MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1890

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 76-79.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

[Abschiedsbrief an die Leser des "Sozialdemokrat"]

Geschrieben zwischen 12. und 18. September 1890.


["Der Sozialdemokrat" Nr. 39 vom 27. September 1890]

|76| Man erlaube auch mir, vom Leser Abschied zu nehmen.

Von der Bühne verschwinden muß "Der Sozialdemokrat". Nicht nur, weil dies so oft, den andern Parteien gegenüber, erklärt worden ist. Weit mehr noch, weil "Der Sozialdemokrat" unter den veränderten Verhältnissen selbst notwendig ein andrer würde, mit einer andren Mission, andren Mitarbeitern, andrem Leserkreis. Und ein Blatt, das eine so bestimmte geschichtliche Rolle gespielt, ein Blatt, dessen Eigentümlichkeit war, daß in seinen Spalten, und nur dort, die zwölf entscheidendsten Jahre im Leben der deutschen Arbeiterpartei sich widerspiegeln - ein solches Blatt kann und darf sich nicht verändern. Es bleibe, was es war, oder es höre auf zu sein. Darüber sind wir alle einig.

Ebenso einig sind wir alle darin, daß dies Blatt nicht verschwinden kann, ohne eine Lücke zu lassen. Kein in Deutschland erscheinendes Organ, amtlich oder nicht, kann es ersetzen. Für die Partei ist das nur ein relativer Nachteil: Sie tritt in andre Kampfbedingungen und bedarf daher andrer Warfen und andrer Strategie und Taktik. Ein absoluter Verlust aber ist es für die Mitarbeiter und speziell für mich.

Zweimal in meinem Leben hatte ich die Ehre und die Freude, an einem Blatt mitzuarbeiten, wo ich die beiden günstigsten Bedingungen vollauf genoß, unter welchen man überhaupt in der Presse wirken kann: erstens unbedingte Preßfreiheit und zweitens die Gewißheit, von grade dem Publikum gehört zu werden, von dem man gehört sein will.

Das erstemal 1848-1849 bei der "Neuen Rheinischen Zeitung". Das waren Revolutionszeiten, und da ist es ohnehin eine Lust, an der Tagespresse zu arbeiten. Man sieht die Wirkung jedes Worts vor Augen, man |77| sieht, wie die Artikel förmlich einschlagen, als wären sie Granaten, und wie die Sprengladung platzt.

Das zweitemal beim "Sozialdemokrat". Und das war auch ein Stück Revolutionszeit, seitdem die Partei sich auf dem Wydener Kongreß wiederfand und von da an "mit allen Mitteln", gesetzlich oder nicht, den Kampf wiederaufnahm. "Der Sozialdemokrat" war die Verkörperung dieser Ungesetzlichkeit. Für ihn bestand keine bindende Reichsverfassung, kein Reichsstrafgesetzbuch, kein preußisches Landrecht. Widergesetzlich, zum Trotz und Hohn aller Reichs- und Landesgesetzgebung, drang er allwöchentlich über die Grenzen des heiligen deutschen Reichs; Häscher, Spione, Lockspitzel, Zöllner, verdoppelte und verdreifachte Grenzwacht waren ohnmächtig; fast mit der Sicherheit eines Wechsels wurde er am Verfalltag den Abonnenten präsentiert; kein Stephan konnte hindern, daß die Deutsche Reichspost ihn versenden und austragen mußte. Und das bei über zehntausend Abonnenten in Deutschland; und während die verbotnen Schriften von vor 1848 von ihren Bourgeoiskäufern nur in den seltensten Fällen bezahlt wurden, zahlten die Arbeiter für ihren "Sozialdemokrat" zwölf Jahre lang mit der größten Regelmäßigkeit. Wie oft hat mir altem Revolutionär das Herz im Leibe gelacht, wenn ich diese so ausgezeichnet eingeölte, geräuschlose Wechselwirkung zwischen Redaktion, Expedition und Abonnenten, diese businesslike, geschäftsmäßig organisierte revolutionäre Arbeit Woche für Woche, jahraus, jahrein mit gleicher Sicherheit sich abwickeln sah!

Und das Blatt war der Mühen und Gefahren wert, die seine Verbreitung kostete. Es war unbedingt das beste Blatt, das die Partei je besessen. Und zwar nicht bloß, weil es, allein von allen, volle Preßfreiheit genoß. Die Grundsätze der Partei wurden mit seltener Klarheit und Bestimmtheit dargelegt und festgehalten, und die Taktik der Redaktion war fast ausnahmslos die richtige. Dazu kam noch eins. Während unsre Bourgeoispresse sich der ertötendsten Langweiligkeit befleißigt, spiegelte sich im "Sozialdemokrat" auch der heitre Humor reichlich wider, womit unsre Arbeiter den Kampf gegen Polizeischikanen zu führen gewohnt sind.

