MLWerke | Marx/Engels - Werke | Artikel und Korrespondenzen 1892 | ||
Seitenzahlen verweisen auf: | Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 279-281. | |
Korrektur: | 1 | |
Erstellt: | 06.04.1999 |
Nach der Handschrift.
Aus dem Französischen.
|279| In einem Artikel der "Tribuna" vom 2. Februar dieses Jahres wirft der bekannte Giovanni Bovio den italienischen republikanischen Abgeordneten, die in der letzten Zeit in das monarchistische Lager übergetreten sind, vor, daß sie mit allzu großer Geringschätzung die Frage der Regierungsform behandeln. Das berührt mich nun wahrlich nicht. Was mich aber an dieser Sache selbst berührt, ist, daß er meinen Artikel über den deutschen Sozialismus ("Critica Sociale" vom 16. Januar 1892) benutzt, um denselben Vorwurf gegen die deutschen Sozialisten im allgemeinen und mich im besonderen zu richten. Er äußert sich in dieser Hinsicht wie folgt:
"Daraus ersieht man außerdem, wie und warum sich jene Sozialisten irren, die da mit Friedrich Engels von der unmittelbar bevorstehenden Ergreifung der Macht durch die Sozialisten sprechen und nicht festlegen, was für eine Macht das ist. Engels geht so weit, mit arithmetischen Beweisen (und nicht erst seit heute scheint mir die Zahl in der Geschichte ein stichhaltiger Beweis zu sein) das nicht weit entfernte Jahr festzulegen, in dem die sozialistische Partei die Mehrheit im deutschen Parlament erlangen wird. Vortrefflich; und dann?
- Sie wird die Macht ergreifen.
- Großartig; aber welche? Wird es eine königliche Macht, wird es eine republikanische sein, oder wird sich die Partei wieder der vom 'Kommunistischen Manifest' im Januar 1848 überwundenen Utopie Weitlings zuwenden?
- Die Formen sind uns gleichgültig.
- Wirklich? ... Man kann aber doch nur dann von Macht sprechen, wenn sie eine konkrete Form hat. Man kann davon reden, daß sich die neue Substanz, die neue Idee von selbst die Form schaffen und sie aus sich selbst hervorbringen wird, aber man kann und darf die Form nicht außer Betracht lassen."
Darauf erwidere ich, daß ich die Auslegung des ehrenwerten Bovio in keiner Weise akzeptiere.
|280| Vor allem habe ich nicht gesagt, daß "die sozialistische Partei die Mehrheit erlangen und dann die Macht ergreifen wird". Ich habe im Gegenteil betont, die Aussichten stünden zehn zu eins dafür, daß die Herrschenden noch lange vor diesem Zeitpunkt gegen uns Gewalt anwenden werden; das aber würde uns vom Boden der Stimmenmehrheiten auf den Boden der Revolution führen. Gehen wir aber weiter.
"Sie wird die Macht ergreifen, aber welche? Wird es eine königliche Macht, wird es eine republikanische sein, oder wird sich die Partei wieder der vom 'Kommunistischen Manifest' im Januar 1848 überwundenen Utopie Weitlings zuwenden?"
Hier erlaube ich mir, einen Ausdruck des ehrenwerten Bovio zu gebrauchen. Man muß wahrlich ein "uomo di chiostro" |"Einsiedler"| sein, um den geringsten Zweifel hinsichtlich der Natur dieser Macht zu hegen.
Das ganze regierungstreue, aristokratische und bürgerliche Deutschland wirft unseren Freunden im Reichstag |in der Handschrift deutsch: Reichstag| vor, daß sie Republikaner und Revolutionäre sind.
Seit vierzig Jahren haben wir, Marx und ich, bis zum Überdruß wiederholt, daß für uns die demokratische Republik die einzige politische Form ist, in der der Kampf zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse zunächst allgemeinen Charakter annehmen und danach durch den entscheidenden Sieg des Proletariats vollendet werden kann.
Gewiß ist der ehrenwerte Bovio nicht so naiv, anzunehmen, daß irgendein deutscher Kaiser sich seine Minister aus der sozialistischen Partei holen würde und daß er - selbst wenn er dies tun wollte - die Bedingungen, die seine Abdankung voraussetzten, annehmen würde, ohne die aber jene Minister nicht auf die Unterstützung ihrer Partei rechnen könnten. Seine Befürchtung allerdings, wir könnten uns "wieder der Utopie Weitlings zuwenden", gibt mir, offen gestanden, eine recht gute Vorstellung von der Naivität meines Gesprächspartners.
Oder will der ehrenwerte Bovio, wenn er von Weitling spricht, vielleicht zu verstehen geben, daß die deutschen Sozialisten der sozialen Form nicht mehr Bedeutung beimessen als sie dies, seiner Meinung nach, hinsichtlich der politischen Form tun? Er würde sich abermals irren. Er sollte den deutschen Sozialismus genügend kennen, um zu wissen, daß dieser die Sozialisierung aller Produktionsmittel fordert. Auf welche Weise wird sich diese ökonomische Revolution vollziehen? Das wird von den Umständen abhängen, unter denen unsere Partei die Macht ergreifen wird, vom Zeitpunkt, wann das erreicht, und von der Methode, mit der das erreicht wird. Wie |281| Bovio ja selbst erklärt, wird "sich die neue Substanz, die neue Idee von selbst die Form schaffen und sie aus sich selbst hervorbringen". Indes, wenn morgen unsere Partei durch eine unerwartete Wendung der Dinge an die Macht berufen würde, wüßte ich sehr wohl, was ich als Aktionsprogramm vorschlagen würde.
"Die Formen sind uns gleichgültig"?
Ich halte es für notwendig zu erklären, daß weder ich noch irgendein anderer deutscher Sozialist dies oder etwas Ähnliches jemals gesagt haben; dies hat allein der ehrenwerte Bovio gesagt. Ich möchte gern wissen, mit welchem Recht er uns einer solchen "sciocchezza" |Dummheit| bezichtigt.
Hätte der ehrenwerte Bovio übrigens auf die zweite Hälfte meines Artikels ("Critica Sociale" vom 1. Februar) gewartet und sie gelesen, dann hätte er sich vielleicht nicht der Mühe unterzogen, die revolutionären deutschen Sozialisten mit royalistischen italienischen Republikanern zu vermengen.
6. Februar 1892
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