MLWerke | Marx/Engels - Werke | ||
Seitenzahlen verweisen auf: | Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 369-399. | |
Korrektur: | 1 | |
Erstellt: | 06.04.1999 |
Geschrieben im Februar 1893.
Erstmalig veröffentlicht als Artikelserie im "Vorwärts" in folgenden Nummern:
I in Nr. 51 am 1. März 1893
II. in Nr. 52 am 2. März 1893
III in Nr. 53 am 3. März 1893
IV in Nr. 54 am 4. März 1893
V in Nr. 55 am 5. März 1893
VI in Nr. 56 am 7. März 1893
VII in Nr. 58 am 9. März 1893
VIII in Nr. 59 am 10. März 1893
Erschien außerdem als Separatabdruck aus dem "Vorwärts", Nürnberg 1893.
Nach dem Separatabdruck.
|371| Die hier wiederabgedruckten Artikel wurden veröffentlicht im Berliner "Vorwärts", März 1893, während der Reichstagsdebatte über die Militärvorlage.
Ich gehe darin von der Voraussetzung aus, die sich mehr und mehr allgemeine Anerkennung erobert: daß das System der stehenden Heere in ganz Europa auf die Spitze getrieben ist in einem Grad, wo es entweder die Völker durch die Militärlast ökonomisch ruinieren oder in einen allgemeinen Vernichtungskrieg ausarten muß, es sei denn, die stehenden Heere werden rechtzeitig umgewandelt in eine auf allgemeiner Volksbewaffnung beruhenden Miliz.
Ich versuche, den Beweis zu führen, daß diese Umwandlung schon jetzt möglich ist, auch für die heutigen Regierungen und unter der heutigen politischen Lage. Ich gehe also von dieser Lage aus und schlage einstweilen nur solche Mittel vor, die jede heutige Regierung ohne Gefahr der Landessicherheit annehmen kann. Ich suche nur festzustellen, daß vom rein militärischen Standpunkt der allmählichen Abschaffung der stehenden Heere absolut nichts im Wege steht; und daß, wenn trotzdem diese Heere aufrechterhalten werden, dies nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen geschieht, daß also mit einem Wort die Armeen schützen sollen nicht so sehr gegen den äußern wie gegen den innern Feind.
Die allmähliche Herabsetzung der Dienstzeit durch internationalen Vertrag, die den Kernpunkt meiner Darstellung bildet, halte ich dagegen überhaupt für den einfachsten und kürzesten Weg, um den allgemeinen Übergang vom stehenden Heer zu der als Miliz organisierten Volksbewaffnung zu vermitteln. Die Modalitäten eines solchen Vertrags würden natürlich verschieden sein, je nach dem Charakter der vertragschließenden Regierungen und nach der jedesmaligen politischen Lage. Und günstiger als jetzt können die Dinge unmöglich liegen; kann man also heute schon |372| eine höchstens zweijährige Dienstzeit zum Ausgangspunkt nehmen, so wird in einigen Jahren vielleicht schon ein bedeutend geringerer Zeitraum zu wählen sein.
Indem ich die gymnastische und militärische Ausbildung der gesamten männlichen Jugend zu einer wesentlichen Bedingung des Übergangs zum neuen System mache, schließe ich die Verwechslung des hier vorgeschlagenen Milizsystems mit irgendwelcher jetzt bestehenden Miliz, z.B. der schweizerischen, ausdrücklich aus.
London, 28. März 1893
F. Engels
|373| Seit fünfundzwanzig Jahren rüstet ganz Europa in bisher unerhörtem Maß. Jeder Großstaat sucht dem andern den Rang abzugewinnen in Kriegsmacht und Kriegsbereitschaft. Deutschland, Frankreich, Rußland erschöpfen sich in Anstrengungen, eins das andre zu überbieten. Gerade in diesem Augenblick mutet die deutsche Regierung dem Volk eine neue, so gewaltsame Kraftanspannung zu, daß selbst der gegenwärtige sanfte Reichstag davor zurückbebt. Ist es da nicht Torheit, von Abrüstung zu reden?
Und doch rufen in allen Ländern die Volksklassen, die fast ausschließlich die Masse der Soldaten zu stellen und die Masse der Steuern zu zahlen haben, nach Abrüstung. Und doch hat überall die Anstrengung den Grad erreicht, wo die Kräfte - hier die Rekruten, dort die Gelder, am dritten Ort beide - zu versagen beginnen. Gibt es denn keinen Ausweg aus dieser Sackgasse außer durch einen Verwüstungskrieg, wie die Welt noch keinen gesehn hat?
Ich behaupte: Die Abrüstung und damit die Garantie des Friedens ist möglich, sie ist sogar verhältnismäßig leicht durchführbar, und Deutschland, mehr als ein andrer zivilisierter Staat, hat zu ihrer Durchführung die Macht wie den Beruf.
Nach dem Kriege von 1870/71 war die Überlegenheit des Systems der allgemeinen Dienstpflicht mit Reserve und Landwehr - selbst in seiner damaligen verkümmerten preußischen Gestalt - über das System der Konskription mit Stellvertretung endgültig dargetan. Alle kontinentalen Länder nahmen es, mehr oder weniger modifiziert, an. Das wäre an sich kein großer Schaden gewesen. Die Armee, die ihren Hauptrückhalt in den verheirateten Männern mittleren Alters hat, ist von Natur weniger offensiv, als die stark mit Einstehern - geworbenen Berufssoldaten - durchsetzte Konskriptionsarmee Louis-Napoleons war. Nun kam aber dazu die |374| Annexion von Elsaß-Lothringen, die den Frankfurter Frieden für Frankreich ebensosehr zu einem bloßen Waffenstillstand machte, wie der Tilsiter Friede dies für Preußen gewesen war. Und nun begann das fieberhafte Wettrüsten zwischen Frankreich und Deutschland, in welches allmählich auch Rußland, Österreich, Italien hineingezogen wurden.
Man begann damit, die Landwehrverpflichtung zu verlängern. In Frankreich erhielt die Territorialarmee eine Reserve von älteren Leuten, in Deutschland wurde das zweite Aufgebot der Landwehr und selbst der Landsturm wiederhergestellt. Und so ging's weiter, Schritt um Schritt, bis die von der Natur gesetzte Altersgrenze erreicht oder gar überschritten war.
Dann wurde die Rekrutenaushebung verstärkt und die dadurch nötig gewordnen neuen Ausbildungscadres errichtet; aber auch hier ist die Grenze fast oder ganz erreicht, in Frankreich sogar schon überschritten. Die letzten Aushebungsjahrgänge der französischen Armee schließen bereits eine ziemliche Anzahl junger Leute ein, die noch nicht oder überhaupt nicht den Strapazen des Dienstes gewachsen sind. Die englischen, hierin unparteiischen Offiziere, die den großen Manövern in der Champagne 1891 beiwohnten und die hohe Tüchtigkeit der heutigen französischen Armee vollauf und stellenweise bewundernd anerkannten, berichten einstimmig, daß eine unverhältnismäßig große Zahl junger Soldaten auf den Märschen und in den Gefechtsübungen liegenblieb. Und in Deutschland haben wir zwar unsre Reservebestände dienstfähiger Mannschaft noch nicht ganz erschöpft, aber dem abzuhelfen ist ja gerade die neue Militärvorlage da. Kurz, auch in dieser Beziehung stehn wir vor der Grenze der Leistungsfähigkeit.
Nun besteht gerade die moderne, die revolutionäre Seite des preußischen Wehrsystems in der Forderung, die Kraft jedes wehrfähigen Mannes für die ganze Dauer seines wehrfähigen Alters in den Dienst der nationalen Verteidigung zu stellen. Und das einzig Revolutionäre, das in der ganzen militärischen Entwicklung seit 1870 zu entdecken ist, liegt eben darin, daß man - oft genug wider Willen - sich genötigt gesehn hat, diese bisher nur in der chauvinistischen Phantasie erfüllte Forderung mehr und mehr wirklich durchzuführen. Weder an der Länge der Dienstverpflichtung, noch an der Einstellung aller wehrfähigen jungen Leute kann heute noch gerüttelt werden, am wenigsten von Deutschland, am allerwenigsten von der Sozialdemokratischen Partei, die im Gegenteil auch diese Forderung vollauf in die Praxis zu übersetzen in Deutschland allein imstande ist.