Dabei war "Der Sozialdemokrat" alles, nur kein bloßes Mundstück der Fraktion. Als die Majorität der Fraktion 1885 der Dampfersubvention zuneigte, vertrat das Blatt entschieden die entgegengesetzte Meinung und behauptete sein Recht dazu auch noch, als diese Majorität in einem Tagesbefehl, der ihr heute wohl selbst unbegreiflich erscheinen wird, ihm dies verbot. Der Kampf dauerte gerade vier Wochen, während deren die Redaktion von den Parteigenossen Deutschlands und des Auslands kräftig unter- |78| stützt wurde. Am 2. April erschien das Verbot; am 30. brachte "Der Sozialdemokrat" eine zwischen Fraktion und Redaktion vereinbarte Erklärung, woraus hervorging, daß die Fraktion ihren Befehl zurücknahm.

Zu einer späteren Zeit war es dem "Sozialdemokrat" vorbehalten, das vielgerühmte schweizerische Asylrecht auf die Probe zu stellen. Da zeigte sich, wie in allen ähnlichen Fällen seit 1830, daß dies Asylrecht jedesmal gerade da versagt, wo es wirklich in Kraft zu treten hat. Das ist nun nichts Neues. Seit ihrer von 1830 an bewirkten Demokratisierung erlauben die benachbarten Großmächte der kleinen Republik die demokratischen Experimente im Innern nur unter der Bedingung, daß das Flüchtlingsasyl nur unter Kontrolle der jedesmal interessierten Großmacht ausgeübt wird. Die Schweiz ist zu schwach, um nicht nachzugeben. Man kann ihr das nicht übelnehmen. Marx pflegte zu sagen, in bezug namentlich auf Holland, die Schweiz und Dänemark, heutzutage sei die schlimmste Lage die eines kleinen Landes, das eine große Geschichte gehabt. Aber nun höre man doch endlich auf, in der "fryen Schwyz" vom unbefleckten Asylrecht zu flunkern.

"Der Sozialdemokrat" war die Flagge der deutschen Partei; nach zwölfjährigem Kampf ist die Partei siegreich. Das Sozialistengesetz ist gefallen, Bismarck ist gestürzt. Das mächtige Deutsche Reich hat alle seine Machtmittel gegen uns in Bewegung gesetzt; die Partei hat ihrer gespottet, bis endlich das Deutsche Reich seine Flagge hat streichen müssen vor der unsren. Die Reichsregierung will es uns gegenüber einstweilen wieder mit dem gemeinen Recht versuchen, und so wollen wir es einstweilen wieder mit den gesetzlichen Mitteln versuchen, die wir uns, vermittelst kräftigen Gebrauchs der ungesetzlichen, wiedererobert haben. Ob dabei die "gesetzlichen" Mittel wieder ins Programm aufgenommen werden oder nicht, ist ziemlich gleichgültig. Versucht muß werden, vorderhand mit den gesetzlichen Kampfmitteln auszukommen. Das tun nicht nur wir, das tun alle Arbeiterparteien aller Länder, wo die Arbeiter ein gewisses Maß gesetzlicher Bewegungsfreiheit haben, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dabei am meisten für sie herauskommt. Das hat aber zur Voraussetzung, daß die Gegenpartei ebenfalls gesetzlich verfährt. Versucht man, sei es durch neue Ausnahmsgesetze, durch rechtswidrige Urteile und Reichsgerichtspraxis, durch Polizeiwillkür oder durch sonstige ungesetzliche Übergriffe der Exekutive, unsre Partei wieder tatsächlich außerhalb des gemeinen Rechts zu stellen, so treibt man die deutsche Sozialdemokratie abermals auf den ungesetzlichen Weg als den einzigen, der ihr noch offensteht. Selbst bei der gesetzliebendsten Nation, den Engländern, ist die erste Bedingung der |79| Gesetzlichkeit von Seiten des Volks die, daß die andern Machtfaktoren ebenfalls in den Schranken des Gesetzes bleiben; geschieht das nicht, so ist nach englischer Rechtsanschauung Rebellion erste Bürgerpflicht.

Tritt dieser Fall ein, was dann? Wird die Partei Barrikaden bauen, an die Gewalt der Waffen appellieren? Diesen Gefallen wird sie ihren Gegnern sicher nicht tun. Davor bewahrt sie die Erkenntnis ihrer eigenen Machtstellung, die ihr jede allgemeine Reichstagswahl gibt. Zwanzig Prozent der abgegebnen Stimmen ist eine sehr respektable Zahl, aber das heißt auch, daß die vereinigten Gegner noch immer achtzig Prozent davon haben. Und wenn unsre Partei dabei sieht, daß sie ihre Stimmenzahl in den letzten drei Jahren verdoppelt hat und daß sie bis zur nächsten Wahl auf ein noch stärkeres Wachstum rechnen darf, so müßte sie verrückt sein, heute mit zwanzig gegen achtzig und gegen die Armee obendrein einen Putsch zu versuchen, dessen sicherer Ausgang wäre - der Verlust aller seit fünfundzwanzig Jahren eroberten Machtposten.

Die Partei hat ein viel besseres, gründlich erprobtes Mittel. An dem Tage, wo uns das gemeine Recht streitig gemacht wird, erscheint "Der Sozialdemokrat" wieder. Die alte Maschinerie, in Reserve gehalten für diesen Fall, tritt wieder in Tätigkeit, verbessert, vermehrt, neu eingeölt. Und eins ist sicher: Zum zweitenmal hält das Deutsche Reich das keine zwölf Jahre aus.

Friedrich Engels


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