnen, mit desto größrer Freude meldet unser Johannes, |466| daß die große Masse der Menschen noch immer nicht Buße tun will für ihre Sünden, daß noch neue Geißeln Gottes auf sie herabsausen müssen, daß Christus sie regieren muß mit eiserner Rute und treten die Kelter des Weins des grimmigen Zorns des allmächtigen Gottes, aber daß die Gottlosen doch verstockt bleiben in ihren Herzen. Es ist das naturgemäße, von aller Scheinheiligkeit freie Gefühl, daß man im Kampf steht, und daß - à la guerre comme à la guerre |Krieg eben Krieg ist|. - Beim siebenten Siegel erscheinen sieben Engel mit Posaunen; jedesmal, wenn einer in die Posaune stößt, geschehn neue Schreckzeichen. Nach dem siebenten Posaunenstoß treten sieben neue Engel auf die Bühne mit den sieben Schalen des Zornes Gottes, die über die Erde ausgeschüttet werden; abermals neue Plagen und Strafgerichte, in der Hauptsache meist die mühsame Wiederholung des schon mehrmals Dagewesenen. Dann kommt das Weib, Babylon die große Hure, sitzend in scharlachnem Kleid über den Wassern, trunken vom Blut der Heiligen und Märtyrer Jesu, das ist die große Stadt auf sieben Hügeln, die da herrscht über alle Könige der Erde. Sie sitzt auf einem Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern. Die sieben Köpfe repräsentieren die sieben Hügel, aber auch sieben "Könige". Von diesen Königen sind fünf vergangen, einer ist, der siebente kommt noch, und nach ihm kommt wieder einer aus den ersten fünf, der zum Tod verwundet war, aber wieder geheilt worden. Dieser wird 42 Monate oder 31/2 Jahr (die Hälfte der Jahreswoche von sieben Jahren) über die Erde herrschen, die Gläubigen bis auf den Tod verfolgen und die Gottlosigkeit zur Herrschaft bringen. Dann aber erfolgt der große Entscheidungskampf, die Heiligen und Märtyrer werden gerächt durch Zerstörung der großen Hure Babylon und aller ihrer Anhänger, d.h. der großen Masse der Menschen; der Teufel wird in den Abgrund gestürzt und dort eingeschlossen auf tausend Jahre, während denen Christus mit den vom Tode auferstandenen Märtyrern das Reich führt. Nach tausend Jahren aber wird der Teufel wieder los, und es gibt eine neue große Geisterschlacht, worin er endgültig besiegt wird. Dann folgt die zweite Auferstehung, wo auch die übrigen Toten erwachen und vor dem Richterstuhl Gottes (nicht Christi, wohl zu merken) erscheinen, und die Gläubigen eingehn in einen neuen Himmel, eine neue Erde, und ein neues Jerusalem zum ewigen Leben.

Wie diese ganze Zurüstung mit ausschließlich jüdisch-vorchristlichem Material aufgebaut ist, so bietet sie auch fast nur rein jüdische Vorstellungen. Seit es anfing, dem Volk Israel schlecht zu gehn in dieser Welt, von |467| der assyrischen und babylonischen Zinsbarkeit, von der Zerstörung der beiden Reiche Israel und Juda an bis zur seleucidischen Knechtschaft, also von Jesaia bis Daniel, wird jedesmal in der Trübsal ein Retter prophezeit. Bei Daniel 12, 1-3 findet sich sogar schon eine Prophezeiung vom Herabsteigen Michaels, des Schutzengels der Juden, der sie aus großer Trübsal erretten wird; viele Toten werden auferstehn, es gibt eine Art jüngstes Gericht, und die Lehrer, die das Volk zur Gerechtigkeit weisen, werden leuchten wie die Sterne ewiglich. Christlich ist nur die scharfe Betonung des nahe bevorstehenden Reichs Christi und der Herrlichkeit der auferstandnen Gläubigen, namentlich der Märtyrer.