Es bleibt hiernach nur noch ein Punkt, wo das Bedürfnis nach Abrüstung den Hebel ansetzen kann: die Länge der Dienstzeit bei der Fahne. Und |375| hier liegt in der Tat der Punkt des Archimedes: Internationale Festsetzung, zwischen den Großmächten des Kontinents, des Maximums der aktiven Dienstzeit bei der Fahne für alle Waffengattungen, meinetwegen zuerst auf zwei Jahre, aber mit dem Vorbehalt sofortiger weiterer Herabsetzung, sobald man sich von der Möglichkeit überzeugt, und mit dem Milizsystem als Endziel. Und ich behaupte, daß gerade Deutschland vor allen berufen ist, diesen Antrag zu stellen, und daß Deutschland vor allen Vorteil daraus ziehn wird, daß es ihn stellt, selbst wenn er nicht angenommen wird.
|376| Die internationale Feststellung der Maximaldienstzeit bei der Fahne würde die Armeen aller Mächte gleichmäßig treffen. Es wird allgemein angenommen, daß bei Armeen, deren Mannschaft noch kein Pulver gerochen, für die erste Zeit eines Feldzugs die Länge der aktiven Dienstzeit - innerhalb gewisser Grenzen - den besten Maßstab abgibt für ihre Verwendbarkeit in allen Kriegslagen, namentlich für den strategischen wie taktischen Angriff. Unsere Krieger von 1870 haben die furia francese |französische Wut| des Bajonettangrifis der langgedienten kaiserlichen Infanterie und die Wucht der Kavallerie-Attacken von Wörth und Sedan hinreichend kennengelernt; sie haben aber auch bei Spichern, gleich im Beginn des Kriegs, bewiesen, daß sie - selbst in der Minderzahl - dieselbe Infanterie aus einer starken Stellung werfen konnten. Also im allgemeinen zugegeben: Innerhalb gewisser, je nach dem Nationalcharakter verschiedner Grenzen entscheidet bei nicht kriegsgewohnten Truppen die Länge der Dienstzeit bei der Fahne über die allgemeine Kriegsverwendbarkeit und namentlich über die Tüchtigkeit zur Offensive.
Gelingt es, eine Maximalgrenze dieser Dienstzeit international festzusetzen, so bleibt das relative Tüchtigkeitsverhältnis der verschiednen Armeen so ziemlich, was es heute ist. Was die eine an unmittelbarer Verwendbarkeit einbüßt, das büßen die andern auch ein. Soweit heute die Überrumpelung eines Staats durch den andern ausgeschlossen ist, soweit bleibt sie es auch dann. Der Unterschied der aktiven Dienstzeit z.B. in Frankreich und Deutschland ist bis jetzt nicht derart gewesen, daß er ins Gewicht fällt; auch unter der verkürzten Dienstzeit würde, ganz wie heute, alles darauf ankommen, wie in jeder der beiden Armeen die vereinbarte Dienstzeit benutzt wird. Im übrigen würde die relative Stärke der beiden |377| Armeen ganz dem Verhältnis der Bevölkerung beider Länder entsprechen, und nachdem die allgemeine Wehrpflicht einmal wirklich durchgeführt ist, wird bei Ländern annähernd gleicher ökonomischer Entwickelung (worauf der Prozentsatz der Untauglichen beruht) die Bevölkerungszahl immer den Maßstab der Heeresstärke abgeben. Da gibt es keine Kunststücke mehr wie die preußischen von 1813; der Rahm ist abgeschöpft.
Aber sehr viel hängt eben davon ab, wie die festgesetzte Dienstzeit ausgenutzt wird. Und da gibt es fast in allen Armeen Leute, die etwas erzählen könnten, wenn sie - dürften, denn die liebe Geldnot hat überall dazu gezwungen, einen Teil der Rekruten nur "notdürftig", in ein paar Monaten, auszubilden. Da muß man sich auf das Wesentliche beschränken, da fliegt ein ganzer Haufen traditioneller Firlefanz in die Ecke, und da findet man, zu seiner eignen Überraschung, wie wenig Zeit dazu gehört, aus einem passabel gewachsenen jungen Mann einen Soldaten zu machen. Wie das bei der deutschen Ersatzreserve die einübenden Offiziere in Erstaunen versetzt, hat Bebel im Reichstag erzählt. In der österreichischen Armee gibt es Offiziere die Menge, die da behaupten, die Landwehr, die mit der deutschen Ersatzreserve ungefähr gleiche Dienstzeit hat, sei besser als die Linie. Kein Wunder. Hier fehlt die Zeit, die bei der Linie mit den herkömmlichen und deswegen geheiligten Narrheiten vertrödelt wird, und eben deswegen wird sie nicht vertrödelt.
Das deutsche Exerzierreglement für die Infanterie von 1888 beschränkt die taktischen Formationen für das Gefecht auf das Notwendige. Neues enthält es nicht; die Gefechtsfähigkeit in allen Inversionsstellungen hatten schon die Österreicher nach 1859, die Bildung aller Bataillonskolonnen durch einfachen Zusammenschluß der vier Kompaniekolonnen hatten die Darmhessen um ebendieselbe Zeit eingeführt und mußten sich diese rationelle Formation nach 1866 von den Preußen wieder verbieten lassen. Im übrigen beseitigt das neue Reglement einen massenhaften Wust altfränkischer, ebenso nutzloser wie geheiligter Zeremonien; gerade ich habe absolut keinen Anlaß, daran zu kritteln. Ich hatte mir nämlich nach dem Krieg von 1870 den Luxus gestattet, ein Schema der der heutigen Kriegsführung angemessenen geschlossenen Formationen und Bewegungen der Kompanie und des Bataillons zu entwerfen, und war nicht wenig verwundert, dies Stück "Zukunftsstaat" in den betreffenden Abschnitten des neuen Reglements fast in allen Zügen verwirklicht zu finden.
Aber das Reglement ist eins, und die Ausführung ist ein andres. Das Kamaschenrittertum, das in allen Friedensepochen in der preußischen Armee floriert hat, bringt die in der Vorschrift abgeschaffte Zeitvergeudung |378| wieder herein durch die Hintertür der Parade. Da ist auf einmal der Paradedrill absolut notwendig als Gegengewicht gegen die Unbändigkeit der zerstreuten Gefechtsordnung, als einziges Mittel zur Schaffung wahrer Disziplin usw. usw. Das heißt nichts andres, als daß Ordnung und Disziplin nur dadurch herzustellen sind, daß man die Leute gänzlich nutzlose Dinge üben läßt. Allein die Abschaffung des "Stechschrittes" würde ganze Wochen für rationelle Übungen freisetzen, abgesehn davon, daß dann die fremden Offiziere eine deutsche Revue ansehn könnten, ohne sich das Lachen zu verbeißen.
Eine ähnliche veraltete Institution ist der Wachdienst, der auch nach althergebrachter Vorstellung dazu dient, die Intelligenz und besonders das Selbstdenken der Leute zu entwickeln, indem man ihnen die Kunst beibringt - falls sie sie nicht schon verstehn -, zwei Stunden lang auf Posten an gar nichts zu denken. Bei der heutigen allgemeinen Sitte, den Vorpostendienst im Terrain zu üben, hat das Postenstehn in der Stadt, wo es doch Sicherheitspolizei aller Art gibt, allen Sinn verloren. Man schaffe es ab, man wird mindestens zwanzig Prozent freie Dienstzeit fürs Militär und Sicherheit auf den Straßen fürs Zivil gewinnen.
Dann gibt's überall eine Menge Soldaten, die unter allerlei Vorwänden möglichst wenig Dienst tun: Kompaniehandwerker, Offiziersburschen usw. Da läßt sich auch manches ändern.
