MLWerke | Marx/Engels - Werke | Artikel und Korrespondenzen 1894 | ||
Seitenzahlen verweisen auf: | Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 439-442. | |
Korrektur: | 1 | |
Erstellt: | 06.04.1999 |
Geschrieben am 26. Januar 1894.
Nach der Handschrift.
Am dem Französischen.
|439| Die Lage in Italien ist meiner Ansicht nach die folgende: Die Bourgeoisie, die während der nationalen Emanzipation und danach zur Macht kam, konnte und wollte ihren Sieg nicht vollenden. Sie hat weder die Reste der Feudalität vernichtet, noch die nationale Produktion nach modernem bourgeoisen Muster reorganisiert. Unfähig, das Land an den relativen und zeitweiligen Vorteilen des kapitalistischen Systems teilnehmen zu lassen, hat sie ihm dessen sämtliche Lasten, sämtliche Nachteile aufgebürdet. Damit nicht genug, verspielte sie in schmutzigen Finanzaffären für immer den letzten Rest von Achtung und Vertrauen.
Das arbeitende Volk - Bauern, Handwerker, Land- und Industriearbeiter - steht somit unter schwerem Druck, einerseits infolge überalterter Mißstände, Hinterlassenschaften nicht nur der Feudalzeit, sondern sogar noch der Antike (mezzadria |Halbpacht|; die Latifundien des Südens, wo das Vieh den Menschen verdrängt), andrerseits infolge des raffgierigsten Steuersystems, das jemals ein Bourgeoissystem erdacht hat. Hier kann man mit Marx sagen: Uns "quält ..., gleich dem ganzen übrigen kontinentalen Westeuropa, nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch der Mangel ihrer Entwicklung. Neben den modernen Notständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Notstände, entspringend aus der Fortvegetation altertümlicher, überlebter Produktionsweisen, mit ihrem Gefolg von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht nur von den Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vif! |Der Tote packt den Lebenden|"
Diese Lage drängt zu einer Krisis. Allenthalben gärt es in der produzierenden Masse; da und dort erhebt sie sich. Wohin wird uns diese Krisis führen?
|440| Offensichtlich ist die Sozialistische Partei zu jung und infolge der ökonomischen Situation zu schwach, um einen unmittelbar bevorstehenden Sieg des Sozialismus erhoffen zu können. In diesem Lande überwiegt die Landbevölkerung bei weitem die städtische; in den Städten ist die Großindustrie schwach entwickelt, das typische Proletariat ist darum wenig zahlreich; die Mehrzahl besteht aus Handwerkern, Krämern und Deklassierten, einer zwischen Kleinbürgertum und Proletariat schwankenden Masse. Das mittelalterliche kleine und mittlere Bürgertum ist in Verfall und Auflösung, zumeist Proletarier von morgen, aber noch nicht von heute. Diese Klasse allein wird es sein, die, tagtäglich den wirtschaftlichen Ruin vor Augen und jetzt zur Verzweiflung getrieben, sowohl das Gros der Kämpfer als auch die Führer einer revolutionären Bewegung stellen kann. Ihr werden die Bauern beistehen, denen wegen ihrer territorialen Zersplitterung und ihres Analphabetentums jede wirksame Initiative verwehrt ist, die aber dennoch starke und unentbehrliche Verbündete sein werden.
Im Falle eines mehr oder weniger friedlich errungenen Erfolgs wird ein einfacher Wechsel des Ministeriums stattfinden, und die "bekehrten" Republikaner, die Cavallotti & Co., werden ans Ruder kommen; im Falle einer Revolution wird die bürgerliche Republik kommen.
Welche Rolle müßte angesichts dieser Möglichkeiten die Sozialistische Partei spielen?
Seit 1848 ist die Taktik, die den Sozialisten am häufigsten Erfolge gebracht hat, die des "Kommunistischen Manifests": Die Sozialisten vertreten "in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung ... Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung." - Sie nehmen mithin aktiven Anteil an allen Entwicklungsphasen des Kampfes der beiden Klassen, ohne dabei jemals aus dem Auge zu verlieren, daß diese Phasen nur ebenso viele Etappen sind, die zu dem höchsten großen Ziele führen: der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat als Mittel zur gesellschaftlichen Umgestaltung. Ihr Platz ist in den Reihen der Kämpfer für jeden unmittelbaren Erfolg, der im Interesse der Arbeiterklasse zu erzielen ist; alle diese politischen oder sozialen Erfolge akzeptieren sie, aber nur als Abschlagszahlungen. Darum betrachten sie jede revolutionäre oder progressive Bewegung als einen Schritt vorwärts auf ihrem eigenen Wege, |441| und ihre besondere Aufgabe ist es, die anderen revolutionären Parteien vorwärtszudrängen und, falls eine von diesen Parteien siegen sollte, die Interessen des Proletariats zu wahren. Diese Taktik, welche das große Ziel nie aus dem Auge verliert, bewahrt die Sozialisten vor den Enttäuschungen, denen die anderen, weniger klarblickenden Parteien - ob reine Republikaner oder Gefühlssozialisten - unweigerlich unterliegen, da sie eine bloße Etappe für das Endziel des Vormarsches halten.