Die Deutung dieser Weissagung, soweit sie sich auf damalige Zeitereignisse bezieht, verdanken wir der deutschen Kritik, besonders Ewald, Lücke und Ferdinand Benary. Durch Renan ist sie auch nichttheologischen Kreisen zugänglich geworden. Daß die große Hure Babylon die Siebenhügelstadt Rom bedeutet, haben wir schon gesehn. Von dem Tier, worauf sie sitzt, heißt es 17, 9-11:

"Die sieben Häupter" (des Tiers) "sind sieben Berge, auf welchen das Weib sitzt, und sieben Könige. Fünf sind gefallen, und einer ist, und der andre ist noch nicht gekommen, und wenn er kommt, muß er eine kleine Zeit bleiben. Und das Tier, das gewesen ist, und nicht ist, das ist der achte, und ist von den sieben, und fährt in die Verdammnis."

Hiernach ist das Tier die römische Weltherrschaft, repräsentiert nacheinander durch sieben Kaiser, von denen einer tödlich verwundet wurde und nicht mehr herrscht, aber geheilt wird und wiederkommt, um als achter das Reich der Lästerung und des Trotzes wider Gott zur Vollendung zu bringen. Es wird ihm gegeben

"zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden, und alle, die auf Erden wohnen und deren Namen nicht geschrieben sind in dem lebendigen Buch des Lamms, beten das Tier an; alle, die Großen und Kleinen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Knechte, müssen das Malzeichen des Tiers an der rechten Hand oder der Stirn tragen, daß niemand kaufen oder verkaufen kann, er habe denn das Malzeichen oder den Namen des Tiers oder die Zahl seines Namens. Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers, denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist 666." (13,7-18.)

Wir konstatieren bloß, daß hier also der Boykott als eine von der römischen Weltmacht gegen die Christen anzuwendende Maßregel erwähnt wird - also handgreiflich eine Erfindung des Teufels ist - und gehn über zu der Frage, wer dieser römische Kaiser ist, der früher schon einmal |468| geherrscht hat, auf den Tod verwundet und beseitigt wurde, aber als achter der Reihe wiederkommt und den Antichrist spielen wird.

Von Augustus als dem ersten an haben wir 2. Tiberius, 3. Caligula, 4. Claudius, 5. Nero, 6. Galba. "Fünf sind gefallen, und einer ist." Also Nero ist schon gefallen, Galba ist. Galba herrschte vom 9. Juni 68 bis zum 15. Januar 69. Aber gleich nach seiner Thronbesteigung erhoben sich die Legionen am Rhein unter Vitellius, während in andern Provinzen andre Feldherrn Militäraufstände vorbereiteten. In Rom selbst empörten sich die Prätorianer, erschlugen Galba und machten Otho zum Kaiser.

Hieraus geht hervor, daß unsre Offenbarung unter Galba geschrieben wurde. Wahrscheinlich gegen das Ende seiner Regierung. Oder spätestens während der drei Monate (bis 15. April 69) der Herrschaft Othos, "des Siebenten". Wer aber ist der achte, der gewesen ist und nicht ist? Das lehrt uns die Zahl 666.

Unter den Semiten - Chaldäern und Juden - war damals eine Zauberkunst im Schwang, die auf der doppelten Bedeutung der Buchstaben beruhte. Seit ungefähr 300 Jahren vor unsrer Zeitrechnung wurden die hebräischen Buchstaben auch als Zahlzeichen gebraucht a = 1, b = 2, g = 3, d = 4 usw. Die kabbalistischen Wahrsager nun zählten die Zahlenwerte der Buchstaben eines Namens als Quersumme zusammen und suchten daraus zu prophezeien, z.B. durch Bildung von Worten oder Wortverbindungen von gleichem Zahlenwert, die Schlüsse auf die Zukunft des Namensträgers zuließen. Ebenso wurden geheime Worte in dieser Zahlensprache ausgedrückt und dergleichen mehr. Man nannte diese Kunst mit einem griechischen Wort gematriah, Geometrie; die Chaldäer, die dies geschäftsmäßig betrieben, und von Tacitus als mathematici bezeichnet werden, wurden unter Claudius und später nochmals unter Vitellius, vermutlich wegen "groben Unfugs", aus Rom vertrieben.