Ja - aber wie ist's mit der Reiterei? Die muß doch längere Dienstzeit haben? - Wünschenswert ist's gewiß, wenn man mit Rekruten zu tun hat, die weder reiten noch Pferde warten können. Aber da läßt sich auch manches tun. Wenn die Pferderationen weniger kärglich bemessen wären - die Pferde müssen ja zum Manöver erst aufgefüttert werden, um auf das Normalmaß von Kräften zu kommen! - und wenn bei jeder Schwadron eine Anzahl überzähliger Pferde vorhanden wären, so daß die Leute mehr und länger im Sattel üben könnten, kurz, wenn man einmal ernstlich daran ginge, die verkürzte Dienstzeit durch intensiveres Betreiben der wesentlichen und durch Beseitigung der überflüssigen Dinge aufzuwiegen, dann würde man bald finden, daß es auch so geht. Auch für das Remontereiten, auf das man sich jetzt so sehr stützt und dessen unbedingte Notwendigkeit ich gern zugebe, werden sich Mittel und Wege finden lassen. Und übrigens steht ja nichts im Wege, für so lange man es nötig hält, das System drei- oder vierjähnger Freiwilliger oder auch Kapitulanten für Reitertruppen beizubehalten und auszudehnen - gegen entsprechende Kompensationen in der Reserve- und Landwehrpflicht, ohne die man dergleichen nicht bekommt.
|379| Wenn man auf die militärischen Autoritäten hört, da ist das freilich anders. Da geht das alles absolut nicht, da darf an nichts gerüttelt werden, ohne daß alles zusammenbricht. Ich habe aber jetzt schon seit fünfzig Jahren so viel militärische Institutionen heute als unantastbar und geheiligt ausposaunen und morgen rücksichtslos in die Rumpelkammer werfen sehn, und zwar von genau denselben Autoritäten; ich habe ferner so oft gesehn, daß, was in der einen Armee über das Bohnenlied verhimmelt, in der andern unter der Kanone befunden wurde; ich habe so oft erlebt, daß die altbewährtesten und höchstgepriesenen Gewohnheiten und Einrichtungen vor dem Feind sich als Torheit erwiesen; ich habe endlich so oft erfahren, daß in jeder Armee eine besondere konventionelle Tradition besteht, die, für die unteren Chargen, den gemeinen Mann und das Publikum bestimmt, von den höheren Vorgesetzten gepflegt, von den selbstdenkenden Offizieren aber belächelt und von jedem Feldzug in Nichts aufgelöst wird - kurz, ich habe da so viel geschichtliche Erfahrungen gemacht, daß ich jedem rate, gegen nichts mißtrauischer zu sein als gegen militärisches "Fachurteil".
Es ist ein sonderbarer Kontrast: Unsere höheren Militärs sind gerade in ihrem Fach meist so entsetzlich konservativ, und doch gibt es heute kaum ein andres Gebiet, das so revolutionär ist wie das militärische. Zwischen dem glatten Sechspfünder und der siebenpfündigen Haubitze, womit ich dazumal am Kupfergraben hantierte, und den heutigen gezogenen Hinterladungsgeschützen, zwischen dem damaligen grobkalibrigen glatten Gewehr und dem heutigen Fünfmillimeter-Magazinhinterlader scheinen Jahrhunderte zu liegen; und noch ist kein Abschluß da, noch jeden Tag wirft die Technik alles eben erst neu Eingeführte rücksichtslos über den Haufen. Jetzt beseitigt sie sogar den romantischen Pulverdampf und gibt damit dem Gefecht einen total veränderten, im voraus absolut unberechenbaren Charakter und Verlauf. Mit solchen Unberechenbarkeiten aber haben wir inmitten dieser ununterbrochenen Revolutionierung der technischen Grundlage der Kriegführung immer mehr uns abzufinden.
Noch vor vierzig Jahren ging der wirksame Feuerbereich der Infanterie bis 300 Schritt, auf welcher Entfernung ein einzelner eine ganze Bataillonssalve gefahrlos aushalten konnte, vorausgesetzt nur, die Leute zielten wirklich alle auf ihn. Der Feuerbereich der Feldartillerie war schon bei 1.500 bis 1.800 Schritte praktisch unwirksam. Im Deutsch-Französischen Krieg war die wirksame Schußweite des Gewehrs 600-1.000 Schritt, die des Geschützes höchstens 3.000-4.000 Schritt. Die neuen, noch nicht kriegserprobten kleinkalibngen Gewehre aber haben eine Tragweite, die sich der des Geschützes nähert, ihre Geschoßbolzen besitzen eine aufs Vier- bis Sechsfache gesteigerte Durchschlagskraft; das Magazingewehr gibt einer Sektion heute die Feuerwirksamkeit, die früher einer Kompanie zukam; die Artillerie kann sich zwar keiner gleichen Verlängerung der Schußweite rühmen, hat dagegen ihre Sprenggeschosse mit ganz neuen Explosivstoffen von früher ungeahnter Wirkung geladen; freilich ist noch nicht ganz sicher, wer die Wirkung wird aushalten müssen, der Schießende oder der Angeschossene.
|381| Und mitten in dieser unaufhörlichen, immer rascher vor sich gehenden Umwälzung des ganzen Kriegswesens haben wir militärische Autoritäten uns gegenüber, die noch vor fünf Jahren ihre Truppen in alle die konventionellen Feierlichkeiten und künstlichen Eiertänze der auf dem Schlachtfeld längst verstorbnen Lineartaktik des alten Fritz einpaukten und Reglements heilighielten, wonach man noch immer geschlagen werden konnte, bloß weil man rechts abmarschiert war und kein Raum da war, links aufzumarschieren! Autoritäten, die bis auf den heutigen Tag nicht einmal wagen, die blanken Knöpfe und Metallbeschläge der Ausrüstung des Soldaten anzutasten - ebensoviel Magnete zur Anziehung der Fünfmillimeterbolzen -, die die Ulanen mit breiten roten Brustlätzen und die Kürassiere zwar ohne Küraß - endlich! -, aber im weißen Rock ins Gewehrfeuer schicken und sich nur schwer, wie schwer, entschlossen haben, die zwar entsetzlich geschmacklosen, aber dafür um so heiliger gehaltenen Epauletten lieber auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern als den Epaulettenträger selbst.
Es will mir scheinen, als läge es weder im Interesse des deutschen Volkes noch selbst der deutschen Armee, daß dieser konservative Aberglaube die Herrschaft im Heer behält, inmitten der ihn umwogenden technischen Revolution. Wir brauchen frischere, kühnere Köpfe, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn es deren nicht genug gäbe unter unsern fähigsten Offizieren, nicht genug, die sich nicht sehnten nach Befreiung aus der Routine und Kamaschenwirtschaft, die in den zwanzig Friedensjahren wieder üppig emporgewuchert. Aber bis diese den Mut und die Gelegenheit finden, ihre Überzeugung geltend zu machen, solange müssen wir andern von draußen her in den Riß treten und unser möglichstes tun, zu beweisen, daß wir beim Militär auch etwas gelernt haben.
Ich habe weiter oben nachzuweisen versucht, daß die zweijährige Dienstzeit schon jetzt für alle Waffengattungen durchführbar ist, wenn man den Leuten das beibringt, was sie im Krieg brauchen können, und sie mit zeitraubenden traditionellen Antiquitäten verschont. Ich habe aber gleich von vornherein gesagt, daß es nicht bei den zwei Jahren bleiben soll. Es handelt sich vielmehr darum, daß der Antrag auf internationale zweijährige Dienstzeit nur der erste Schritt sein soll zu einer allmählichen weitren Herabsetzung der Dienstzeit - sage zunächst auf achtzehn Monate, zwei Sommer und ein Winter, - dann ein Jahr - dann ...? Hier fängt der Zukunftsstaat an, das unverfälschte Milizsystem, und davon wollen wir weiterreden, wenn die Sache erst wirklich in Gang gebracht ist.
Und dies, daß die Sache in Gang gebracht werde, ist die Hauptsache. |382| Sieht man erst einmal der Tatsache ins Auge, daß die Herabsetzung der Dienstzeit eine Notwendigkeit ist für die ökonomische Existenz aller Länder und für die Erhaltung des europäischen Friedens, dann ist der nächste Gewinn die Einsicht, daß das Schwergewicht der militärischen Ausbildung in die Jugenderziehung zu legen ist.
Als ich nach zehnjährigem Exil wieder an den Rhein kam, war ich angenehm überrascht, auf den Höfen der Dorfschulen überall Barren und Reck aufgestellt zu sehen. Soweit sehr schön, leider ging's nicht sehr weit. Auf gut preußisch wurden die Geräte vorschriftsmäßig angeschafft, aber mit der Benutzung hat es immer gehapert. Die stand auf einem andern - oder vielmehr meist auf gar keinem Blatt. Ist es zuviel verlangt, daß damit endlich einmal Ernst gemacht werde? Daß der Schuljugend aller Klassen das Frei- und Gerüstturnen systematisch und gründlich beigebracht werde, solange die Glieder noch elastisch und gelenk sind, statt daß man, wie jetzt, die zwanzigjährigen Burschen im Schweiß ihres - und seines eignen - Angesichts vergebens abrackert, um die steifgearbeiteten Knochen, Muskeln und Bänder wieder locker und gefügig zu machen? Jeder Arzt wird euch sagen, daß die Teilung der Arbeit jeden ihr unterworfenen Menschen verkrüppelt, ganze Muskelreihen auf Kosten von andern entwickelt, und daß dies in jedem einzelnen Arbeitszweige verschieden wirkt, jede Arbeit ihre eigne Verkrüppelung erzeugt. Ist es da nicht Wahnsinn, die Leute erst verkrüppeln zu lassen und sie dann im Militär nachträglich wieder gerad' und beweglich zu machen? Gehört denn ein für den amtlichen Horizont unerreichbarer Grad von Einsicht dazu, daß man dreimal bessere Soldaten erhält, wenn man dieser Verkrüppelung in Volksschule und Fortbildungsschule rechtzeitig vorbeugt?
