MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1891

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 225-240.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891

Geschrieben zwischen dem 18. und 29. Juni 1891.
Nach der Handschrift


|227| Der jetzige Entwurf unterscheidet sich sehr vorteilhaft vom bisherigen Programm. Die starken Überreste von überlebter Tradition - spezifisch lassallischer wie vulgärsozialistischer - sind im wesentlichen beseitigt, der Entwurf steht nach seiner theoretischen Seite im ganzen auf dem Boden der heutigen Wissenschaft und läßt sich von diesem Boden aus diskutieren.

Er zerfällt in drei Abschnitte: I. Erwägungsgründe, II. politische Forderungen, III. Arbeiterschutzforderungen.

I. Erwägungsgründe in zehn Absätzen

Im allgemeinen leiden diese an dem Versuch, zwei unvereinbare Dinge zu vereinigen: sowohl Programm wie Kommentar zum Programm zu sein. Man fürchtet, nicht deutlich genug zu sein, wenn man kurz und schlagend ist, und setzt deshalb Erläuterungen hinein, die die Sache breit und schleppend machen. Nach meiner Ansicht hat das Programm so kurz und so präzis wie möglich zu sein. Selbst wenn auch einmal ein Fremdwort oder ein nicht auf den ersten Blick in seiner ganzen Tragweite zu erfassender Satz vorkommt, schadet das nichts. Der mündliche Vortrag in den Versammlungen, die schriftliche Erklärung in der Presse tut da alles Nötige, und der kurze, prägnante Satz befestigt sich dann, einmal verstanden, im Gedächtnis, wird Schlagwort, und das passiert der breiteren Auseinandersetzung nie. Man opfre der Rücksicht auf Popularität nicht zu viel, man unterschätze nicht die geistige Begabung und Bildungsstufe unsrer Arbeiter. Sie haben weit schwerere Dinge verstanden, als das kürzeste, knappste Programm ihnen bieten kann; und wenn die sozialistengesetzliche Zeit auch die volle Durchbildung der neu hinzugekommenen Massen erschwert und stellenweise verhindert hat - unter der Leitung der Alten wird das bald |228| nachgeholt, jetzt, wo unsre Propagandaschriften wieder ungestört aufbewahrt und gelesen werden können.

Ich will versuchen, diesen ganzen Passus etwas kürzer zu fassen, und, wenn es mir gelingt, ihn beilegen oder nachschicken, und gehe nun an die einzelnen von 1 bis 10 numerierten Absätze.

Absatz 1. "Die Trennung" etc. "Bergwerke, Gruben, Minen" - drei Worte für eine Sache; zwei sollten fallen. Ich würde Bergwerke stehenlassen, die ja bei uns auch in der plattsten Ebene so heißen, und alles mit dem gebräuchlichsten Ausdruck bezeichnen. Dagegen würde ich hineinsetzen: "Eisenbahnen und andre Verkehrsmittel".

Absatz 2. Hier würde ich setzen: "In den Händen ihrer Aneigner (oder ihrer Besitzer) sind die gesellschaftlichen Arbeitsmittel", und ebenso nachher "Abhängigkeit ... von den Besitzern (oder Aneignern) der Arbeitsmittel" usw.

Daß die Herren sich jene Dinge als "Alleinbesitz" angeeignet, ist schon ad 1 gesagt und kann hier nur wiederholt werden, wenn man platterdings darauf besteht, das Wort "Monopolisten" hineinzubringen. Weder das eine noch das andre Wort fügt dem Sinn das Geringste zu. Was aber in einem Programm überflüssig, das schwächt ab.

"Die für den Bestand der Gesellschaft nötigen Arbeitsmittel"

- das sind immer die grade vorhandenen. Vor der Dampfmaschine wurde man ohne sie fertig, jetzt könnten wir's nicht mehr. Da heutzutage die sämtlichen Arbeitsmittel direkt oder indirekt - entweder ihrer Konstruktion nach oder vermittelst der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit - gesellschaftliche Arbeitsmittel sind, so drücken diese beiden Worte das in jedem Moment Vorhandene hinreichend aus, richtig und ohne schiefe Nebenbedeutung.

