MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1890

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 60-65.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Der 4. Mai in London

Geschrieben zwischen 5. und 21. Mai 1890.


["Arbeiter-Zeitung" Nr. 21 vom 23. Mai 1890]

|60| Die Maifeier des Proletariats war epochemachend nicht nur durch ihre Allgemeinheit, die sie zur ersten internationalen Tat der kämpfenden Arbeiterklasse machte. Sie hat auch dazu gedient, höchst erfreuliche Fortschritte in den einzelnen Ländern zu konstatieren. Feind und Freund sind einig darüber, daß auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien, den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten begangen und die österreichische, voran die Wiener Arbeiterschaft sich damit eine ganz andere Stellung in der Bewegung erobert hat. Vor einigen Jahren noch war die österreichische Bewegung fast auf den Nullpunkt gesunken, waren die Arbeiter der deutschen und slawischen Kronländer in feindliche Parteien gespalten, ihre Kräfte aufreibend in innerem Kampf; wer noch vor nur drei Jahren behauptet hätte, am 1. Mai 1890 würde Wien und ganz Österreich allen anderen ein Vorbild geben, wie ein proletarisches Klassenfest zu feiern ist, den hätte man ausgelacht. Diese Tatsache werden wir gut tun, nicht zu vergessen, wenn wir die Zwistigkeiten der inneren Kämpfe beurteilen, in denen die Arbeiter anderer Länder ihre Kräfte noch heute verzehren, wie z.B. in Frankreich. Wer will behaupten, daß Paris nicht wird tun können, was Wien getan hat?

Wien aber ist am 4. Mai in den Schatten gestellt worden von London. Und das halte ich für den wichtigsten und großartigsten Teil der ganzen Maifeier, daß am 4. Mai 1890 das von vierzigjährigem Winterschlaf erwachte englische Proletariat in die Bewegung seiner Klasse wieder eingetreten ist. Um dies zu verstehen, ist die Vorgeschichte des 4. Mai unentbehrlich.

|61| Gegen Anfang vorigen Jahres geriet das größte und elendeste Arbeiterviertel der Welt, das Ostende von London, allmählich in Bewegung. Am 1 .April 1889 wurde der Fachverein der Gasarbeiter und Handarbeiter überhaupt (Gas Workers' and General Labourers' Union) gestiftet; er zählt heute an 100.000 Mitglieder. Wesentlich unter Mitwirkung dieses mitbeteiligten Vereines (viele sind Gasarbeiter im Winter, Dockarbeiter im Sommer) kam der große Dockstreik in Gang und rüttelte selbst den untersten Bodensatz der Ostlondoner Arbeiterschaft aus der Versumpfung auf. Jetzt bildeten sich unter diesen meist ungelernten Arbeitern Fachvereine über Fachvereine, während die dort schon bestehenden, bisher nur mühsam sich haltenden nun rasch aufblühten. Der Unterschied dieser neuen Trades Unions von den alten war aber sehr groß. Die alten, die "gelernten" Arbeiter umfassend, sind exklusiv, sie schließen alle nicht zunftmäßig angelernten Arbeiter aus und schaffen sich damit selbst eine nicht zünftige Konkurrenz; sie sind reich, aber je reicher, desto mehr arten sie aus in bloße Kranken- und Sterbekassen; sie sind konservativ und halten sich namentlich den †††Sozialismus vom Halse, soviel und solange es geht. Die neuen "ungelernten" dagegen nehmen jeden Fachgenossen auf; sie sind wesentlich, und die Gasarbeiter sogar ausschließlich, Streikvereine und Streikkassen; und wenn sie auch noch nicht Mann für Mann Sozialisten sind, so wollen sie doch platterdings zu ihren Führern nur Sozialisten und keine anderen. Die sozialistische Propaganda war aber schon seit Jahren im Ostende tätig gewesen, und hier waren es besonders Frau E. Marx-Aveling und ihr Mann, Eduard Aveling, die seit vier Jahren in den fast nur aus Arbeitern bestehenden "radikalen Klubs" das beste Propagandafeld entdeckt und ausdauernd bearbeitet hatten, und wie sich jetzt gezeigt hat, mit dem besten Erfolg. Während des Dockstreiks war Frau Aveling eine der drei Frauen, die die Unterstützungsverteilung besorgten und zum Dank dafür von Herrn Hyndman, dem Ausreißer von Trafalgar Square, verleumdet wurden, als hätten sie sich dafür aus der Streikkasse drei Pfund Sterling wöchentlich zahlen lassen. Den Streik in Silvertown, ebenfalls im Ostende, vorigen Winter leitete Frau Aveling fast ganz allein, und sie vertritt eine von ihr dort gestiftete Frauensektion im Ausschuß der Gasarbeiter.

