MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1890

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 7-10.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Was nun?

Geschrieben zwischen 21. Februar und 1. März 1890.


["Der Sozialdemokrat" Nr. 10 vom 8. März 1890]

|7| Der 20. Februar 1890 ist der Anfang vom Ende der Ära Bismarck. Die Allianz zwischen Junkern und Geldprotzen zur Ausbeutung der deutschen Volksmassen - denn das und nichts andres war das Kartell - trägt ihre Frucht. Die Branntweinsteuer, die Zuckerprämie, die Korn- und Fleischzölle, die den Junkern Millionen aus der Tasche des Volks in ihre Taschen hinüberzaubern; die industriellen Schutzzölle, eingeführt grade im Augenblick, wo die deutsche Industrie aus eigner Kraft, und unter Freihandel, sich eine Weltmarktsstellung erobert hatte, eingeführt ausdrücklich und einzig, damit der Fabrikant im Inland zu Monopolpreisen und im Ausland zu Schleuderpreisen verkaufen könne; das ganze System der indirekten Steuern, das die ärmeren Volksmassen niederdrückt und die Reichen kaum berührt; die ins Unerschwingliche wachsende Steuerlast zur Deckung der Kosten für endlos steigende Kriegsrüstungen; die mit den Rüstungen wachsende, immer näher rückende Gefahr eines Weltkriegs, der vier bis fünf Millionen Deutsche "auf die Strecke" zu legen droht, weil der Raub von Elsaß-Lothringen Frankreich in die Arme Rußlands trieb und dadurch Rußland zum Schiedsrichter von Europa machte; die unerhörte Preßkorruption, vermittelst deren die Regierung das Volk bei jeder Reichstagserneuerung systematisch mit Schrecklügen überschwemmte; die Polizeikorruption zur Erkaufung oder Erzwingung des Verrats der Frau am Mann, des Kindes am Vater; die bis dahin in Deutschland so gut wie unbekannte Lockspitzelei; die Polizeiwillkür, die die Zeit von vor 1848 weit übertrifft; die schamlose Verhöhnung alles Rechts durch die deutschen Gerichte, voran das edle Reichsgericht; die Rechtlosmachung der ganzen Arbeiterklasse durch das Sozialistengesetz - alles das hat seine Zeit gehabt, und lang genug hat sie gedauert, diese Zeit, dank der Feigheit des deutschen Philisters - aber jetzt geht's zu End'. Die Kartellmehrheit ist zerschmettert, rettungs- |8| los zerschmettert, so daß es nur noch ein Mittel gibt, sie auch nur für einen Augenblick zusammenzuflicken - einen Gewaltsstreich.

Was nun? Eine neue Majorität für das alte System zusammenstümpern? Oh, die Lust dazu wäre schon da, und nicht nur bei der Regierung. Unter den Freisinnigen gibt's Angstmeier genug, die lieber selbst Kartell spielen, als die bösen Sozialdemokraten aufkommen lassen - die mit Friedrich III. zu Grabe getragenen Regierungsfähigkeits-Träume pochen schon wieder an den Sargdeckel. Aber die Regierung kann den Freisinn nicht brauchen, noch ist er nicht reit zur Allianz mit den ostelbischen Junkern, und die sind ja die wichtigste Klasse im Reich!

Und das Zentrum? Auch im Zentrum gibt's Junker in Masse, westfälische, bayerische usw., die vor Begierde brennen, in die Arme ihrer ostelbischen Brüder zu sinken, die mit Wollust für die junkerfreundlichen Steuern gestimmt haben; auch im Zentrum gibt's bürgerliche Reaktionäre genug, die noch weiter zurück wollen, als die Regierung darf, die, könnten sie's, uns das ganze zünftlerische Mittelalter wieder auflüden. Eine spezifisch katholische, wie jede spezifisch christliche Partei, kann ja nichts anderes sein als reaktionär. Warum denn kein neues Kartell mit dem Zentrum?

Einfach, weil es in Wirklichkeit nicht der Katholizismus ist, der das Zentrum zusammenhält, sondern der Preußenhaß. Es setzt sich zusammen aus lauter preußenfeindlichen Elementen, die in den katholischen Gegenden selbstredend am stärksten sind: aus rheinischen Bauern, Kleinbürgern und Arbeitern, aus Süddeutschen, aus hannoverschen und westfälischen Katholiken; um es gruppieren sich die übrigen bürgerlichen und bäuerlichen antipreußischen Elemente: die Welfen und andre Partikularisten, die Polen, die Elsässer. An dem Tage, wo das Zentrum Regierungspartei wird, zerfällt es in ein junkerlich-zünftlerisch-reaktionäres Stück und in ein bäuerlich-demokratisches Stück; und die Herren vom ersten Stück wissen, daß sie sich dann nicht wieder vor ihren Wählern zeigen dürfen. Trotzdem wird der Versuch gemacht werden, trotzdem wird die Majorität des Zentrums ihm entgegenkommen. Und das kann uns nur recht sein. Die spezifisch antipreußische, katholische Partei war selbst ein Produkt der Ära Bismarck, der Herrschaft des spezifischen Preußentums. Fällt diese, so gebührt sich, daß auch jene fällt.

