MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1888

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 466/467.
Korrektur:    1
Erstellt:    20.03.1999

Friedrich Engels

[Aus den Reiseeindrücken über Amerika]

Geschrieben Ende September 1888.
Nach der Handschrift.


|466| Wir stellen uns in der Regel Amerika als eine neue Welt vor - neu nicht nur nach der Zeit ihrer Entdeckung, sondern auch in allen ihren Einrichtungen, weit voraus vor uns altfränkischen schlafmützigen Europäern durch Verachtung alles Ererbten und Altherkömmlichen, eine Welt, von Grund aus neu aufgebaut auf jungfräulichen Boden, durch moderne Menschen allein nach modernen, praktischen, rationellen Grundsätzen. Und die Amerikaner tun das ihrige, uns in dieser Meinung zu bestärken. Sie sehn mit Verachtung herab auf uns als bedenksame, in allerlei überkommnen Vorurteilen befangne, unpraktische Leute, die vor allem Neuen Angst haben, während sie, die am meisten voranstürmende Nation (the most go-ahead nation) jeden neuen Verbesserungsvorschlag einfach auf seinen praktischen Nutzen prüfen und, wenn einmal als gut erkannt, sofort und fast über Nacht einführen. In Amerika sollte aber alles neu, alles rationell, alles praktisch, also alles anders sein als bei uns.

Auf dem Dampfer "City of Berlin" kam ich zum ersten Mal mit einer größeren Zahl Amerikaner zusammen. Es waren meist recht nette Leute, Herren und Damen, leichter zugänglich als Engländer, manchmal etwas gradeaus in der Sprache, sonst aber ziemlich wie die besser gekleideten Leute anderswo auch. Was sie allenfalls unterschied, war ein eigentümlich kleinbürgerlicher Habitus - nicht der des zaghaften, unsichern deutschen Kleinbürgers, auch nicht der des englischen; ein Habitus, der eben durch die große Sicherheit, mit der er sich gab, als ob es sich ganz von selbst verstände, sich als eine ererbte Eigenschaft kundgab. Die jüngeren Damen besonders machten den Eindruck einer gewissen Naivetät, wie man sie in Europa nur in kleineren Städten findet; wenn sie zu zweien Arm in Arm oder am Arm eines Manns resolut und fast heftig über das Deck dahinstürmten, hatten sie ganz denselben hüpfenden Gang und hielten ihre vom Wind bedrohten Röckchen mit demselben sittsamen Griff zusammen wie |467| auch bei uns die Unschuld vom Lande. Sie erinnerten mich zumeist an Schwedinnen - sie waren auch groß und robust wie diese - und ich erwartete jeden Augenblick, sie würden knicksen, wie die Schwedinnen tun. Von der körperlichen und geistigen Ungelenkigkeit, die das allgemeine Erbteil der germanischen Race ist, hatten meine amerikanischen Reisegefährten ebenfalls ihr Teil überkommen und keineswegs überwunden. Kurz, mein erster Eindruck von den Amerikanern war keineswegs der der nationalen Überlegenheit über die Europäer, keineswegs der eines ganz neuen, jungen Nationaltypus, sondern im Gegenteil der, daß sie Leute waren, die noch an ererbten kleinbürgerlichen Gewohnheiten festhielten, die in Europa für veraltet gelten, daß wir Europäer in dieser Beziehung ihnen gegenüberstehn wie die Pariser den Provinzialen.

Als ich in New York in mein erstes Schlafzimmer trat, was fand ich? Möbel der altfränkischsten Form, die man sich denken kann, Kommoden mit messingnen Ringen oder Bügeln als Griffe an den Schubladen, wie sie anfangs dieses Jahrhunderts Mode waren und in Europa nur noch auf dem Lande vorkommen; daneben neuere Formen nach englischem oder französischem Muster, aber auch diese schon bejahrt genug und meist am unrechten Platz; nichts Neues, seitdem der kolossale Schaukelstuhl, der einen Bogen von 240 Grad beschrieb, wieder außer Mode gekommen. Und so überall, die Stühle, Tische und Schränke sehn meist wie Erbstücke vergangener Geschlechter aus. Die Karren auf den New-Yorker Straßen haben ein so veraltetes Aussehn, daß man auf den ersten Blick meint, kein europäischer Bauerhof habe noch ein solches Modell eines Leiterwagens aufzuweisen. Bei näherer Betrachtung findet man zwar, daß diese Karren sehr verbessert, sehr zweckmäßig eingerichtet, mit vortrefflichen Springfedern versehn und von sehr starkem Holz äußerst leicht gebaut sind, aber bei allen diesen Verbesserungen blieb das altmodische Modell unangetastet. In London gab es noch im Anfang der 40er Jahre Droschken, wo die Leute hinten einstiegen und rechts und links, wie im Omnibus, einander gegenüber saßen; seit 1850 sind sie verschwunden; in Boston dagegen, meines Wissens der einzigen amerikanischen Stadt, wo Droschken in wirklichem Gebrauch sind, florieren diese Rumpelkasten noch heute. Die amerikanischen Gasthöfe von heute, mit ihrer luxuriösen Einrichtung und ihren Hunderten von Zimmern, zeigen in ihrem ganzen american plan, daß sie herausgewachsen sind aus dem abgelegnen Bauerhof in dünnbevölkerter Gegend, der noch heute gelegentlich dem Reisenden Obdach und Nahrung gegen Vergütung |468| spendet - ich komme darauf zurück -, und weisen daher Eigentümlichkeiten auf, die uns nicht nur sonderbar, sondern gradezu altfränkisch vorkommen. Und so weiter.

Wer aber den Genuß einer Reise haben will, wie man sie in Europa zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs machen mußte, der gehe in eine amerikanische Gebirgsgegend ans Ende der letzten Eisenbahn und fahre mit der Landkutsche weiter hinaus in die Wildnis. Unser vier haben eine solche Tour in den Adirondacks gemacht und selten so gelacht wie auf dem Dach jener Kutsche. Ein alter Rumpelkasten, gegen den die berühmten preußischen Beiwagen von Olims Zeit noch Prachtwagen sind, von einem unbeschreiblichen Modell, mit Sitzen - sie sind danach - für sechs bis neun Personen oben auf Dach und Bock, das war das Gefährt. Und nun die Straße - ich bitte um Entschuldigung, es war keine Straße, auch einen Weg kann man's kaum nennen; zwei tief ausgefahrne Geleise in sandigem Lehm, bergauf, bergab ... |Hier bricht die Handschrift ab|