Wenden wir all das auf Italien an.
Der Sieg des in Auflösung begriffenen Kleinbürgertums und der Bauern wird also möglicherweise zur Bildung eines Ministeriums von "bekehrten" Republikanern führen. Das wird uns das allgemeine Wahlrecht und eine erheblich größere Bewegungsfreiheit (Preß-, Versammlungs-, Koalitionsfreiheit, Abschaffung der ammonizione |Polizeiaufsicht| etc.) verschaffen - neue, nicht zu verachtende Waffen.
Oder es kommt zur Gründung der bürgerlichen Republik, mit denselben Leuten und ein paar Mazzinisten. Das würde unsere Freiheit und unser Aktionsfeld noch weit mehr ausdehnen, zumindest für den Augenblick. Und die bürgerliche Republik, hat Marx gesagt, ist die politische Form, worin der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie allein seine Lösung finden kann. Ganz zu schweigen von der Rückwirkung, die das in Europa hervorriefe.
Der Sieg der jetzigen revolutionären Bewegung kann uns also nur stärker machen und uns eine günstigere ambiente |Atmosphäre| schaffen. Wir würden somit den allergrößten Fehler begehen, wollten wir Abstention üben und unser Verhalten zu den "affini" |"verwandten"| Parteien auf eine rein negative Kritik beschränken. Es kann der Augenblick kommen, da wir positiv mit ihnen zusammenarbeiten müssen, und wer weiß, wann dieser Augenblick kommen wird?
Selbstredend ist es nicht unsere Sache, eine Bewegung direkt vorzubereiten, welche nicht präzise die Bewegung der von uns vertretnen Klasse ist. Wenn die Radikalen und Republikaner glauben, es sei der Zeitpunkt gekommen, auf die Straße zu gehen, so mögen sie ihrem Ungestüm freien Lauf lassen. Was uns anbetrifft, so sind wir zu oft von den großen Versprechungen dieser Herren getäuscht worden, als daß wir noch einmal in die Falle gingen. Weder ihre Proklamationen noch ihre Verschwörungen dürfen uns berühren. Wenn wir gehalten sind, jede wirkliche Volksbewegung zu unterstützen, so sind wir gleichfalls gehalten, den kaum formierten |442| Kern unserer proletarischen Partei nicht zwecklos zu opfern und das Proletariat nicht in fruchtlosen lokalen Aufständen dezimieren zu lassen.
Wenn dagegen die Bewegung wirklich national ist, werden unsere Leute dabei sein, ohne daß sie dazu aufgerufen werden brauchen, und unsere Teilnahme an einer solchen Bewegung versteht sich von selbst. Dann aber muß man sich darüber im klaren sein, und wir müssen es offen verkünden, daß wir als unabhängige Partei teilnehmen, für den Augenblick mit den Radikalen und Republikanern verbündet, aber völlig von ihnen unterschieden; daß wir uns im Falle eines Sieges keine Illusionen über das Resultat des Kampfes machen; daß ein solches Resultat, weit entfernt, uns zu befriedigen, für uns nur eine gewonnene Etappe, eine neue Operationsbasis für weitere Eroberungen sein wird; daß sich noch am Tage des Sieges unsere Wege trennen; daß wir von diesem Tage an der neuen Regierung gegenüber die neue Opposition bilden werden, keine reaktionäre, sondern eine fortschrittliche Opposition, eine Opposition der äußersten Linken, die zu neuen Eroberungen vorstoßen wird, über das gewonnene Terrain hinaus.
Nach dem gemeinsamen Siege bietet man uns vielleicht einige Sitze in der neuen Regierung an - aber immer so, daß wir in der Minderheit sind. Das ist die größte Gefahr. Nach dem Februar 1848 begingen die französischen sozialistischen Demokraten (die von der "Réforme", Ledru-Rollin, Louis Blanc, Flocon etc.) den Fehler, solche Posten anzunehmen. Als Minderheit in der Regierung haben sie freiwillig die Verantwortung für alle Infamien und Verrätereien geteilt, welche die aus reinen Republikanern bestehende Mehrheit gegen die Arbeiter beging; währenddessen lähmte die Teilnahme dieser Herren an der Regierung völlig die revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse, die sie vorgaben zu vertreten.
Mit alledem bringe ich nur meine persönliche Meinung zum Ausdruck, da ich darum gebeten worden bin, und ich tue es mit der größten Zurückhaltung. Was die allgemeine Taktik anbelangt, so habe ich ihre Wirksamkeit während meines ganzen Lebens erprobt; sie hat mich nie im Stich gelassen. Was aber ihre Anwendung auf die gegenwärtigen Bedingungen in Italien anbelangt, so ist das etwas anderes; das muß an Ort und Stelle entschieden werden, und zwar von jenen, die mitten in den Ereignissen stehen.
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