Die Gasarbeiter hatten sich im vorigen Herbst hier in London den achtstündigen Arbeitstag erkämpft, ihn aber im südlichen Stadtteil in einem unglücklichen Streik wieder verloren und Beweise genug erhalten, daß diese Errungenschaft auch im nördlichen Teile Londons keineswegs für immer gesichert ist. Was Wunder also, daß sie bereitwillig eingingen auf |62| den Vorschlag von Frau Aveling, die vom Pariser Kongreß beschlossene Maifeier zugunsten des gesetzlichen Achtstundentages für London einzuleiten? In Gemeinschaft mit einigen sozialistischen Gruppen, den radikalen Klubs und den anderen Trades Unions im Ostende setzten sie ein Zentralkomitee ein, das eine große Demonstration zu diesem Zweck im Hyde Park organisieren sollte. Da sich herausstellte, daß jeder Versuch, diese Demonstration am Donnerstag, den 1. Mai, abzuhalten, in diesem Jahr notwendig scheitern müsse, so beschloß man, sie auf Sonntag, den 4., zu verlegen.

Damit, wo möglich, alle Londoner Arbeiter sich beteiligten, lud das Zentralkomitee in naiver Unbefangenheit auch den Londoner Trades Council ein. Es ist dies eine aus Delegierten von Londoner Trades Unions, und zwar meist der älteren "gelernten" Gewerkschaften, zusammengesetzte Körperschaft, worin, wie zu erwarten, einstweilen noch das antisozialistische Element die Mehrheit hat. Der Trades Council sah, daß die Bewegung für den Achtstundentag ihm über den Kopf zu wachsen drohe. Die alten Trades Unions sind ebenfalls für einen achtstündigen Arbeitstag, aber nicht für einen gesetzlich festzusetzenden. Unter dem Achtstundentag verstehen sie, daß für acht Stunden der normale Taglohn - soviel per Stunde - bezahlt wird, daß es aber erlaubt sein soll, jede beliebige Zahl täglicher Überstunden zu arbeiten, vorausgesetzt, daß jede Überstunde höher bezahlt wird, sage soviel wie anderthalb oder zwei gewöhnliche Stunden. Es handelte sich also darum, die Demonstration in das Fahrwasser dieses durch "freie" Vereinbarung zu erkämpfenden, aber ja nicht durch Parlamentsakte obligatorisch zu machenden Arbeitstages zu lenken. Zu diesem Zwecke vereinigte sich der Trades Council mit der Social Democratic Federation des obenerwähnten Herrn Hyndman, einer Gesellschaft, die sich als die alleinseligmachende Kirche des englischen Sozialismus geriert, die ganz konsequent ein Bündnis auf Leben und Tod mit den französischen Possibilisten geschlossen und deren Kongreß beschickt hat und die daher von vornherein die vom Marxistenkongreß beschlossene Maifeier als eine Sünde wider den Heiligen Geist ansah. Auch ihr wuchs die Bewegung über den Kopf; aber dem Zentralkomitee sich anschließen, hieß sich unter die Führung der "Marxisten" stellen; wenn dagegen der Trades Council die Sache in die Hand nahm und wenn die Feier am 4. stattfand statt am 1. Mai, so war das gar nicht die böse "marxistische" Maifeier mehr, und man konnte mitmachen. Trotzdem nun die Sozialdemokratische Föderation den gesetzlichen Achtstundentag in ihrem Programm führt, schlug sie in die vom Trades Council gebotene Hand mit Freuden ein.