Das ist aber nur der Anfang. Den Jungen kann auf der Schule die Bildung und Bewegung militärisch geschlossener Trupps mit Leichtigkeit gelehrt werden. Der Schuljunge steht und geht von Natur gerade, namentlich wenn er Turnunterricht hat; wie unsere Rekruten stehn und wie schwer es ist, manchem das Geradestehn und Geradegehn beizubringen, das hat jeder von uns während seiner Dienstzeit gesehn. Die Bewegungen im Zug und in der Kompanie lassen sich in jeder Schule einüben, und mit einer in der Armee unbekannten Leichtigkeit. Was dem Rekruten eine verhaßte, oft fast unausführbare Schwierigkeit, das ist für den Schuljungen ein Spiel und eine Erheiterung. Die Fühlung und Richtung im Frontmarsch und Schwenken, die bei erwachsenen Rekruten so schwer zu erreichen sind, werden von Schuljungen spielend erlernt, sobald das Exerzieren systematisch mit ihnen betrieben wird. Wird ein guter Teil des Sommers zu |383| Märschen und Übungen im Terrain verwandt, so wird Körper und Geist der Jungen nicht weniger dabei gewinnen als der Militärfiskus, der ganze Monate Dienstzeit damit erspart. Daß solche militärische Spaziergänge sich ganz besonders dazu eignen, Aufgaben des Felddienstes von den Schülern lösen zu lassen, und daß dies in hohem Grade geeignet ist, die Intelligenz der Schüler zu entwickeln und sie zu befähigen, eine speziell militärische Ausbildung in relativ kurzer Zeit sich anzueignen, dafür hat mein alter Freund Beust, selbst ehemaliger preußischer Offizier, in seiner Schule in Zürich den praktischen Beweis geliefert. Bei dem heutigen komplizierten Stand des Kriegswesens ist ohne militärische Vorbildung der Jugend an einen Übergang zum Milizsystem gar nicht zu denken, und gerade auf diesem Gebiete sind die erfolgreichen Versuche von Beust von der höchsten Bedeutung.
Und nun erlaube man mir, eine ganz spezifisch preußische Saite anzuschlagen. Die Lebensfrage des preußischen Staates ist: Was soll aus dem ausgedienten Unteroffizier werden? Bisher hat man ihn verwandt zum Gendarmen, zum Grenzwächter, zum Portier, zum Schreiber, zum Zivilbeamten jeder nur möglichen Art; es gibt kein noch so armseliges Loch in der preußischen Bürokratie, wohinein man nicht zivilversorgungsberechtigte Unteroffiziere gesteckt. Nun gut: Ihr habt euch abgearbeitet bis aufs Blut, Unterkommen zu finden für die Unteroffiziere; ihr habt darauf bestanden, sie dahin zu stecken, wohin sie nicht taugten, sie zu Dingen zu verwenden, wovon sie nichts verstanden; sollte es nicht an der Zeit sein, sie endlich einmal in dem Fach unterzubringen, wovon sie etwas verstehn und wo sie etwas leisten können? Schulmeister sollen sie werden, aber nicht Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern Turnen und Exerzieren sollen sie lehren, das wird ihnen und den Jungen guttun. Und wenn die Unteroffiziere erst aus der Heimlichkeit der Kaserne und Militärgerichtsbarkeit ans Tageslicht des Schulhofes und des bürgerlichen Strafprozesses versetzt sind, dann, wette ich, bringt unsere rebellische Schuljugend auch dem ärgsten ehemaligen Soldatenschinder Mores bei.
|384| Wir behalten uns vor, weiterhin die Frage zu untersuchen, ob ein solcher Vorschlag auf allgemeine, gleichmäßige und stufenweise Herabsetzung der Dienstzeit durch internationalen Vertrag Aussicht auf Annahme hat. Wir wollen einstweilen von der Voraussetzung ausgehn, er sei angenommen worden. Wird er dann vom Papier in die Wirklichkeit übersetzt, wird er von allen Seiten ehrlich durchgeführt werden?
Im ganzen und großen sicher. Erstens wird sich eine irgendwie der Mühe werte Umgehung nicht verheimlichen lassen. Zweitens aber werden schon die Bevölkerungen selbst für die Ausführung sorgen. Kein Mensch bleibt freiwillig in der Kaserne, wenn er über die gesetzliche Zeit dort behalten wird.
Was die einzelnen Länder angeht, so werden Österreich und Italien sowie die Staaten zweiten und dritten Ranges, die die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, einen solchen Vertrag als eine befreiende Tat begrüßen und mit Vergnügen buchstäblich einhalten. Über Rußland werden wir im nächsten Abschnitt sprechen. Wie aber steht es mit Frankreich? Und Frankreich ist hier unbedingt das entscheidende Land.
Hat Frankreich den Vertrag einmal unterzeichnet und ratifiziert, dann ist kein Zweifel, daß es ihn im ganzen und großen wird halten müssen. Wir wollen aber zugeben, daß die in den besitzenden Klassen und in dem noch nicht sozialistischen Teil der Arbeiterklasse bestehende Revancheströmung momentan die Oberhand bekommen und direkte oder auf Wortklauberei begründete Überschreitungen der Vertragsgrenzen herbeiführen kann. Solche Überschreitungen können aber nie von Bedeutung sein, denn sonst würde man in Paris vorziehn, den Vertrag zu kündigen. Bei solchen kleinen Übervorteilungen aber ist Deutschland in der glücklichen Lage, großmütig ein Auge zudrücken zu können. Trotz aller sehr anerkennenswerten Anstrengungen Frankreichs, eine Wiederholung der Niederlagen |385| von 1870 unmöglich zu machen, ist ihm Deutschland noch um weit mehr voraus, als sich auf den ersten Blick zeigt. Erstens ist da der mit jedem Jahr wachsende Überschuß der Bevölkerung Deutschlands, der jetzt schon über zwölf Millionen beträgt. Zweitens der Umstand, daß in Preußen das gegenwärtige Militärsystem schon seit über siebzig Jahren besteht, daß es bei der Bevölkerung sich eingelebt hat, daß es bei einer langen Reihe von Mobilmachungen in allen Details erprobt worden, daß alle dabei vorkommenden Schwierigkeiten und die Art ihrer Überwindung praktisch durchgemacht und bekannt sind - Vorteile, die auch den übrigen deutschen Heereskörpem zugute kommen. In Frankreich dagegen muß die erste allgemeine Mobilmachung noch probiert werden, und das bei einer für diesen Zweck viel verwickelteren Organisation. Drittens aber ist in Frankreich die undemokratische Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen auf unüberwindliche Hindernisse gestoßen; die dreijährigen Soldaten haben die einjährigen Privilegierten einfach aus der Armee herausschikaniert. Dies beweist, wie tief das öffentliche politische Bewußtsein und die von ihm geduldeten politischen Institutionen Deutschlands unter denen Frankreichs stehn. Was aber politisch ein Mangel, ist in diesem Fall militärisch ein Vorteil. Es ist außer allem Zweifel, daß kein Land, im Verhältnis zur Bevölkerung, eine solche Menge junger Leute durch seine Mittel- und Hochschulen schickt, wie gerade Deutschland, und da bietet das Institut der Einjährig-Freiwilligen, undemokratisch und politisch verwerflich wie es ist, der Heeresleitung ein vortreffliches Mittel, die Mehrzahl dieser in allgemeiner Hinsicht schon genügend vorgebildeten jungen Leute auch militärisch zum Offiziersdienst auszubilden. Der Feldzug von 1866 brachte dies zuerst zur Anschauung, seitdem aber und besonders seit 1871 ist diese Seite der kriegerischen Stärke Deutschlands ganz besonders, fast bis zum Exzeß gepflegt worden. Und wenn auch unter den deutschen Reserveoffizieren so viele neuerdings ihr möglichstes getan haben, ihren Stand lächerlich zu machen, so ist doch kein Zweifel, daß sie, in der Masse genommen, ihren französischen Berufsgenossen, Mann gegen Mann, in militärischer Beziehung überlegen sind und, was die Hauptsache, daß Deutschland unter seinen Reservisten und Landwehrmännern einen weit höheren Prozentsatz von zum Offiziersdienst qualifizierten Leuten besitzt als irgendein andres Land.