Wenn sich der Schluß an die Erwägungsgründe der internationalen Statuten anschließt, so würde ich vorziehen, daß dies ganz geschieht: "dem gesellschaftlichen Elend" (dies ist Nr. 1), "der geistigen Verkümmerung und der politischen Abhängigkeit". Die physische Verkümmerung ist im gesellschaftlichen Elend eingeschlossen und die politische Abhängigkeit eine Tatsache, während die politische Rechtlosigkeit eine deklamatorische Phrase von nur relativer Gültigkeit ist, dergleichen nicht in ein Programm gehört.

Absatz 3. Der erste Satz muß nach meiner Ansicht geändert werden.

"Unter der Herrschaft der Alleinbesitzer"

|231| Erstens ist das, was folgt, eine ökonomische Tatsache, die ökonomisch zu erklären ist. Der Ausdruck "Herrschaft der Alleinbesitzer" bringt aber den falschen Schein hinein, als habe die politische Herrschaft jener Räuberbande das verursacht. Zweitens gehören zu diesen Alleinbesitzern nicht nur "Kapitalisten und Großgrundbesitzer" (was sollen die "Bourgeois" dahinter? sind sie eine dritte Klasse von Alleinbesitzern? sind die Großgrundbesitzer auch "Bourgeois"? sollen, wenn von Großgrundbesitzern einmal die Rede ist, denn die kolossalen Reste von Feudalismus ignoriert werden, die unsrer ganzen politischen Sauerei in Deutschland ihr spezifisch reaktionäres Gepräge geben?). Auch Bauern und Kleinbürger sind "Alleinbesitzer", wenigstens noch heute; sie figurieren aber im ganzen Programm nicht, und deshalb muß sich so ausgedrückt werden, daß sie überhaupt nicht eingeschlossen sind in die Sorte von Alleinbesitzern, von denen man spricht.

"Die Anhäufung der Arbeitsmittel und des durch die Ausgebeuteten erzeugten Reichtums"

Der "Reichtum" besteht aus 1. Arbeitsmitteln, 2. Lebensmitteln. Es ist also ungrammatisch und unlogisch, erst von einem Teil des Reichtums zu sprechen und dann nicht vom andern Teil, sondern vom Gesamtreichtum, und beide zu verbinden durch und.

"nimmt ... in den Händen der Kapitalisten mit wachsender Geschwindigkeit zu"

Wo bleiben da die "Großgrundbesitzer" und die "Bourgeois" von oben? Genügen die Kapitalisten hier, so sollten sie auch oben genügt haben. Geht man aber ins einzelne, so genügen sie überhaupt nicht.

"immer größer wird die Zahl und das Elend der Proletarier"

Dies ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation der Arbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird dem Wachstum des Elends möglicherweise einen gewissen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst, ist die Unsicherheit der Existenz. Das würde ich hineinsetzen.

Absatz 4.

"Die im Wesen der kapitalistischen Privatproduktion begründete Planlosigkeit"

verdient starke Verbesserung. Ich kenne eine kapitalistische Produktion als Gesellschaftsform, als ökonomische Phase; eine kapitalistische Privatproduktion als eine innerhalb dieser Phase so oder so vorkommende Erscheinung. Was heißt denn kapitalistische Privatproduktion? Produktion durch den einzelnen Unternehmer, und die wird ja schon mehr und mehr Ausnahme. Kapitalistische Produktion durch Aktiengesellschaften ist schon |232| keine Privatproduktion mehr, sondern Produktion für assoziierte Rechnung von vielen. Und wenn wir von den Aktiengesellschaften übergehn zu den Trusts, die ganze Industriezweige beherrschen und monopolisieren, so hört da nicht nur die Privatproduktion auf, sondern auch die Planlosigkeit. Man streiche "Privat", und der Satz kann allenfalls passieren.

