MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1892

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 351-354.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Ein neuentdeckter Fall von Gruppenehe

Nach: "Die Neue Zeit". Nr. 12, 11. Jahrgang, I. Band. S. 373 -375 .


|351| Gegenüber der neuerdings bei gewissen rationalistischen Ethnographen Mode gewordnen Ableugnung der Gruppenehe ist der unten folgende Bericht von Interesse, den ich aus den "Russkija Vjedomosti" (Russische Zeitung) von Moskau, 14. Oktober 1892 alten Stils, übersetze. Nicht nur wird hier die Gruppenehe, d.h. das Recht des gegenseitigen geschlechtlichen Verkehrs zwischen einer Reihe von Männern und einer Reihe von Frauen, ausdrücklich als in voller Giltigkeit stehend konstatiert, sondern auch eine Form derselben, die sich eng an die Punaluaehe der Hawaiier anschließt, also an die entwickeltste und klassischste Phase der Gruppenehe. Während der Typus der Punaluafamilie aus einer Reihe von Brüdern (leiblichen und entfernteren) besteht, die mit einer Reihe von leiblichen und entfernteren Schwestern verheiratet sind, finden wir hier auf der Insel Sachalin, daß ein Mann mit allen Frauen seiner Brüder und allen Schwestern seiner Frau verheiratet ist, was, von der weiblichen Seite angesehn, bedeutet, daß seine Frau mit den Brüdern ihres Mannes und mit den Männern ihrer Schwestern frei geschlechtlich zu verkehren berechtigt ist. Der Unterschied von der typischen Form der Punaluaehe ist also nur der, daß die Brüder des Mannes und die Männer der Schwestern nicht notwendig dieselben Leute sind.

Es ist ferner zu bemerken, daß auch hier bestätigt wird, was ich im "Ursprung der Familie", 4. Aufl., S. 28-29, sagte: Daß die Gruppenehe keineswegs so aussieht, wie die Bordellphantasie unsers Spießbürgers sie sich vorstellt; daß die Gruppeneheleute nicht etwa dasselbe lüsterne Leben öffentlich betreiben, das er im geheimen praktiziert, sondern daß diese Eheform, wenigstens in den uns heute noch vorkommenden Beispielen, sich in der Praxis von einer lockern Paarungsehe oder auch Vielweiberei nur dadurch unterscheidet, daß eine Reihe von Fällen geschlechtlichen |352| Verkehrs durch die Sitte erlaubt sind, die sonst strenger Strafe verfallen. Daß die praktische Ausübung dieser Rechte allmählich ausstirbt, beweist nur, daß diese Eheform selbst auf den Aussterbeetat gesetzt ist, was auch durch ihr seltenes Vorkommen bestätigt wird.

Im übrigen ist die ganze Schilderung interessant dadurch, daß sie wieder beweist, wie ähnlich, ja in den Grundzügen identisch, die gesellschaftlichen Einrichtungen solcher auf ziemlich gleicher Entwicklungsstufe stehenden Urvölker sind. Das meiste von diesen Mongoloiden von Sachalin Gesagte paßt auf drawidische Stämme Indiens, auf Südseeinsulaner zur Zeit ihrer Entdeckung, auf amerikanische Rothäute. Der Bericht lautet:

"In der Sitzung des 10. Oktober" (alten Stils; 22. Oktober neuen Stils) "der anthropologischen Abteilung der Gesellschaft der Freunde der Naturwissenschaft in Moskau verlas N. A. Jantschuk eine interessante Mitteilung des Herrn Sternberg über die Giljaken, einen wenig erforschten Stamm der Insel Sachalin, der auf der Kulturstufe der Wildheit steht. Die Giljaken kennen weder den Ackerbau noch die Töpferkunst, sie ernähren sich hauptsächlich durch Jagd und Fischfang, sie erwärmen Wasser in hölzernen Trögen durch Hineinwerfen glühender Steine usw. Besonders interessant sind ihre Institutionen in bezug auf Familie und Gens. Der Giljak nennt Vater nicht bloß seinen leiblichen Vater, sondern auch alle Brüder seines Vaters; die Frauen dieser Brüder ebenso wie die Schwestern seiner Mutter nennt er allesamt seine Mütter; die Kinder aller dieser 'Väter' und 'Mütter' {1} nennt er seine Brüder und Schwestern. Diese Benennungsweise besteht bekanntlich auch bei den Irokesen und andern Indianerstämmen Nordamerikas, wie auch bei einigen Stämmen in Indien. Während sie aber bei diesen schon seit langer Zeit nicht mehr den wirklichen Verhältnissen entspricht, dient sie bei den Giljaken zur Bezeichnung eines noch heute giltigen Zustandes. Noch heute hat jeder Giljake Gattenanrecht auf die Frauen seiner Brüder und auf die Schwestern seiner Frau; wenigstens wird die Ausübung solcher Rechte nicht als etwas Unerlaubtes angesehn. Diese Überbleibsel der Gruppenehe auf Grund der Gens erinnern an die bekannte Punaluaehe, die auf den Sandwichinseln noch in der ersten Hälfte unsres Jahrhunderts bestand. Diese Form der Familien- und Gentilverhältnisse bildet die Grundlage der ganzen Gentilordnung und Gesellschaftsverfassung der Giljaken.

Die Gens eines Giljaken besteht aus allen - näheren und entfernteren, wirklichen und nominellen - Brüdern seines Vaters {2}, aus deren Vätern und Müttern (?), aus den Kindern seiner Brüder und seinen eignen Kindern. Es ist begreiflich, daß eine so konstituierte Gens eine ungeheure Menge Menschen umfassen kann. Das Leben in der Gens verläuft nun nach folgenden Grundsätzen. Die Ehe innerhalb der Gens ist |353| unbedingt verboten. Die Frau eines verstorbnen Giljaken geht durch Entscheidung der Gens auf einen seiner leiblichen oder nominellen Brüder {3} über. Die Gens sorgt für den Unterhalt aller ihrer arbeitsunfähigen Genossen. 'Bei uns gibt's keine Arme', sagte dem Referenten ein Giljak, 'wer bedürftig ist, den füttert die Chal (Gens).' Die Gentilgenossen sind ferner vereinigt durch gemeinsame Opferfeiern und Feste, einen gemeinsamen Begräbnisplatz usw.

Die Gens garantiert jedem ihrer Mitglieder Leben und Sicherheit vor Angriffen von Nichtgentilgenossen; als Repressionsmittel gilt die Blutrache, deren Ausübung jedoch unter der russischen Herrschaft sehr in Abnahme gekommen ist. Die Frauen sind von der Gentilblutrache gänzlich ausgenommen. - In einzelnen, übrigens sehr seltenen Fällen adoptiert die Gens auch Angehörige andrer Gentes. Als allgemeine Regel gilt, daß das Vermögen eines Verstorbnen nicht aus der Gens herausgehn darf; in dieser Beziehung herrscht bei den Giljaken buchstäblich die bekannte Vorschrift der zwölf Tafeln: Si suos heredes non habet, gentiles familiam habento - wenn er keine eignen Erben hat, so sollen die Gentilgenossen erben. Kein wichtiges Ereignis im Leben des Giljaken vollzieht sich ohne Teilnahme der Gens. Vor noch nicht sehr langer Zeit, vor einer oder zwei Generationen, war der älteste Gentilgenosse der Vorsteher der Gemeinschaft, der 'Starost' der Gens; heutzutage beschränkt sich die Rolle des Gentilältesten fast nur noch auf die Leitung religiöser Zeremonien. Die Gentes sind oft zerstreut über weit voneinander entlegne Orte, aber auch in der Trennung fahren die Genossen fort, sich aneinander zu erinnern, beieinander zu Gast zu gehn, sich gegenseitig Hilfe und Schutz zu gewähren usw. Ohne die äußerste Not verläßt der Giljak nie seine Gentilgenossen oder die Gräber seiner Gens. Das Gentilwesen hat dem ganzen Geistesleben, dem Charakter, den Sitten, den Institutionen der Giljaken einen sehr bestimmten Stempel aufgedrückt. Die Gewohnheit, alles gemeinschaftlich zu verhandeln, die Notwendigkeit, fortwährend in die Interessen der Gentilgenossen einzugreifen, die Solidarität bei der Blutrache, der Zwang und die Gewohnheit des Zusammenwohnens mit zehn oder mehr von seinesgleichen in großen Jurtenzelten, kurz, gewissermaßen stets unterm Volk zu sein, alles das hat dem Giljaken einen geselligen, redseligen Charakter gegeben. Der Giljak ist außerordentlich gastfrei, er liebt es, Gäste zu bewirten und selbst wieder als Gast zu kommen. Die schöne Sitte der Gastfreiheit zeigt sich besonders hervorstechend bei bösen Zeiten. Im Unglücksjahr, wenn's beim Giljaken nichts zu beißen gibt, weder für ihn noch für seine Hunde, streckt er nicht die Hand aus nach Almosen, er geht unverzagt zu Gaste und wird da ernährt, oft auf ziemlich lange Zeit.