Dieser eigentümliche Reichtum an Offizieren befähigt Deutschland, im Augenblick der Mobilmachung eine unverhältnismäßig größere Zahl von bereits im Frieden vorbereiteten Neuformationen aufzustellen als irgendein andres Land. Nach der - soviel ich weiß - sowohl im Reichstag wie in der |386| Militärkommission unwidersprochen gebliebenen Behauptung Richters ("Freisinnige Zeitung", 26. November 1892), wird jedes deutsche Infanterieregiment ein moblies Reserveregiment, zwei Landwehrbataillone und zwei Ersatzbataillone für den Krieg zu stellen imstande sein. Also je drei Bataillone liefern zehn, oder die 519 Bataillone der 173 Friedensregimenter verwandeln sich im Krieg in 1.730 Bataillone, wobei noch Jäger und Schützen ungerechnet sind. Und das in einer so kurzen Zeit, wie kein andres Land dies nur annähernd erreichen kann.
Die französischen Reserveoffiziere, wie mir einer von ihnen zugab, sind weit weniger zahlreich; sie sollen aber ausreichen, um die Cadres der nach amtlichen Veröffentlichungen vorgesehenen Neuformationen zu füllen. Dazu gestand der Mann, daß die Hälfte dieser Offiziere nicht viel tauge. Die fraglichen Neuformationen reichen aber nicht entfernt an das, was nach dem Gesagten Deutschland zu leisten imstande ist. Und dann sind die Offiziere, die Frankreich stellen kann, sämtlich verwendet, während Deutschland deren noch immer übrig behält.
In allen früheren Kriegen fehlten nach ein paar Monaten Feldzug die Offiziere. Bei allen andern Ländern wird das auch jetzt noch der Fall sein. Deutschland allein ist an Offizieren unerschöpflich. Und da sollte man es den Franzosen nicht durch die Finger sehn können, wenn sie ihre Leute hier und da zwei bis drei Wochen über die Vertragszeit exerzieren lassen?
|387| Wir kommen jetzt auf Rußland. Und da ist es, grade herausgesagt, ziemlich gleichgültig, nicht nur, ob Rußland einen Vertrag zur allmählichen gleichmäßigen Herabsetzung der Dienstzeit einhält, sondern selbst, ob es ihn überhaupt eingeht. Wir können Rußland in Beziehung auf unseren Fragepunkt in der Tat fast ganz außer acht lassen, und zwar aus folgenden Gründen.
Das russische Reich enthält zwar über hundert Millionen Menschen, also reichlich doppelt soviel wie das Deutsche Reich, ist aber weit entfernt davon, eine annähernd der deutschen gleichkommende militärische Angriffskraft zu besitzen. Die fünfzig Millionen in Deutschland sind zusammengedrängt auf 540.000 Quadratkilometer; die höchstens 90 bis 100 Millionen in Rußland, die militärisch für uns in Betracht kommen, sind zerstreut über, mäßig berechnet, 31/2 Millionen Quadratkilometer; der Vorteil, der den Deutschen aus dieser weit großem Bevölkerungsdichtigkeit erwächst, wird noch bedeutend gesteigert durch das unvergleichlich bessere Eisenbahnnetz. Trotzdem bleibt die Tatsache, daß hundert Millionen auf die Dauer mehr Soldaten stellen können als fünfzig. Es wird, wie die Dinge liegen, längere Zeit kosten, bis sie kommen; aber kommen müssen sie schließlich doch. Was dann?
Zu einer Armee gehören nicht nur Rekruten, sondern auch Offiziere. Und damit sieht es in Rußland schofel aus. In Rußland kommen für den Offiziersrang nur der Adel und die Bürgerschaft der Städte in Betracht; der Adel ist verhältnismäßig sehr wenig zahlreich, der Städte sind wenige, höchstens der zehnte Mann wohnt in einer Stadt, und von diesen Städten verdienen die wenigsten den Namen; die Zahl der Mittelschulen und der sie besuchenden Schüler ist äußerst gering; wo sollen da die Offiziere herkommen für alle die Mannschaften?
|388| Eines schickt sich nicht für alle. Das System der allgemeinen Wehrpflicht setzt einen gewissen Grad ökonomischer und intellektueller Entwickelung voraus; wo diese fehlt, richtet das System mehr Schaden als Nutzen an. Und dies ist offenbar der Fall in Rußland.
Erstens braucht es überhaupt eine verhältnismäßig lange Zeit, um aus dem russischen Durchschnittsrekruten einen ausgebildeten Soldaten zu machen. Der russische Soldat ist von unbezweifelter großer Tapferkeit. Solange die taktische Entscheidung in dem Angriff geschlossener Infanteriemassen lag, war er in seinem Element. Seine ganze Lebenserfahrung hatte ihn angewiesen auf den Anschluß an seine Kameraden. Auf dem Dorf die noch halbkommunistische Gemeinde, in der Stadt die genossenschaftliche Arbeit des Artels; überall die krugovaja poruka, die gegenseitige Haftbarkeit der Genossen; kurz ein Gesellschaftszustand, der handgreiflich hinweist einerseits auf den Zusammenhalt, in dem alles Heil liegt, andrerseits auf die hilflose Verlassenheit des vereinzelten, auf die eigene Initiative angewiesenen Individuums. Dieser Charakter bleibt dem Russen auch im Militär; die Bataillonsmassen sind fast nicht zu sprengen, je größer die Gefahr, desto fester ballen sich die Klumpen zusammen. Aber dieser Instinkt des Zusammenschließens, der noch zur Zeit der napoleonischen Feldzüge von unschätzbarem Werte war und manche weniger brauchbare Seite des russischen Soldaten aufwog - er ist heute eine entschiedne Gefahr. Heute sind die geschlossenen Massen aus der Gefechtslinie verschwunden, heute handelt es sich um den Zusammenhalt aufgelöster Schützenschwärme, wo Truppen der verschiedensten Verbände durcheinander geworfen werden und das Kommando oft und rasch genug an Offiziere übergeht, die den meisten Mannschaften total fremd sind; heute soll jeder Soldat imstande sein, selbständig das zu tun, was im Moment getan werden muß, und doch den Zusammenhalt mit dem Ganzen nicht verlieren. Das ist ein Zusammenhalt, der nicht durch den primitiven Herdeninstinkt des Russen, sondern nur durch Ausbildung des Verstandes bei jedem einzelnen ermöglicht werden kann, und dazu finden wir die Vorbedingungen nur auf einer Kulturstufe von höherer "individualistischer" Entwicklung, wie sie bei den kapitalistischen Nationen des Westens besteht. Der kleinkalibrige Magazinhinterlader und das rauchschwache Pulver haben die Eigenschaft, die bisher die größte Stärke der russischen Armee war, in eine ihrer größten Schwächen verwandelt. Es wird also heutzutage noch längere Zeit erfordern als früher, bis der russische Rekrut ein gefechtsbrauchbarer Soldat wird, und den Soldaten des Westens tut er's überhaupt nicht mehr gleich.
Zweitens aber: Woher sollen die Offiziere kommen, um alle diese |389| Massen im Krieg in Neuformationen einzurahmen? Wenn Frankreich schon Schwierigkeit hat, die hinreichende Zahl von Offizieren zu finden, wie wird es erst Rußland gehn? Rußland, wo die gebildete Bevölkerung, aus der allein tüchtige Offiziere genommen werden können, einen so unverhältnismäßig geringen Prozentsatz der Gesamtzahl ausmacht, und wo dennoch der Soldat, selbst der ausgebildete, einen großem Prozentsatz von Offizieren braucht als in andern Armeen?