"Den Ruin weiter Volksschichten"

Statt dieser deklamatorischen Phrase, die aussieht, als täte uns dieser Ruin von Bourgeois und Kleinbürgern noch leid, würde ich die einfache Tatsache erzählen: "die durch den Ruin der städtischen und ländlichen Mittelstände, der Kleinbürger und Kleinbauern, den Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen erweitern (oder vertiefen)".

Die beiden Schlußsätze sagen zweimal dasselbe. Ich gebe in der Beilage I einen Änderungsvorschlag.

Absatz 5. "der Ursachen" muß heißen "seiner Ursachen", was wohl nur Schreibfehler ist.

Absatz 6. "Bergwerke, Minen, Gruben", wie oben ad 1. "Privatproduktion", wie oben. Ich würde sagen: "Umwandlung der gegenwärtigen kapitalistischen Produktion für Rechnung von einzelnen oder Aktiengesellschaften in sozialistische Produktion für Rechnung der gesamten Gesellschaft und nach vorherbestimmtem Plan, eine Umwandlung, etc. ... schafft, und durch welche allein die Befreiung der Arbeiterklasse und damit die Befreiung aller Gesellschaftsglieder ohne Ausnahme verwirklicht wird."

Absatz 7. Ich würde sagen wie in Beilage I.

Absatz 8. Statt "klassenbewußt", was zwar unter unsern Kreisen leicht verständliche Abkürzung, würde ich sagen im Interesse des allgemeinen Verständnisses und der Übersetzung in fremde Sprachen: "mit den zum Bewußtsein ihrer Klassenlage durchgedrungnen Arbeitern" oder ähnliches.

Absatz 9. Schlußsatz: " ... setzt und damit die Macht der ökonomischen Ausbeutung und politischen Unterdrückung in einer Hand vereinigt."

Absatz 10. Hinter "Klassenherrschaft" fehlt: "und der Klassen selbst". Die Abschaffung der Klassen ist unsre Grundforderung, ohne sie die Abschaffung der Klassenherrschaft ökonomisch ein Unding. Statt "für das gleiche Recht aller" schlage ich vor: "für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller" etc. Die gleichen Pflichten sind für uns eine ganz besonders wesentliche Ergänzung der bürgerlich-demokratischen gleichen Rechte und nehmen ihnen den spezifisch bürgerlichen Sinn.

|233| Den Schlußsatz: "In ihrem Kampfe ... geeignet sind", möchte ich lieber streichen. In seiner Unbestimmtheit: "welche die Lage des Volks im allgemeinen" (wer ist das?) " ... zu verbessern geeignet sind", kann er alles umfassen, Schutzzölle und Freihandel, Zünfte und Gewerbefreiheit, Bodenkredit, Tauschbanken, Impfzwang und Impfverbot, Alkoholismus und Antischnaps etc. etc. Was er sagen soll, steht im Vordersatz schon drin, und daß, wenn man das Ganze will, man auch jedes einzelne Stück mitnimmt, braucht man doch nicht extra zu sagen, ich meine, es schwächt den Eindruck ab. Will man den Satz aber als Übergang zu den Einzelforderungen, dann könnte man etwa sagen: "verficht die Sozialdemokratie alle Forderungen, welche sie diesem Ziele näherführen" ("Maßregeln und Einrichtungen" als Wiederholung zu streichen). Oder aber, was noch besser: man sagt geradezu, um was es sich handelt, daß man die versäumte Arbeit der Bourgeoisie nachholen muß; in dem Sinn habe ich einen Schlußsatz in Beilage I gesetzt. Diesen halte ich für wichtig wegen meiner Bemerkungen im folgenden Abschnitt und zur Motivierung meiner dort gemachten Vorschläge.