Auf eine momentane Allianz des Zentrums und der Regierung dürfen wir also rechnen. Aber das Zentrum besteht nicht aus Nationalliberalen - im Gegenteil, es ist die erste Partei, die aus dem Kampf mit Bismarck siegreich hervorgegangen, die ihn nach Canossa gebracht hat. Ein Kartell wird's also keinenfalls, und nur ein neues Kartell kann Bismarck brauchen.

|9| Was wird's denn? Auflösung, Neuwahl, Appell an die Angst vor der sozialdemokratischen Hochflut? Dazu ist's auch zu spät. Wollte Bismarck das, dann durfte er sich auch nicht für einen Augenblick mit seinem neuen Kaiser |Wilhelm II.| entzweien und noch weniger diesen Zwist an die große Glocke hängen.

Solange der alte Wilhelm lebte, stand die Unbesiegbarkeit des Triumvirats Bismarck, Moltke, Wilhelm in den Augen des deutschen Philisters unerschütterlich fest. Jetzt aber ist Wilhelm gegangen, Moltke gegangen worden, und Bismarck schwankt, soll er gegangen werden oder selber gehn. Und der junge Wilhelm, der an die Stelle des alten getreten, hat durch seine ganze kurze Regierung, namentlich aber durch seine famosen Erlasse bewiesen, daß ein solides bürgerliches Philisterium sich unmöglich auf ihn verlassen kann, und ebenso, daß er sich nicht hausmeiern lassen will. Der Mann, an den der Philister glaubt, hat die Macht nicht mehr, und der Mann, der die Macht hat, an den kann der Philister nicht glauben. Das alte Vertrauen an die Ewigkeit der 1871 begründeten inneren Reichsordnung ist hin, keine Macht der Erde kann es wiederherstellen. Die letzte Stütze der bisherigen Politik, der Philister, ist wankend geworden. Und da soll eine Auflösung helfen?

Ein Staatsstreich? Aber der entbindet nicht nur das Volk, der entbindet auch die Reichsfürsten von ihrem Gehorsam gegen die dann gebrochene Reichsverfassung; der bedeutet Sprengung des Reichs.

Ein Krieg? Den anzufangen ist kinderleicht. Aber was aus dem einmal angefangenen wird, das spottet jeder Berechnung. Geht Krösus über den Halys oder Wilhelm über den Rhein, so wird er ein großes Reich vernichten - aber welches? Sein eigenes oder das feindliche? Der Friede besteht ja nur noch dank der nie endenden Revolution der Waffentechnik, die niemand kriegsbereit werden läßt, und dank der Angst aller vor den absolut unberechenbaren Chancen des jetzt allein noch möglichen Weltkriegs.

Nur eines kann helfen: ein durch Regierungsbrutalität provozierter, mit doppelter und dreifacher Brutalität niedergeschlagener Aufstand, allgemeiner Belagerungszustand und Neuwahl unter dem Schrecken. Auch das könnte nur ein paar Jahre Galgenfrist erwirken. Aber es ist das einzige Mittel - und wir wissen, daß Bismarck zu den Leuten gehört, denen jedes Mittel recht ist. Und hat nicht auch Wilhelm gesagt: Beim geringsten Widerstand lasse ich alles über den Haufen schießen? Und daher wird dieses Mittel sicher angewandt.

|10| Die deutschen sozialdemokratischen Arbeiter haben soeben einen Triumph erfochten, wie ihre zähe Standhaftigkeit, ihre eiserne Disziplin, ihr heitrer Humor im Kampf, ihre Unermüdlichkeit ihn nicht anders verdient haben, der aber wohl ihnen selbst unerwartet gekommen ist und der die Welt in Erstaunen versetzt hat. Mit der Unwiderstehlichkeit eines Naturprozesses ist der Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen bei jeder Neuwahl vor sich gegangen; Vergewaltigung, Polizeiwillkür, richterliche Niedertracht, alles prallte wirkungslos ab, vorwärts und immer rascher vorwärts bewegte sich die stets anschwellende Angriffskolonne, bis sie jetzt dasteht, die zweitstärkste Partei im Reich. Und da sollten die deutschen Arbeiter sich ihr eigenes Spiel verderben, indem sie sich zu einem aussichtslosen Putsch verleiten ließen, einzig und allein, um Bismarck aus der Todesnot zu erretten? In dem Augenblick, wo ihre eigene, über alles Lob erhabene Tapferkeit unterstützt wird durch das Zusammenwirken aller äußeren Umstände, wo die ganze gesellschaftliche und politische Lage, wo sogar alle ihre Feinde für die Sozialdemokratie arbeiten müssen, als würden sie von ihr bezahlt - in dem Augenblick sollte die Disziplin, die Selbstbeherrschung versagen und wir selbst uns in das vorgehaltene Schwert stürzen? Nimmermehr. Dazu hat das Sozialistengesetz unsere Arbeiter zu gut eingeschult, dazu haben wir viel zuviel alte Soldaten in unsern Reihen, und unter ihnen zu viele, die Gewehr bei Fuß im Kugelregen ausharren gelernt haben, bis der Augenblick reif für den Angriff.

Friedrich Engels


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