Und drittens: Bei dem in Rußland notorischen allgemeinen System des Unterschleifs und Diebstahls von selten der Beamten und oft genug auch der Offiziere, wie soll da eine Mobilmachung verlaufen? Bei allen bisherigen Kriegen Rußlands stellte sich sofort heraus, daß selbst ein Teil der Friedensarmee und ihrer Ausrüstungsbestände nur auf dem Papier existierte. Wie soll es erst gehn, wenn die beurlaubten Reserveleute und die Opoltschenie (Landwehr) unters Gewehr treten und mit Uniform, Bewaffnung, Munition versehn werden sollen? Wenn bei einer Mobilmachung nicht alles klappt, nicht alles zur rechten Zeit und am rechten Ort vorhanden ist, dann ist die Konfusion vollständig. Wie soll aber alles klappen, wenn alles durch die Hände diebischer und bestechlicher russischer Tschinowniks geht? Die russische Mobilmachung - das wird ein Schauspiel für Götter.
Eins mit dem andern: Wir können den Russen schon aus rein militärischen Gründen erlauben, soviel Soldaten einzustellen und sie solange bei der Fahne zu behalten, wie es dem Zaren beliebt. Außer den Truppen, die jetzt schon unterm Gewehr stehn, wird er schwerlich viel mehr auf die Beine bringen, und auch dies schwerlich zur rechten Zeit. Das Experiment mit der allgemeinen Wehrpflicht kann Rußland teuer zu stehn kommen.
Und dann, wenn's zum Krieg kommt, dann steht die russische Armee an der ganzen Grenze von Kowno bis Kaminiec auf ihrem eigenen Gebiet in Feindesland, mitten unter Polen und Juden, denn auch die Juden hat die zarische Regierung sich zu Todfeinden gemacht. Ein paar für Rußland verlorne Schlachten, und das Kampfesfeld wird von der Weichsel an die Düna und den Dnepr verlegt; im Rücken der deutschen Armee, unter ihrem Schütze, bildet sich ein Heer polnischer Bundesgenossen; und es wird eine gerechte Strafe für Preußen sein, wenn es dann zu seiner eignen Sicherheit ein starkes Polen wiederherstellen muß.
Soweit haben wir nur die direkt militärischen Verhältnisse betrachtet und gefunden, daß für den vorliegenden Fragepunkt Rußland außer acht gelassen werden kann. Noch mehr aber wird sich dies zeigen, sobald wir einen Blick werfen auf die allgemeine ökonomische und speziell die finanzielle Lage Rußlands.
|390| Die innere Lage Rußlands ist augenblicklich eine fast verzweifelte. Die Bauernemanzipation von 1861 und die mit ihr teils als Ursache, teils als Wirkung zusammenhängende Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie haben dies stabilste aller Länder, dies europäische China, in eine ökonomische und soziale Revolution geworfen, die nun unaufhaltsam ihren Gang geht; und dieser Gang ist einstweilen ein vorwiegend verwüstender.
Der Adel erhielt bei der Emanzipation Entschädigung in Staatsschuldscheinen, die er möglichst rasch verjubelte. Als dies vollbracht, eröffneten ihm die neuen Eisenbahnen einen Markt für das Holz seiner Wälder; er ließ das Holz schlagen und verkaufen und lebte abermals herrlich und in Freuden, solange der Erlös reichte. Die Bewirtschaftung der Güter, unter den neugeschaffenen Bedingungen und mit freien Arbeitern, blieb meist sehr unbefriedigend; was Wunder, daß der russische grundbesitzende Adel über und über verschuldet, wo nicht geradezu bankrott ist und daß der Ertrag seiner Güter an Produkten eher ab- als zunimmt.
Der Bauer erhielt weniger und meist schlechteres Land, als er bisher besessen; die Gemeindeweide- und Waldnutzung wurde ihm entzogen und damit die Grundlage der Viehhaltung; die Steuern wurden bedeutend erhöht und sollten nun von ihm selbst überall in Geld gezahlt werden; dazu kamen die Ratenzahlungen - ebenfalls in Geld - für Verzinsung und Amortisation des vom Staat vorgeschossenen Loskaufsgeldes (wykup); kurz, zu aller Verschlechterung seiner allgemeinen ökonomischen Lage kam die plötzliche Zwangsversetzung aus der Naturalwirtschaft in die Geldwirtschaft, die allein hinreicht, die Bauerschaft eines Landes zu ruinieren. Die Folge davon war die üppige Entwicklung der Ausbeutung des Bauern durch die ländlichen Geldbesitzer, reichere Bauern und Schnapskneipenwirte, mirojedy (wörtlich Gemeindefresser) und kulaki (Zinswucherer), Und als ob alles das nicht genüge, kam dazu die neue große Industrie und ruinierte die Natural- |391| wirtschaft der Bauern bis auf den letzten Rest. Nicht nur untergrub ihre Konkurrenz die häusliche industrielle Produktion des Bauern für den eignen Bedarf, sie nahm auch seiner für den Verkauf bestimmten Handarbeit den Markt weg oder stellte sie, im günstigsten Fall, unter die Botmäßigkeit des kapitalistischen "Verlegers" oder, was noch schlimmer, seines Mittelsmanns. Der russische Bauer mit seinem waldursprünglichen Ackerbau und "einer altkommunistischen Gemeindeverfassung wurde so plötzlich in Kollision gebracht mit der entwickeltsten Form der modernen großen Industrie, die sich einen inländischen Markt gewaltsam schaffen mußte; eine Lage, worin er rettungslos zugrunde gehn mußte. Aber der Bauer - das war beinahe neun Zehntel der Bevölkerung Rußlands, und der Ruin des Bauern war gleichbedeutend mit dem - wenigstens zeitweiligen - Ruin Rußlands.(1)
Nachdem dieser Prozeß der gesellschaftlichen Umwälzung an die zwanzig Jahre gedauert, stellten sich noch andre Resultate heraus. Die rücksichtslose Entwaldung vernichtete die Vorratskammern der Bodenfeuchtigkeit, das Regen- und Schneewasser floß, ohne aufgesogen zu werden, rasch durch die Bäche und Ströme ab, starke Überschwemmungen erzeugend;
aber im Sommer wurden die Flüsse seicht, und der Boden vertrocknete. In vielen der fruchtbarsten Gegenden Rußlands soll das Niveau der Bodenfeuchtigkeit um einen vollen Meter gefallen sein, so daß die Wurzeln der Getreidehalme es nicht mehr erreichen und verdorren. So daß nicht nur die Menschen ruiniert sind, sondern in vielen Gegenden auch der Boden selbst auf wenigstens ein Menschenalter hinaus.
Diesen bisher chronisch verlaufenden Prozeß des Ruins hat die Hungersnot von 1891 akut und damit vor aller Welt sichtbar gemacht. Und deshalb kommt Rußland seit 1891 nicht aus der Hungersnot heraus. Das böse Jahr hat das letzte und wichtigste Produktionsmittel der Bauern - das Vieh - großenteils ruiniert und ihre Verschuldung auf einen Höhepunkt getrieben, der ihre letzte Widerstandskraft brechen muß.
In einer solchen Lage könnte ein Land höchstens einen Verzweiflungskrieg unternehmen. Aber auch dazu fehlen die Mittel. In Rußland lebt der Adel von Schulden, lebt jetzt auch der Bauer von Schulden, und von Schulden lebt vor allen der Staat. Wieviel Geld der russische Staat nach |392| außen schuldig ist, weiß man: über vier Milliarden Mark. Wieviel er im Innern schuldig ist, weiß kein Mensch; erstens, weil man weder die Summe der aufgenommenen Anleihen noch die des in Zirkulation befindlichen Papiergeldes kennt, und zweitens, weil dies Papiergeld jeden Tag seinen Wert wechselt. Soviel aber ist sicher: Der Kredit Rußlands im Ausland ist erschöpft. Die vier Milliarden Mark russischer Staatsschuldscheine haben den westeuropäischen Geldmarkt über und über gesättigt. England hat sich längst, Deutschland hat sich neuerdings des größten Teils seiner "Russen" entledigt. Holland und Frankreich haben sich durch den Ankauf derselben ebenfalls den Magen verdorben, wie sich bei der letzten russischen Anleihe in Paris zeigte; von den 500 Millionen Franken konnten nur 300 untergebracht werden, 200 Millionen mußte der russische Finanzminister den zeichnenden und überzeichnenden Bankiers wieder abnehmen. Der Beweis ist damit geliefert, daß eine neue russische Anleihe selbst in Frankreich für die nächste Zeit absolut keine Aussichten hat.