II. Politische Forderungen

Die politischen Forderungen des Entwurfs haben einen großen Fehler. Das, was eigentlich gesagt werden sollte, steht nicht drin. Wenn alle diese 10 Forderungen bewilligt wären, so hätten wir zwar diverse Mittel mehr, um die politische Hauptsache durchzusetzen, aber keineswegs die Hauptsache selbst. Die Reichsverfassung ist in der Abmessung der dem Volk und seiner Vertretung überwiesenen Rechte ein purer Abklatsch der preußischen Verfassung von 1850, einer Verfassung, worin die äußerste Reaktion in Paragraphen gefaßt ist, worin die Regierung alle wirkliche Macht besitzt und die Kammern nicht einmal das Steuerverweigerungsrecht haben; einer Verfassung, die in der Konfliktszeit bewies, daß die Regierung mit ihr machen konnte, was sie wollte. Die Rechte des Reichstags sind genau dieselben wie die der preußischen Kammer, und daher nannte Liebknecht diesen Reichstag das Feigenblatt des Absolutismus. Auf Grundlage dieser Verfassung und der von ihr sanktionierten Kleinstaaterei, eines "Bundes" zwischen Preußen und Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein, wovon das eine soviel Quadratmeilen hat als das andre Quadratzoll, auf solcher Grundlage die "Umwandlung aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum" durchführen zu wollen, ist augenscheinlich sinnlos.

Daran zu tasten ist aber gefährlich. Und dennoch muß so oder so die |234| Sache angegriffen werden. Wie nötig das ist, beweist grade jetzt der in einem großen Teil der sozialdemokratischen Presse einreißende Opportunismus. Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Weg durchzuführen. Man redet sich und der Partei vor, "die heutige Gesellschaft wachse m den Sozialismus hinein", ohne sich zu fragen, ob sie nicht damit ebenso notwendig aus ihrer alten Gesellschaftsverfassung hinauswachse und diese alte Hülle ebenso gewaltsam sprengen müsse wie der Krebs die seine, als ob sie in Deutschland nicht außerdem die Fesseln der noch halb absolutistischen und obendrein namenlos verworrenen politischen Ordnung zu sprengen habe. Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volks hinter sich hat: in demokratischen Republiken wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie in England, wo die bevorstehende Abkaufung der Dynastie tagtäglich in der Presse besprochen wird und wo diese Dynastie gegen den Volkswillen ohnmächtig ist. Aber in Deutschland, wo die Regierung fast allmächtig und der Reichstag und alle andern Vertretungskörper ohne wirkliche Macht, in Deutschland so etwas proklamieren, und noch dazu ohne Not, heißt das Feigenblatt dem Absolutismus abnehmen und sich selbst vor die Blöße binden.

Eine solche Politik kann nur die eigne Partei auf die Dauer irreführen. Man schiebt allgemeine, abstrakte politische Fragen in den Vordergrund und verdeckt dadurch die nächsten konkreten Fragen, die Fragen, die bei den ersten großen Ereignissen, bei der ersten politischen Krise sich selbst auf die Tagesordnung setzen. Was kann dabei herauskommen, als daß die Partei plötzlich, im entscheidenden Moment, ratlos ist, daß über die einschneidendsten Punkte Unklarheit und Uneinigkeit herrscht, weil diese Punkte nie diskutiert worden sind. Soll es wieder gehen wie seinerzeit mit den Schutzzöllen, die man damals für eine nur die Bourgeoisie angehende, die Arbeiter nicht im entferntesten berührende Frage erklärte, wo also jeder stimmen könne, wie er wolle, während jetzt mehr als einer ins entgegengesetzte Extrem verfällt und aus Gegensatz gegen die schutzzöllnerisch gewordnen Bourgeois die ökonomischen Verdrehungen von Cobden und Bright neu auflegt und als reinsten Sozialismus predigt - das reinste Manchestertum? Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den |235| augenblicklichen Interessen des Tages, dies Ringen und Trachten nach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen mag "ehrlich" gemeint sein, aber Opportunismus ist und bleibt es, und der "ehrliche" Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen.

Welches sind nun diese kitzligen, aber sehr wesentlichen Punkte?

Erstens. Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat. Es ist doch undenkbar, daß unsre besten Leute unter einem Kaiser Minister werden sollten wie Miquel. Nun scheint es gesetzlich nicht anzugehn, daß man die Forderung der Republik direkt ins Programm setzt, obwohl das sogar unter Louis-Philippe in Frankreich ebenso zulässig war wie jetzt in Italien. Aber das Faktum, daß man nicht einmal ein offen republikanisches Parteiprogramm in Deutschland aufstellen darf, beweist, wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft.