Vermittelst eben dieser Mathematik ist auch unsere Zahl 666 entstanden. Hinter ihr birgt sich der Name eines der ersten fünf römischen Kaiser. Außer der Zahl 666 kannte aber Irenäus, Ende des zweiten Jahrhunderts, eine Variante 616, die jedenfalls entstanden war zu einer Zeit, wo das Rätsel der Zahl noch vielen bekannt war. Entspricht die zu liefernde Lösung beiden Zahlen gleichmäßig, so ist die Probe darauf gemacht.

Ferdinand Benary in Berlin hat diese Lösung geliefert. Der Name ist Nero. Die Zahl ist begründet auf , Neron Kesar, die durch Talmud und palmyrenische Inschriften beglaubigte hebräische Schreibung des griechischen Neron Kaisar, Kaiser Nero, welches die Aufschrift der in der östlichen Reichshälfte geschlagenen neronischen Münzen war. Nämlich |469| n (nun) = 50, r (resch) = 200, w (waw) für o = 6, n (nun) = 50, k (koph) = 100, s (samech) = 60 und r (resch) = 200, Summa = 666. Nehmen wir aber als Grundlage die lateinische Schreibung Nero Caesar, so fällt das zweite nun = 50 weg, und wir haben 666 - 50 = 616, die Variante des Irenäus.

In der Tat war zur Zeit Galbas das ganze Römische Reich in plötzliche Verwirrung geraten. Galba selbst war an der Spitze der spanischen und gallischen Legionen auf Rom marschiert, um Nero zu stürzen; dieser floh und ließ sich von einem Freigelassenen töten. Aber gegen Galba konspirierten nicht nur die Prätorianer in Rom, sondern auch die Oberbefehlshaber in den Provinzen; überall meldeten sich neue Thronprätendenten und bereiteten sich vor, mit ihren Legionen auf die Hauptstadt loszurücken. Das Reich schien dem innern Krieg preisgegeben, sein Zerfall schien bevorstehend. Und zu alledem verbreitete sich das Gerücht, namentlich im Osten, Nero sei nicht tot, nur verwundet, sei zu den Parthern entflohen und werde mit Heeresmacht heranziehn über den Euphrat, eine neue und blutigere Schreckensherrschaft zu eröffnen. Achaja und Asien besonders wurden durch solche Berichte geängstigt. Und grade um die Zeit, wo die Offenbarung geschrieben sein muß, tauchte ein falscher Nero auf, der sich mit ziemlich zahlreichem Anhang nahe bei Patmos und Kleinasien, auf der Insel Kythnos im Agäischen Meer (dem heutigen Thermia), festsetzte, bis er, noch unter Otho, getötet wurde. Was Wunder, daß sich da unter den Christen, gegen die Nero die erste große Verfolgung eingeleitet, die Ansicht verbreitete, er komme wieder als Antichrist, und seine Wiederkunft und der mit ihr notwendig verknüpfte verschärfte Versuch zur blutigen Ausrottung der neuen Sekte sei das Vorzeichen und Vorspiel der Wiederkunft Christi, des großen siegreichen Kampfes gegen die Mächte der Hölle, des "in der Kürze" zu errichtenden Tausendjährigen Reichs, dessen sichre Erwartung die Märtyrer freudig in den Tod gehn ließ?