Das ist die Lage des Landes, das uns angeblich mit unmittelbarer Kriegsgefahr bedroht und das doch sogar außerstande ist, einen Verzweiflungskrieg vom Zaun zu brechen, falls wir nicht selbst dumm genug sind, das Geld dazu ihm in den Rachen zu werfen.
Man begreift nicht die Unwissenheit der französischen Regierung und der sie beherrschenden französischen bürgerlichen öffentlichen Meinung. Nicht Frankreich bedarf Rußlands - Rußland bedarf vielmehr Frankreichs. Ohne Frankreich wäre der Zar mit seiner Politik isoliert in Europa, machtlos müßte er im Westen und im Balkan alles gehn lassen, wie es geht. Mit etwas Verstand könnte Frankreich aus Rußland alles herausschlagen, was es wollte. Aber statt dessen kriecht das offizielle Frankreich auf dem Bauch vor dem Zaren.
Der Weizenexport Rußlands ist bereits ruiniert durch die wohlfeilere amerikanische Konkurrenz. Bleibt als Hauptausfuhrartikel nur der Roggen, und der geht fast ausnahmslos nach Deutschland. Sobald Deutschland Weißbrot ißt statt Schwarzbrot, ist das jetzige offizielle zarisch-großbürgerliche Rußland bankrott.
|393| Wir haben nun unsre benachbarten friedlichen Feinde hinreichend kritisiert. Wie sieht es aber bei uns zu Hause aus?
Und da müssen wir geradezu sagen: Eine stufenweise Herabsetzung der Dienstzeit kann für die Armee nur dann von Vorteil sein, wenn ein für allemal total unmöglich gemacht wird die Soldatenschinderei, die in den letzten Jahren eingerissen und in der Armee viel mehr zur Regel geworden ist, als man zugeben will.
Diese Soldatenschinderei ist das Gegenstück des Kamaschendienstes und Paradedrills; beide breiten sich von jeher in der preußischen Armee aus, sobald diese eine Zeitlang Friedensarmee wird, und von den Preußen geht sie über auch zu den Sachsen, Bayern, etc. Sie ist ein Erbstück aus der echten "altpreußischen" Zeit, wo der Soldat entweder angeworbner Lumpazius oder leibeigner Bauernsohn war und daher jede Mißhandlung und Entehrung von seinem junkerlichen Offizier ohne Murren hinnehmen mußte. Und namentlich der heruntergekommene Hungerleider- und Schmarotzeradel, der östlich der Elbe gar nicht schwach vertreten, stellt noch heute sein Kontingent der schlimmsten Soldatenschinder und wird in dieser Beziehung nur erreicht von den protzigen Bourgeoissöhnchen, die den Junker spielen möchten.
Ganz ausgestorben ist die Schurigelei des Soldaten nie in der preußischen Armee. Aber sie war früher seltner, gelinder und stellenweis humoristischer. Seitdem aber einerseits dem Soldaten immer mehr und mehr Dinge beigebracht werden mußten, während man andrerseits nicht daran dachte, den unnützen Plunder überlebter und sinnlos gewordener taktischer Übungen abzuschaffen, seitdem erhielt der Unteroffizier mehr und mehr stillschweigende Vollmacht zu jeder ihm passend erscheinenden Ausbildungsmethode und wurde andrerseits zur Anwendung gewaltsamer Mittel indirekt gezwungen durch das Gebot, in beschränkter Zeit seiner Korporalschaft dies |394| oder jenes genügend einzupauken. Dazu dann das Beschwerderecht des Soldaten, das der reine Hohn ist - kein Wunder, daß die beliebte altpreußische Methode wieder in lustigen Schwang kam, da wo die Soldaten es sich gefallen ließen. Denn ich bin sicher, daß Regimenter des Westens oder mit starkem Beisatz großstädtischer Leute weit weniger Soldatenschinderei aufweisen, als die, [die] vorzugsweise aus ostelbischen Landleuten zusammengesetzt sind.
Dazu gab es früher ein - wenigstens tatsächliches - Gegengewicht. Mit dem glattläufigen Vorderlader war es ein leichtes, beim Manöver einen Kiesel auf die Platzpatrone in den Lauf rollen zu lassen, und da kam es oft genug vor, daß verhaßte Vorgesetzte beim Manöver aus Versehen erschossen wurden. Manchmal ging's auch fehl: ich kannte einen jungen Kölner, der 1849 auf diese Weise durch ein Geschoß seinen Tod fand, das seinem Hauptmann zugedacht war. Jetzt, mit dem kleinkalibrigen Hinterlader, geht das nicht mehr so leicht und so unbemerkt; dafür gibt uns die Statistik der Selbstmorde in der Armee den Barometerstand der Soldatenschinderei ziemlich genau an. Kommt aber im "Ernstfall" die scharfe Patrone in Verwendung, dann fragt es sich allerdings, ob da die alte Praxis nicht wieder Anhänger findet, wie das in den letzten Kriegen hie und da der Fall gewesen sein soll; zum Sieg würde das allerdings nicht |In der Broschüre: recht| sehr beitragen.
Die Berichte englischer Offiziere stimmen ein im Lob des ausnehmend guten Verhältnisses zwischen Vorgesetzten und Soldaten der 1891 in der Champagne manövrierenden französischen Armee. In dieser Armee wären Dinge, wie sie bei uns so oft aus den Kasernen in die Presse dringen, geradezu unmöglich. Schon vor der grollen Revolution scheiterte der Versuch, die preußischen Stockprügel einzuführen. Zur schlimmsten Zeit der algierischen Feldzüge und des zweiten Kaisertums hätte kein Vorgesetzter gewagt, dem französischen Soldaten den zehnten Teil dessen zu bieten, was vor unser aller Augen dem deutschen geboten worden ist. Und heute, nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, möchte ich den französischen Unteroffizier sehn, der sich unterfinge, den Soldaten, zu befehlen, einander zu ohrfeigen oder ins Gesicht zu spucken. Welche Verachtung müssen aber nicht die französischen Soldaten für ihre künftigen Gegner empfinden, wenn sie hören und lesen, was diese sich bieten lassen, ohne zu zucken. Und daß die Leute in jeder französischen Kaserne das lesen und hören, dafür wird gesorgt.
Bei den Franzosen herrscht in der Armee der Geist und das Verhältnis zwischen Offizier, Unteroffizier und Soldat, das in Preußen 1813 bis 1815 herrschte und unsere Soldaten zweimal nach Paris führte. Bei uns dagegen nähert das alles sich mehr und mehr dem Stand von 1806, wo der Soldat auch als kaum ein Mensch angesehn, geprügelt und geschunden wurde und wo zwischem ihm und dem Offizier eine unüberschreitbare Kluft lag - und dieser Zustand führte die Armee nach Jena und in die französische Gefangenschaft.
Es wird so viel geredet vom entscheidenden Wert der moralischen Faktoren im Krieg. Und was anders tut man im Frieden, als sie fast systematisch vernichten?
|396| Bisher haben wir vorausgesetzt, der Vorschlag zur allmählichen gleichmäßigen Herabsetzung der Dienstzeit mit schließlichem Übergang zum Milizsystem sei allgemein angenommen worden. Die Frage ist aber vor allem: wird er angenommen?
Nehmen wir an, Deutschland stellt den Vorschlag zunächst an Österreich, Italien und Frankreich. Österreich wird eine Maximaldienstzeit von zwei Jahren mit Freuden annehmen und wahrscheinlich in seiner eignen Praxis noch weiter herabgehn. In der österreichischen Armee spricht man sich, scheint es, weit offener aus als in der deutschen über die günstigen Erfolge mit der kurzen Dienstzeit eines Teils der Truppen. Viele Offiziere dort erklären geradezu die Landwehr, die nur ein paar Monate dient, für eine bessere Truppe als die Linie; sie haben jedenfalls das für sich, daß ein Landwehrbataillon, wie mir versichert wird, in 24 Stunden mobil macht, während ein Linienbataillon mehrere Tage dazu braucht. Natürlich: bei der Linie fürchtet man sich, den altösterreichischen breitspurigen Schlendrian anzutasten, bei der Landwehr, wo alle Einrichtungen neu geschaffen, hat man dagegen den Mut gehabt, ihn nicht einzuführen. Jedenfalls seufzt in Osterreich Volk wie Regierung nach Erleichterung der Militärlast, und die ist hier, gerade auf Grund der gemachten eignen Erfahrungen, am ehesten zu haben durch Herabsetzung der Dienstzeit.