Indes kann man an der Republik sich allenfalls vorbeidrücken. Was aber nach meiner Ansicht hinein sollte und hinein kann, das ist die Forderung der Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung. Und das würde einstweilen genügen, wenn man nicht weitergehen kann.

Zweitens. Die Rekonstitution Deutschlands. Einerseits muß die Kleinstaaterei beseitigt werden - man revolutioniere doch die Gesellschaft, solange es bayrisch-württembergische Reservatrechte gibt und die Karte z.B. von Thüringen das gegenwärtige Jammerbild bietet! Andrerseits muß Preußen aufhören zu existieren, muß in selbstverwaltende Provinzen aufgelöst werden, damit das spezifische Preußentum aufhört, auf Deutschland zu lasten. Kleinstaaterei und spezifisches Preußentum sind die beiden Seiten des Gegensatzes, worin Deutschland jetzt gefangenliegt und wo immer die eine Seite der anderen als Entschuldigung und Existenzgrund dienen muß.

Was soll an die Stelle treten? Nach meiner Ansicht kann das Proletariat nur die Form der einen und unteilbaren Republik gebrauchen. Die Föderativrepublik ist auf dem Riesengebiet der Vereinigten Staaten jetzt noch im ganzen eine Notwendigkeit, obgleich sie im Osten bereits ein Hindernis wird. Sie wäre ein Fortschritt in England, wo vier Nationen auf den beiden Inseln wohnen und trotz eines Parlaments schon jetzt dreierlei Gesetzsysteme nebeneinander bestehn. Sie ist in der kleinen Schweiz schon längst |236| ein Hindernis geworden, erträglich nur, weil die Schweiz sich damit begnügt, ein rein passives Glied des europäischen Staatensystems zu sein. Für Deutschland wäre die föderalistische Verschweizerung ein enormer Rückschritt. Zwei Punkte unterscheiden den Bundesstaat vom Einheitsstaat: daß jeder verbündete Einzelstaat, jeder Kanton seine eigne Zivil- und Kriminalgesetzgebung und Gerichtsverfassung hat, und dann, daß neben dem Volkshaus ein Staatenhaus besteht, worin jeder Kanton, groß oder klein, als solcher stimmt. Das erste haben wir glücklich überwunden und werden nicht so kindisch sein, es wieder einzuführen, und das zweite haben wir im Bundesrat und können es sehr gut entbehren, wie denn überhaupt unser "Bundesstaat" schon den Übergang zum Einheitsstaat bildet. Und wir haben nicht die 1866 und 1870 gemachte Revolution von oben wieder rückgängig zu machen, sondern ihr die nötige Ergänzung und Verbesserung zu geben durch eine Bewegung von unten.

Also einheitliche Republik. Aber nicht im Sinne der heutigen französischen, die weiter nichts ist als das 1798 begründete Kaiserreich ohne den Kaiser. Von 1792 bis 1798 besaß jedes französische Departement, jede Gemeinde vollständige Selbstverwaltung nach amerikanischem Muster, und das müssen wir auch haben. Wie die Selbstverwaltung einzurichten ist und wie man ohne Bürokratie fertig werden kann, das bewies uns Amerika und die erste französische Republik, und noch heute Australien, Kanada und die andern englischen Kolonien. Und eine solche provinzielle und gemeindliche Selbstverwaltung ist weit freier als zum Beispiel der Schweizer Föderalismus, wo der Kanton zwar sehr unabhängig ist gegenüber dem Bund, aber auch gegenüber dem Bezirk und der Gemeinde. Die Kantonalregierungen ernennen Bezirksstatthalter und Präfekten, wovon man in den Ländern englischer Zunge nichts weiß und die wir uns ebenso höflichst in Zukunft verbeten haben wollen wie die preußischen Landräte und Regierungsräte.