Die christliche und christlich beeinflußte Literatur der ersten beiden Jahrhunderte weist Anzeichen genug auf, daß das Geheimnis der Zahl 666 damals vielen bekannt war. Irenäus allerdings kannte es nicht mehr, er dagegen wie viele andre bis Ende des dritten Jahrhunderts wissen auch, daß mit dem Tier der Apokalypse der wiederkehrende Nero gemeint war. Dann geht auch diese Spur verloren und unsre Schrift verfällt der phantastischen Deutung rechtgläubiger Zukunftsspäher; ich selbst habe noch als Kind alte Leute gekannt, die den Untergang der Welt und das jüngste Gericht nach dem alten Johann Albrecht Bengel auf das Jahr 1836 erwarteten. Die Prophezeiung ist eingetroffen, und aufs Jahr. Nur daß das jüngste Gericht |470| nicht die sündige Welt, sondern die frommen Offenbarungsdolmetscher selbst traf. Denn im selben Jahr 1836 lieferte F. Benary den Schlüssel zur Zahl 666, und machte damit all der Weissagungsrechnerei, dieser neuen gematriah, ein Ende mit Schrecken.

Von dem Himmelreich, das den Gläubigen vorbehalten, kann unser Johannes nur eine sehr äußerliche Beschreibung geben. Das neue Jerusalem ist allerdings nach damaligen Begriffen ziemlich groß angelegt, ein Quadrat von 12.000 Stadien = 2.227 Kilometer Seitenlänge, also ein Flächenraum von etwa fünf Millionen [Quadrat]kilometer, mehr als die Hälfte der Vereinigten Staaten von Amerika, und gebaut von lauter Gold und Edelstein. Dort wohnt Gott unter den Seinigen, leuchtet ihnen statt der Sonne, und es gibt keinen Tod und kein Leid und keine Schmerzen mehr; ein Strom des lebendigen Wassers durchfließt die Stadt, an dessen Ufern wachsen Bäume des Lebens mit zwölferlei Früchten, die alle Monate neu reifen; die Blätter aber "dienen zur Gesundheit der Heiden" (wie Renan meint, als eine Art Medizinaltee, "L'Antechrist", p. 542). Hier leben die Heiligen ewiglich.

Solcher Art war das Christentum beschaffen in Kleinasien, seinem Hauptsitz um das Jahr 68, soweit wir es kennen. Keine Spur einer Dreieinigkeit - dagegen der alte einige und unteilbare Jehovah des späteren Judentums, wo er sich vom jüdischen Nationalgott zum alleinigen höchsten Gott Himmels und der Erden aufgeschwungen hat, wo er die Herrschaft über alle Völker beansprucht, den Bekehrten Gnade verspricht, die Widerspenstigen erbarmungslos niederschmettert, getreu dem antiken parcere subjectis ac debellare superbos |die Unterworfenen schonen und die Übermütigen besiegen|. Demgemäß sitzt auch dieser Gott selbst zu Gericht am jüngsten Tag und nicht, wie in den späteren Schilderungen der Evangelien und Briefe, Christus. Der persischen, dem späteren Judentum geläufigen Emanationslehre entsprechend ist Christus, das Lamm, von Ewigkeit her von ihm ausgegangen, ebenso, aber schon auf niedrer Rangstufe, die "sieben Geister Gottes", die dem Mißverständnis einer poetischen Stelle (Jesaia 11,2) ihr Dasein verdanken. Sie alle sind nicht Gott oder Gott gleich, sondern ihm Untertan. Das Lamm bringt sich selbst zum Sühnopfer dar für die Sünden der Welt und erfährt dafür im Himmel eine ausdrückliche Rangerhöhung; denn dieser sein freiwilliger Opfertod wird ihm im ganzen Buch als eine außerordentliche Tat angerechnet, nicht als etwas, das aus seinem innersten Wesen mit Notwendigkeit hervorgeht. Es versteht sich, daß der ganze himmlische Hofstaat von Ältesten, Cherubim, Engeln |471| und Heiligen nicht fehlt. Der Monotheismus, um eine Religion zu werden, hat von jeher dem Polytheismus Konzessionen machen müssen, von der Zendauesta an. Bei den Juden dauert der Abfall zu den heidnischen sinnlichen Göttern chronisch fort, bis nach dem Exil der himmlische Hofstaat nach persischem Muster die Religion der Volksphantasie etwas mehr anpaßt. Und selbst das Christentum, auch nachdem es an die Stelle des ewig sich selbst gleichen, starren Judengottes den in sich differenzierten, mysteriösen dreieinigen Gott gesetzt, konnte bei den Volksmassen nur durch den Kultus der Heiligen den Kultus der alten Götter verdrängen; wie denn nach Fallmerayer der Jupiterdienst auf dem Peloponnes, in der Maina, in Arkadien erst um das neunte Jahrhundert ausgestorben ist ("Geschichte der Halbinsel Morea", I, p. 227). Erst die moderne bürgerliche Periode und ihr Protestantismus beseitigen die Heiligen wieder und machen endlich Ernst mit dem differenzierten Monotheismus.

