MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1893

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 410/411.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

[Rede auf einer sozialdemokratischen Versammlung in Wien am 14. September]

[Zeitungsbericht]


["Arbeiter-Zeitung" Nr. 38 vom 22. September 18931

|410| Werte Genossen und Genossinnen!

Ich kann diesen Saal nicht verlassen, ohne meinen herzlichen, tief gefühlten Dank auszusprechen über den unverdienten Empfang, den der heutige Abend mir gebracht. Ich kann nur sagen, es ist leider mein Schicksal, den Ruhm meines verstorbenen Freundes einzuernten. In diesem Sinne nehme ich Ihre Ovationen auf. Wenn ich irgend etwas für die Bewegung habe tun können in den 50 Jahren, die ich in derselben gestanden habe, so verlange ich keinen Lohn dafür. Der schönste Lohn sind Sie! Wir haben unsere Leute in den Gefängnissen von Sibirien, wir haben sie in den Goldminen von Kalifornien, überall, bis nach Australien hin. Es gibt kein Land, keinen großen Staat, wo nicht die Sozialdemokratie eine Macht ist, mit der alle rechnen müssen. Alles, was geschieht in der ganzen Welt, geschieht mit Rücksicht auf uns. Wir sind eine Großmacht, die zu fürchten ist, von der mehr abhängt als von den anderen Großmächten. Das ist mein Stolz! Wir haben nicht umsonst gelebt und können auf unsere Arbeiten mit Stolz und Zufriedenheit zurückblicken. Man hat in Deutschland die Bewegung gewaltsam ersticken wollen, und jedesmal hat die Sozialdemokratie geantwortet, wie es die Bourgeoisie nicht erwartet hat.{1} Die wiederholten Wahlen, dieses sichere unwiderstehliche Anschwellen der sozialdemokratischen Stimmen, macht die Bourgeoisie bange, macht Caprivi bange, macht sämtliche Mächte bange. (Stürmischer Beifall.) Der |411| Vorredner |Leuthner| hat bemerkt, es wurde im Auslande immer die sozialdemokratische Bewegung unterschätzt. Meine werten Genossen, ich bin durch die Straßen Wiens gewandert und habe mir die wunderschönen Gebäude, welche die Bourgeoisie für das Proletariat der Zukunft zu bauen so gütig war (stürmische Heiterkeit), angesehen und habe mir auch den prachtvollen Arkadenbau des Rathauses, von welchem Sie so würdig Besitz ergriffen, zeigen lassen. Seit jener Besitzergreifung unterschätzt Sie keiner mehr. (Lebhafter Beifall.) Der Tag hat Epoche gemacht. Ich habe - ich war damals in London - den Schrecken der englischen Zeitungskorrespondenten gesehen, als sie berichteten, daß am 9. Juli das Proletariat Wien beherrscht hat, besser beherrscht, als es je beherrscht worden ist. (Tosender, langanhaltender Beifall und Händeklatschen. Hochrufe auf Engels, die sich fortwährend erneuern.)


Textvarianten

{1} Im Bericht der "Neuen Freien Presse" heißt es an Stelle dieses Satzes: Sie ringen gegenwärtig um das allgemeine Stimmrecht; es ist eine der mächtigsten Waffen in den Händen des Proletariats. Das allgemeine Wahlrecht ist das einzige Mittel, um die Macht, die Stärke der Partei zu zählen. Die Geschichte Deutschlands in den letzten zwanzig Jahren lehrt uns dies. <=