Von allen diesen Sachen wird nicht viel ins Programm kommen dürfen. Ich erwähne sie auch hauptsächlich, um die Zustände in Deutschland zu kennzeichnen, wo so etwas zu sagen nicht angeht, und damit gleichzeitig die Selbsttäuschung, die solche Zustände auf gesetzlichem Weg in die kommunistische Gesellschaft überführen will. Und ferner, um dem Parteivorstand in Erinnerung zu bringen, daß es noch andre politische Fragen von Wichtigkeit gibt als die direkte Gesetzgebung durch das Volk und die unentgeltliche Rechtspflege, ohne die wir am Ende auch vorankommen. Bei der allgemeinen Unsicherheit können jene Fragen von heute auf morgen brennend werden, und was dann, wenn wir sie nicht diskutiert, uns nicht darüber verständigt haben?

|237| Was aber ins Programm kommen kann und was wenigstens indirekt als Andeutung des nicht Sagbaren dienen kann, ist die Forderung:

"Vollständige Selbstverwaltung in Provinz, Kreis und Gemeinde durch nach allgemeinem Stimmrecht gewählte Beamte. Abschaffung aller von Staats wegen ernannten Lokal- und Provinzialbehörden."

Ob es sonst noch möglich ist, in bezug auf die soeben diskutierten Punkte Programmforderungen zu formulieren, kann ich hier nicht so gut beurteilen als Ihr dort. Aber wünschenswert wäre es, daß diese Fragen innerhalb der Partei debattiert würden, ehe es zu spät ist.

1. Der Unterschied zwischen "Wahlrecht und Stimmrecht" respektive "Wahlen und Abstimmungen" ist mir nicht ersichtlich. Soll einer gemacht werden, so wäre dies jedenfalls deutlicher auszudrücken oder in einem den Entwurf begleitenden Kommentar zu erklären.

2. "Vorschlags- und Verwerfungsrecht des Volks" für was? Für alle Gesetze oder Beschlüsse der Volksvertretung wäre hinzuzusetzen.

5. Vollständige Trennung von Kirche und Staat. Alle religiösen Gemeinschaften ohne Ausnahme werden vom Staat als Privatgenossenschaften behandelt. Sie verlieren jede Unterstützung aus öffentlichen Mitteln und jeden Einnuß auf die öffentlichen Schulen. (Man kann ihnen doch nicht verbieten, eigne Schulen aus eignen Mitteln zu gründen und dort ihren Blödsinn zu lehren.)

6. "Weltlichkeit der Schule" fällt dann weg, es gehört in den vorigen Paragraphen.

8. und 9. Hier möchte ich zu bedenken geben: Diese Punkte fordern Verstaatlichung 1. der Advokatur, 2. der Ärzte, 3. der Apotheker, Zahnärzte, Hebammen, Krankenpfleger etc. etc., und ferner wird später die totale Verstaatlichung der Arbeiterversicherung gefordert. Ob das alles dem Herrn von Caprivi anvertraut werden darf? Und ob das im Einklang steht mit der vorangegangenen Lossagung von allem Staatssozialismus?

10. Hier würde ich sagen: "Progressive ... Steuer für Bestreitung aller Ausgaben m Staat, Bezirk und Gemeinde, soweit Steuern dazu erforderlich. Abschaffung aller indirekten Staats- und Lokalsteuern, Zölle etc." Der Rest ist überflüssig und abschwächender Kommentar resp. Motivierung.

III. Ökonomische Forderungen

ad 2. Nirgends mehr als in Deutschland bedarf das Koalitionsrecht auch einer Sicherstellung gegenüber dem Staat.

|238| Der Schlußsatz: "zur Regelung" etc. wäre als Artikel 4 zuzusetzen und in entsprechende Form zu bringen. Zu diesem wäre zu bemerken, daß wir mit Arbeitskammern von 1/2 Arbeitern und 1/2 Unternehmern geleimt wären. Auf Jahre hinaus werden da die Majoritäten stets auf seiten der Unternehmer sein, wozu ein schwarzes Schaf unter den Arbeitern genügt. Wird nicht ausgemacht, daß in Streitfällen beide Hälften separat Meinung abgeben, wäre es viel besser, eine Unternehmerkammer und daneben eine unabhängige Arbeiterkammer zu haben.