Italien wird ebenfalls mit beiden Händen zugreifen. Es erliegt unter dem Druck des Kriegsbudgets, und zwar in solchem Grad, daß hier Abhilfe geschafft werden muß, und das bald. Auch hier ist Verkürzung der Maximaldienstzeit der nächste und einfachste Weg. Man kann also sagen: Entweder geht der Dreibund in die Brüche, oder er muß zu einem Mittel greifen, das mehr oder weniger auf unsern Vorschlag hinausläuft.
Wenn aber Deutschland, gestützt auf die Annahme durch Österreich und Italien, diesen Vorschlag der französischen Regierung unterbreitet, so |397| kommt diese in eine sehr fatale Stellung. Nimmt sie ihn an, so verschlechtert sie ihre relative militärische Lage absolut nicht. Im Gegenteil, sie erhielte Gelegenheit, diese relative Lage zu verbessern. Es ist in mancher Beziehung ein Nachteil für Frankreich, daß die allgemeine Wehrpflicht dort erst seit 20 Jahren eingeführt ist. Aber dieser Nachteil schließt den Vorteil ein, daß alles noch neu ist, daß der alte Zopf von Anno Tobak erst neuerdings abgeschnitten worden, daß weitere Verbesserungen leicht einzuführen sind, ohne auf den zähen Widerstand eingerosteter Vorurteile zu stoßen. Alle Armeen sind ungemein bildungsfähig nach großen Niederlagen. Eine bessere Ausnutzung der vertragsmäßigen Dienstzeit wäre daher in Frankreich weit leichter durchzuführen als anderswo, und da auch das Schulwesen, ganz wie die Armee, sich im Zustand der Revolutionierung befindet, so wird auch die allgemein körperliche und speziell militärische Vorbildung der Jugend sich dort weit rascher und leichter ins Werk setzen lassen als anderswo. Das würde aber bedeuten, daß die militärische Machtstellung Frankreichs gegenüber Deutschland sich verstärkt. Trotz alledem ist es möglich und selbst wahrscheinlich genug, daß die chauvinistische Strömung - der französische Chauvinismus ist genau so dumm wie der deutsche - stark genug wird, jede Regierung zu stürzen, die so etwas annimmt, namentlich wenn es von Deutschland kommt. Nehmen wir also an: Frankreich lehnt ab. Was dann?
Dann ist Deutschland durch die bloße Tatsache, daß es diesen Vorschlag gemacht, in enormen Vorteil gesetzt. Wir dürfen nicht vergessen: Die siebenundzwanzig Jahre Bismarckwirtschaft haben Deutschland - nicht mit Unrecht - im ganzen Ausland verhaßt gemacht. Weder die Annexion der nordschleswigschen Dänen noch die Nichteinhaltung und schließliche Eskamotage des auf sie bezüglichen Prager Friedensartikels, noch die Annexion Elsaß-Lothringens, noch die kleinlichen Maßregeln gegen die preußischen Polen hatten mit der Herstellung der "nationalen Einheit" das geringste zu tun. Bismarck hat es verstanden, Deutschland in den Ruf der Ländergier zu bringen; der deutsche chauvinistische Bürger, der die Deutschösterreicher hinauswarf und dennoch Deutschland noch immer "von der Etsch bis an die Memel" über alles brüderlich zusammenhalten will, der dagegen Holland, Flandern, die Schweiz und die angeblich "deutschen" Ostseeprovinzen Rußlands mit dem Deutschen Reich vereinigen möchte - dieser deutsche Chauvin hat Bismarck redlich geholfen, und mit so herrlichem Erfolg, daß heute den "biedern Deutschen" kein Mensch in Europa mehr traut. Geht, wohin ihr wollt, ihr werdet überall Sympathien mit Frankreich finden, aber Mißtrauen gegen Deutschland, das man für die Ursache der gegenwärtigen Kriegsgefahr hält. Dem allem würde ein Ende |398| gemacht, entschlösse Deutschland sich zur Stellung unsres Antrages. Es träte als Friedensstifter auf in einer Weise, die keinen Zweifel zuläßt. Es erklärte sich bereit, voranzugehn im Werk der Abrüstung, wie dies von Rechts wegen dem Lande zukommt, das das Signal zur Rüstung gegeben hat. Das Mißtrauen müßte sich in Zutrauen, die Abneigung in Sympathie verwandeln. Nicht nur die Redensart, der Dreibund sei ein Friedensbund, würde endlich zur Wahrheit, sondern auch der Dreibund selbst, der jetzt nur ein Schein ist. Die ganze öffentliche Meinung Europas und Amerikas träte auf seiten Deutschlands. Und das wäre eine moralische Eroberung, die selbst alle möglicherweise noch herauszuspintisierenden militärischen Nachtelle unseres Vorschlags überreichlich aufwöge.
Frankreich dagegen, das den Abrüstungsvorschlag abgelehnt, käme in dieselbe ungünstige Verdachtsstellung, wie Deutschland jetzt. Nun sehn wir alle, würde der europäische Philister sagen - und der ist die größte Großmacht -, nun sehn wir alle, wer den Frieden will und wer den Krieg. Und wenn dann vielleicht einmal eine wirklich kriegslustige Regierung in Frankreich ans Ruder käme, sie stände vor einer Lage, die ihr bei einigem Verstande den Krieg absolut verböte. Wie sie sich auch anstellte, vor ganz Europa stände sie da als der Teil, der den Krieg heraufbeschworen, heraufgezwungen hat. Damit hätte sie nicht nur die Kleinen, nicht nur England gegen sich gestimmt, sie würde nicht einmal der Hülfe Rußlands sicher sein, nicht einmal jener traditionellen Hülfe Rußlands, die darin besteht, daß es seine Bundesgenossen erst hineinreitet und dann im Stiche läßt.
Vergessen wir nicht: Im nächsten Kriege entscheidet England. Der Dreibund, im Krieg gegen Rußland und Frankreich, ebensowohl wie Frankreich, von Rußland getrennt durch feindliches Gebiet, sie alle sind für die ihnen unentbehrliche starke Korneinfuhr angewiesen auf den Seeweg. Diesen beherrscht England unbedingt. Stellt es seine Flotte dem einen Teil zur Verfügung, so wird der andre einfach ausgehungert, die Kornzufuhr wird abgeschnitten; es ist die Aushungerung von Paris auf kolossal vergrößertem Maßstab, und der ausgehungerte Teil muß kapitulieren; so sicher zweimal zwei vier ist.
Nun gut: in diesem Augenblick hat die liberale Strömung in England Oberwasser, und die englischen Liberalen haben entschieden französische Sympathien. Dazu ist der alte Gladstone persönlich ein Russenfreund. Bricht ein europäischer Krieg aus, so bleibt England solange wie möglich neutral; aber selbst seine "wohlwollende" Neutralität kann unter den erwähnten Umständen einer der kriegführenden Parteien von entscheidender Hülfe sein. Macht Deutschland unsern Vorschlag und wird er von Frank- |399| reich abgelehnt, so hat Deutschland nicht nur alle entgegenstehenden englischen Sympathien überwunden und sich Englands wohlwollende Neutralität gesichert; es hat außerdem der englischen Regierung so gut wie unmöglich gemacht, im Krieg den Gegnern Deutschlands sich anzuschließen.
Also zum Schluß:
Entweder nimmt Frankreich den Vorschlag an. Dann ist die Kriegsgefahr, die aus den stets gesteigerten Rüstungen erwächst, tatsächlich beseitigt, die Völker kommen zur Ruhe, und Deutschland hat den Ruhm, dies eingeleitet zu haben.
Oder Frankreich nimmt nicht an. Dann verschlechtert es seine eigne Stellung in Europa und verbessert Deutschlands Stellung in einem solchen Grad, daß Deutschland einen Krieg absolut nicht mehr zu fürchten braucht und sogar ohne alle Gefahr im Verein mit seinen Bundesgenossen, die dann erst wahrhaft seine Bundesgenossen, auf eigne Faust zu einer allmählichen Herabsetzung der Dienstzeit und Vorbereitung zum Milizsystem schreiten kann.
Wird man den Mut haben, den rettenden Schritt zu tun? Oder will man warten, bis Frankreich, aufgeklärt über die Lage Rußlands, den ersten Schritt tut und den Ruhm für sich einerntet?
Fußnoten von Friedrich Engels
Ich habe das alles schon vor einem Jahre entwickelt in der "Neuen Zeit" 1891/92, Nr. 19, Artikel: "Der Sozialismus in Deutschland." <=
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