Ebensowenig kennt unsre Schrift die Lehre von der Erbsünde und der Rechtfertigung durch den Glauben. Der Glaube dieser kampfesfreudigen ersten Gemeinden ist ganz andrer Art als der der spätern siegreichen Kirche: neben dem Sühnopfer des Lammes sind die nahe Wiederkunft Christi und das in der Kürze anbrechende Tausendjährige Reich sein wesentlichster Inhalt, und das, worin er sich allein bewährt, ist tätige Propaganda, unablässiger Kampf gegen den äußern und innern Feind, stolzfreudiges Bekennen des revolutionären Standpunkts vor den heidnischen Richtern, siegsgewisser Märtyrertod.

Wir sahen, daß der Verfasser noch gar nicht weiß, daß er etwas andres ist als ein Jude. Demgemäß ist auch von der Taufe im ganzen Buch nirgends die Rede, wie denn vieles darauf hindeutet, daß die Taufe eine Institution der zweiten christlichen Periode ist. Die 144.000 gläubigen Juden werden "versiegelt", nicht getauft. Von den Heiligen im Himmel und den Gläubigen auf Erden heißt es, sie hätten ihre Sünden abgewaschen, ihre weißen Kleider gewaschen und helle gemacht im Blut des Lammes, vom Taufwasser ist nicht die Rede. Auch die beiden Propheten, die dem Erscheinen des Antichrist Kap. 11 vorhergehn, taufen nicht, und nach 19,10 ist das Zeugnis Jesu nicht die Taufe, sondern der Geist der Weissagung. Bei allen diesen Gelegenheiten war es natürlich, die Taufe zu erwähnen, falls sie damals schon Geltung hatte; wir dürfen also fast mit absoluter Sicherheit schließen, daß unser Verfasser sie nicht kannte, daß sie erst aufkam, als die Christen sich von den Juden endgültig schieden.

Ebensowenig weiß der Verfasser vom zweiten späteren Sakrament, dem Abendmahl. Wenn im lutherischen Text Christus jedem im Glauben aus- |472| harrenden Thyatiraner verspricht, er werde bei ihm einkehren und das Abendmahl mit ihm halten, so gibt dies einen falschen Schein. Im Griechischen steht deipnêsô, ich werde zu Abend essen (mit ihm), und die englische Bibel gibt dies ganz richtig: I shall sup with him. Vom Abendmahl selbst als bloßem Gedächtnismahl ist hier absolut nicht die Rede.

Daß unser Buch mit seinem so eigentümlich beglaubigten Datum 68 oder 69 das älteste der ganzen christlichen Literatur ist, daran kann kein Zweifel sein. Kein andres ist in einer so barbarischen, von Hebraismen, unmöglichen Konstruktionen und grammatischen Fehlern wimmelnden Sprache geschrieben. So heißt es Kap. 1,4 wörtlich:

"Gnade sei mit euch und Friede von der Seiende und der war und der Kommende."