|63| Die neuen Alliierten, sonderbare Bettgenossen wie sie waren, begingen nun einen Streich gegen das Zentralkomitee, der in der politischen Praxis der englischen Bourgeoisie zwar als nicht nur erlaubt, sondern als sehr geschickt gelten würde, den aber die europäischen und amerikanischen Arbeiter wahrscheinlich für äußerst kommun erklären werden. Bei Volksversammlungen im Hyde Park nämlich müssen die Veranstalter ihre Absicht dem Ministerium für öffentliche Arbeiten (Board of Works) vorher anzeigen und sich mit ihm über die Einzelheiten verständigen, namentlich die Erlaubnis einholen, Wagen, die als Tribünen dienen sollen, aufs Gras zu fahren. Vorschrift ist dann, daß, nachdem eine Versammlung angezeigt, keine zweite am selben Tage im Park gehalten werden darf. Das Zentralkomitee hatte diese Anzeige noch nicht gemacht; kaum aber erfuhren dies die gegen dasselbe verbündeten Körperschaften, als sie sofort auf den 4. Mai eine Versammlung im Park anmeldeten und sich sieben Tribünen bewilligen ließen, und zwar hinter dem Rücken des Zentralkomitees.

Damit glaubten der Trades Council und die Föderation den Park für den 4. Mai gepachtet und den Sieg in der Tasche zu haben. Der erstere berief nun eine Versammlung von Delegierten der Trades Unions, wozu auch zwei Delegierte des Zentralkomitees eingeladen wurden; dieses sandte ihnen drei, darunter Frau Aveling. Der Trades Council trat ihnen gegenüber auf als Herr der Situation. Er teilte mit, daß nur Fachvereine, also keine sozialistischen Vereine oder politischen Klubs an der Demonstration sich beteiligen und Fahnen mitbringen könnten; wie die Sozialdemokratische Föderation da mitdemonstrieren sollte, blieb ein Rätsel. Er hatte die der Versammlung vorzulegende Resolution bereits fertig redigiert, und zwar war darin die Forderung des gesetzlichen Achtstundentages gestrichen; ein Vorschlag, ihn wieder hineinzusetzen, wurde weder zur Debatte noch zur Abstimmung zugelassen. Und endlich weigerte er sich, Frau Aveling als Delegierte zuzulassen, weil sie keine Handarbeiterin sei (was nicht wahr ist), und trotzdem sein eigener Präsident, Herr Shipton, seit reichlich 15 Jahren keinen Streich in seinem Handwerk gearbeitet hat.

Die Arbeiter des Zentralkomitees waren entrüstet über den ihnen gespielten Streich. Die Demonstration schien endgiltig in die Hände zweier Körperschaften gespielt, die nur geringe Minoritäten der Londoner Arbeiter vertraten. Kein Gegenmittel schien zu bleiben als die von den Gasarbeitern angedrohte Erstürmung der Tribünen des Trades Council. - Da ging Eduard Aveling aufs Ministerium und erwirkte trotz der entgegenstehenden Regel dem Zentralkomitee das Recht, ebenfalls sieben Tribünen im Park aufzufahren. Der Versuch, die Demonstration im Interesse der |64| Minorität zu eskamotieren, war gescheitert; der Trades Council zog seine Hörner ein und war froh, mit dem Zentralkomitee wegen Anordnung der Demonstration auf gleichem Fuß verhandeln zu dürfen.