Ich möchte bitten, vor Toresschluß nochmals das französische Programm zu vergleichen, wo grade für Nr. III manches besser scheint. Das spanische kann ich bei der Kürze der Zeit leider nicht heraussuchen, es ist auch in vieler Beziehung sehr gut.

[Beilage zu Abschnitt I]

|239| 1. "Gruben, Minen" weg. - "Eisenbahnen und andre Verkehrsmittel".

2. in den Händen ihrer Aneigner (oder Besitzer) sind die gesellschaftlichen Arbeitsmittel zu Mitteln der Ausbeutung geworden. Die hierdurch bedingte ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter die Aneigner der Arbeitsmittel, d.h. der Lebensquellen, ist die Grundlage der Knechtschaft in jeder Gestalt: des gesellschaftlichen Elends, der geistigen Verkümmerung, der politischen Abhängigkeit.

3. Unter der Herrschaft dieser Ausbeutung nimmt die Anhäufung des durch die Ausgebeuteten erzeugten Reichtums in den Händen der Ausbeuter - der Kapitalisten und Großgrundbesitzer - mit wachsender Geschwindigkeit zu, immer ungleicher wird die Verteilung des Arbeitsprodukts zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer größer die Zahl und die Unsicherheit der Lebenslage des Proletariats usw.

4. "Privat"(produktion) fort ... verschlimmern, durch den Ruin der städtischen und ländlichen Mittelstände, der Kleinbürger und Kleinbauern, den Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen erweitern (oder vertiefen), die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß die Klasse der Aneigner der gesellschaftlichen Arbeitsmittel den Beruf und die Fähigkeit zur wirtschaftlichen und politischen Führung verloren hat.

5. "seiner" Ursachen.

6. ... und die Umwandlung der kapitalistischen Produktion für Rechnung von einzelner, oder Aktiengesellschaften in sozialistische Produktion für Rechnung der gesamten Gesellschaft und nach vorherbestimmtem Plan, eine Umwandlung, für welche die kapitalistische Gesellschaft selbst die materiellen und geistigen Bedingungen schafft und durch welche allein die Befreiung der Arbeiterklasse und mit ihr die Befreiung aller Gesellschaftsglieder ohne Ausnahme verwirklicht wird.

|240| 7. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Es ist selbstredend, daß sie sich weder von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern, ihren Gegnern und Ausbeutern, befreien lassen kann, noch von den Kleinbürgern und Kleinbauern, die, von der Konkurrenz der großen Ausbeuter erdrückt, keine andre Wahl haben, als |1| entweder diesen oder den Arbeitern Heeresfolge zu leisten.

8. ... mit den zum Bewußtsein ihrer Klassenlage durchgedrungnen Arbeitern etc.

9. ... setzt und damit die Macht der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung des Arbeiters in einer Hand vereinigt.

10. ... Klassenherrschaft und der Klassen selbst |2| und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne etc. ... Abstammung (Schluß gestrichen). In ihrem Kampf für die ... Menschheit wird sie aber gehemmt durch die rückständigen politischen Zustände Deutschlands. Sie hat zunächst freien Bewegungsraum zu erobern, massenhafte Reste des Feudalismus und Absolutismus zu beseitigen, kurz, die Arbeit zu besorgen, die die deutschen bürgerlichen Parteien zu tun zu feig gewesen sind und noch sind. Sie hat also, wenigstens heute, auch Forderungen in ihr Programm aufzunehmen, die in ändern Kulturländern die Bourgeoisie selbst schon erledigt hat.


|1| Den folgenden Teil dieses Satzes schrieb Engels mit Bleistift an Stelle der durchgestrichenen Worte "entweder sich an diese anzuklammern oder selbst ins Proletariat hinabzusinken, also entweder Gegner oder Schwanz der Arbeiterklasse zu werden" <=

|2| Die Worte "und der Klassen selbst" sind mit Bleistift geschrieben <=


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