Daß die Evangelien und die Apostelgeschichte späte Überarbeitungen von jetzt verlornen Schriften sind, deren schwacher historischer Kern unter der sagenhaften Überwucherung heute nicht mehr zu erkennen ist; daß selbst die paar angeblich "echten" apostolischen Briefe von Bruno Bauer entweder als spätere Schriften oder im besten Fall als durch Zusätze und Einschiebungen veränderte Bearbeitungen älterer Werke unbekannter Verfasser sind {1}, wird nur noch von Theologen von Profession oder andern interessierten Geschichtschreibern geleugnet. Um so wichtiger ist es, daß wir hier ein Buch haben, dessen Abfassungszeit fast bis auf den Monat feststeht, ein Buch, das uns das Christentum in seiner unentwickeltsten Form vorführt, in der Form, worin es sich zu der in Dogmatik und Mythologie vollständig ausgearbeiteten Staatsreligion des vierten Jahrhunderts etwa verhält, wie die noch schwankende Mythologie der Germanen des Tacitus zu der durch den Einfluß christlicher und antiker Elemente ausgebildeten Götterlehre der "Edda". Der Keim der Weltreligion ist da, aber dieser Keim schließt noch die tausend Entwicklungsmöglichkeiten unterschiedslos ein, die in den zahllosen späteren Sekten sich verwirklichten. Und gerade darum ist uns dies älteste Stück aus dem Werdeprozeß des Christentums besonders wertvoll, weil es uns in seiner Reinheit dasjenige gibt, was das Judentum - unter starkem alexandrinischen Einfluß - zum Christentum beigetragen hat. Alles Spätere ist westliche, griechisch-römische Zutat. Nur durch die Vermittlung der monotheistischen jüdischen Religion konnte der gebildete Monotheismus der späteren griechischen |473| Vulgärphilosophie die religiöse Form überkommen, worin allein er die Massen ergreifen konnte. Aber einmal diese Vermittlung gefunden, konnte er Weltreligion werden nur in der griechisch-römischen Welt und durch Fortentwicklung in und Verschmelzung mit dem durch sie eroberten Gedankenstoff.


Fußnoten von Friedrich Engels

{1} Einen eigentümlichen Gegensatz hierzu bilden die religiösen Aufstände der muhammedanischen Weit, namentlich in Afrika. Der Islam ist eine auf Orientalen, speziell Araber zugeschnittene Religion, also einerseits auf handel- und gewerbetreibende Städter, andrerseits auf nomadisierende Beduinen. Darin liegt aber der Keim einer periodisch wiederkehrenden Kollision. Die Städter werden reich, üppig, lax in Beobachtung des "Gesetzes". Die Beduinen, arm und aus Armut sittenstreng, schauen mit Neid und Gier auf diese Reichtümer und Genüsse. Dann tun sie sich zusammen unter einem Propheten, einem Mahdi, die Abgefallnen zu züchtigen, die Achtung vor dem Zeremonialgesetz und dem wahren Glauben wiederherzustellen und zum Lohn die Schätze der Abtrünnigen einzuheimsen. Nach hundert Jahren stehn sie natürlich genau da, wo jene Abtrünnigen standen: eine neue Glaubensreinigung ist nötig, ein neuer Mahdi steht auf, das Spiel geht von vorne an. So ist's geschehn von den Eroberungszügen der afrikanischen Almoraviden und Almohaden nach Spanien bis zum letzten Mahdi von. Chartum, der den Engländern so erfolgreich trotzte. So oder ähnlich verhielt es sich mit den Aufständen in Persien und andern muhammedanischen Ländern. Es sind alles religiös verkleidete Bewegungen, entspringend aus ökonomischen Ursachen; aber, auch wenn siegreich, lassen sie die alten ökonomischen Bedingungen unangerührt fortbestehen. Es bleibt also alles beim alten, und die Kollision wird periodisch. In den Volkserhebungen des christlichen Westens dagegen dient die religiöse Verkleidung nur als Fahne und Maske für Angriffe auf eine veraltende ökonomische Ordnung; diese wird schließlich gestürzt, eine neue kommt auf, die Welt kommt vorwärts. <=


Textvarianten

{1} In der von der Zeitschrift "Le Devenir social" veröffentlichten autorisierten Übersetzung lautet dieser Salzteil: daß die drei oder vier apostolischen Briefe, die von der Tübinger Schule noch als echt angesehen werden, nicht mehr als Schriften einer späteren Epoche sind, wie Bruno Bauer in seiner gründlichen Analyse nachwies <=


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