Dieses Vorgeschichtliche muß man kennen, um den Charakter und die Bedeutung der Demonstration zu würdigen. Von den neu in die Bewegung eingetretenen Arbeitern des Ostends angeregt, fand sie solch allseitigen Anklang, daß zwei Elemente, die einander nicht minder feindlich gegenüberstanden als beide zusammen dem Grundgedanken der Demonstration, genötigt wurden, sich zu verbünden, um die Leitung an sich zu reißen und die Versammlung in ihrem Sinn auszubeuten. Hier der konservative Trades Council, der die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit predigt, dort die radikal tuende Sozialdemokratische Föderation, die bei allen ungefährlichen Gelegenheiten mit der sozialen Revolution um sich wirft, - und beide verbündet zu einem gemeinen Streich, um Kapital zu schlagen aus einer ihnen beiden grundverhaßten Demonstration. Die Versammlung des 4. Mai wurde durch diese Vorgänge in zwei Teile gespalten: auf der einen Seite die konservativen Arbeiter, deren Gesichtskreis nicht über das Lohnarbeitssystem hinausgeht, und daneben eine engbrüstige, aber herrschsüchtige sozialistische Sekte; auf der anderen die große Masse der neu in die Bewegung eingetretenen Arbeiter, die von dem Manchestertum der alten Trades Unions nichts mehr hören und sich ihre volle Emanzipation selbst erkämpfen wollen, und zwar mit selbstgewählten Bundesgenossen, nicht mit den von einer kleinen sozialistischen Koterie vorgeschriebenen. Auf der einen Seite der Stillstand, vertreten durch Trades Unions, die sich selbst vom Zunftgeist noch nicht ganz befreit, und durch eine engherzige Sekte, die sich auf die schäbigsten Bundesgenossen stützt; auf der anderen die lebendige freie Bewegung des wiedererwachenden englischen Proletariats. Und der Augenschein zeigte auch dem Blindesten, wo in dieser Doppelversammlung das frische Leben war und wo die Stagnation. Um die sieben Tribünen des Zentralkomitees dichte, unabsehbare Scharen, heranziehend mit Musik und Fahnen, über Hunderttausend im Zug, verstärkt durch fast ebenso viele, die einzeln gekommen; überall Einstimmigkeit und Begeisterung und doch Ordnung und Organisation. An den Tribünen der vereinigten Reaktionäre dagegen schien alles matt; ihr Zug, weit schwächer als der andere, schlecht organisiert, unordentlich und großenteils verspätet, so daß man dort stellenweise erst anfing, als das Zentralkomitee bereits fertig war. Wahrend die liberalen Führer einzelner radikaler Klubs und die Beamten mancher Trades Unions sich dem Trades Council angeschlossen, marschierten die Mitglieder derselben Vereine, ja, |65| vier ganze Zweiggesellschaften der Sozialdemokratischen Föderation, mit dem Zentralkomitee. Trotz alledem hatte der Trades Council immer noch einen Achtungserfolg, aber der durchschlagende Erfolg war beim Zentralkomitee.

Was aber die zahlreichen zuschauenden Bourgeoispolitiker als Totaleffekt mit nach Hause genommen, das ist die Gewißheit, daß das englische Proletariat, das nunmehr volle vierzig Jahre den Schwanz und das Stimmvieh der großen Liberalenpartei abgegeben, endlich zu neuem selbständigen Leben und Handeln erwacht ist. Und daran kann kein Zweifel sein: Am 4. Mai 1890 ist die englische Arbeiterklasse eingetreten in die große internationale Armee. Und das ist eine epochemachende Tatsache. Das englische Proletariat fußt auf der fortgeschrittensten industriellen Entwicklung und besitzt dazu die größte politische Bewegungsfreiheit. Sein langer Winterschlaf - Folge einerseits des Scheiterns der Chartistenbewegung von 1836-1850, andererseits des kolossalen industriellen Aufschwunges von 1848-1880 - ist endlich gebrochen. Die Enkel der alten Chartisten treten in die Schlachtlinie. Seit acht Jahren hat es sich geregt in der breiten Masse, bald hier, bald da. Es sind sozialistische Gruppen aufgetaucht, aber keine hat es über den Stand einer Sekte hinausgebracht; Agitatoren und angebliche Parteiführer, darunter auch bloße Spekulanten und Streber, sie blieben Offiziere ohne Soldaten. Es war fast immer die berühmte Kolonne Robert Blums aus dem badischen Feldzug von 1849: ein Oberst, elf Offiziere, ein Hornist und ein Mann. Und der Krakeel dieser verschiedenen Kolonnen Robert Blums untereinander über die Führung der künftigen proletarischen Armee war keineswegs erbaulich. Das wird jetzt bald aufhören, ganz wie es aufgehört hat in Deutschland und in Osterreich. Die gewaltige Bewegung der Massen wird allen diesen Sekten und Häuflein ein Ende machen, indem sie die Soldaten absorbiert und den Offizieren den ihnen gebührenden Posten anweist. Wem's nicht gefällt, der kann sich drücken. Ohne Reibung wird's nicht abgehen, aber es wird gehen, und in kürzerer Zeit, als mancher erwartet, wird die englische proletarische Armee so einig, so gut organisiert, so entschlossen sein wie irgendeine und von allen ihren Kameraden des Kontinents und Amerikas mit Jubel begrüßt.


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