Bei den sachalinischen Giljaken kommen Verbrechen aus Eigennutz so gut wie gar nicht vor. Seine Kostbarkeiten bewahrt der Giljak in einem Vorratshaus, das nie verschlossen wird. Der Giljak ist so empfindlich gegen Schande, daß, sobald er einer schimpflichen Handlung überführt ist, er in den Wald geht und sich erhängt. Totschlag ist sehr selten und kommt fast nur im Zorn vor; in keinem Fall aber aus gewinn- |354| süchtiger Absicht. Im Verkehr mit andern zeigt der Giljak Rechtschaffenheit, Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit.

Trotz ihrer langen Unterwerfung unter die zu Chinesen gewordenen Mandschuren, trotz des verderblichen Einflusses der Besiedlung {4}des Amurgebiets haben die Giljaken in sittlicher Beziehung viele Tugenden eines primitiven Stammes sich bewahrt. Aber das Geschick ihrer gesellschaftlichen Ordnung ist unabwendbar. Noch eine oder zwei Generationen, und die Giljaken des Kontinents sind vollständig zu Russen geworden und eignen sich mit den Wohltaten der Kultur auch ihre Gebrechen an. Die sachalinischen Giljaken, mehr oder weniger entlegen von den Zentren russischer Ansiedlung, haben Aussicht, sich etwas länger unverfälscht zu erhalten. Aber auch bei ihnen fängt der Einfluß der russischen Nachbarschaft an, sich fühlbar zu machen. Sie kommen des Handels wegen in die Dörfer, sie gehen nach Nikolajewsk auf Arbeit, und jeder Giljak, der von solcher Arbeit in seinen heimischen Ort zurückkommt, bringt dieselbe Atmosphäre mit, die der Arbeiter aus der Stadt in sein russisches Dorf mit sich zurücknimmt. Und zudem vernichtet die Arbeit in der Stadt mit ihren wechselnden Glücksfällen mehr und mehr jene ursprüngliche Gleichheit, die einen vorherrschenden Zug bildet im kunstlos-einfachen Wirtschaftsleben dieser Völker.

Der Artikel des Herrn Sternberg, der auch Nachrichten über die religiösen Vorstellungen und Gebräuche und ihre Rechtsinstitutionen enthält, wird vollständig in der 'Ethnographischen Revue' ('Etnografitscheskoje obosrenie') erscheinen."


Textvarianten

{1} In "Russkije Wedomosti": aller aufgezählten Verwandten <=

{2} In "Russkije Wedomosti": allen Brüdern seines Vaters (aller Grade) (statt: allen - näheren und entfernteren, wirklichen und nominellen - Brüdern seines Vaters) <=

{3} In "Russkije Wedomosti": Brüder (beliebigen Grades) (statt: leiblichen oder nominellen Brüder) <=

{4} In "Russkije Wedomosti": der umherziehenden Bevölkerung (statt: der Besiedlung) <=


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