MLWerke Marx/Engels - Werke

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 405-461.
Korrektur:    1
Erstellt:    20.03.1999

Friedrich Engels

Die Rolle der Gewalt in der Geschichte

Geschrieben Ende Dezember 1887 bis März 1888.
Nach der Handschrift.
Der Teil, für den die entsprechenden Seiten der Handschrift fehlen, wird nach dem in der "Neuen Zeit", Nr. 25, 14. Jahrgang, 1. Band, 1895-1896, S. 722-776, veröffentlichten Text gebracht.


Entwurf des Vorworts
Gliederung des vierten Kapitels
Gliederung des Schlußteils des vierten Kapitels

|407| Wenden wir nun unsre Theorie an auf die deutsche Geschichte von heute und ihre Gewaltspraxis von Blut und Eisen. Wir werden daraus klar ersehen, weshalb die Politik von Blut und Eisen zeitweilig Erfolg haben mußte und weshalb sie schließlich zugrunde gehn muß.

Der Wiener Kongreß hatte 1815 Europa in einer Weise verteilt und verschachert, die die totale Unfähigkeit der Potentaten und Staatsmänner vor aller Welt klarlegte. Der allgemeine Völkerkrieg gegen Napoleon war der Rückschlag des bei allen Völkern von Napoleon mit Füßen getretenen Nationalgefühls. Zum Dank dafür traten die Fürsten und Diplomaten des Wiener Kongresses dies Nationalgefühl noch schnöder unter die Füße. Die kleinste Dynastie galt mehr als das größte Volk. Deutschland und Italien wurden wieder in Kleinstaaten zersplittert, Polen wurde zum vierten Mal geteilt, Ungarn blieb unterjocht. Und man kann nicht einmal sagen, daß den Völkern Unrecht geschah, warum ließen sie sich's gefallen, und warum hatten sie im russischen Zaren |Alexander I.| ihren Befreier begrüßt?

Aber das konnte nicht dauern. Seit dem Ausgang des Mittelalters arbeitet die Geschichte auf die Konstituierung Europas aus großen Nationalstaaten hin. Solche Staaten allein sind die normale politische Verfassung des europäischen herrschenden Bürgertums und sind ebenso unerläßliche Vorbedingung zur Herstellung des harmonischen internationalen Zusammenwirkens der Völker, ohne welches die Herrschaft des Proletariats nicht bestehn kann. Um den internationalen Frieden zu sichern, müssen vorerst alle vermeidlichen nationalen Reibungen beseitigt, muß jedes Volk unabhängig und Herr im eignen Hause sein. Mit der Entwicklung des Handels, des Ackerbaus, der Industrie und damit der sozialen Machtstellung der Bourgeoisie hob sich also überall das Nationalgefühl, verlangten die zersplitterten und unterdrückten Nationen Einheit und Selbständigkeit.

|408| Die Revolution von 1848 war daher überall außerhalb Frankreichs auf Befriedigung ebensosehr der nationalen wie der freiheitlichen Forderungen gerichtet. Aber hinter der im ersten Anlauf siegreichen Bourgeoisie erhob sich überall schon die drohende Gestalt des Proletariats, das den Sieg in Wirklichkeit erkämpft hatte, und trieb die Bourgeoisie in die Arme der eben besiegten Gegner - der monarchischen, bürokratischen, halbfeudalen und militärischen Reaktion, der die Revolution 1849 erlag. In Ungarn, wo dies nicht der Fall war, marschierten die Russen ein und warfen die Revolution nieder. Damit nicht zufrieden, kam der russische Zar |Nikolaus I.| nach Warschau und saß dort zu Gericht als Schiedsrichter von Europa. Er ernannte den Glücksburger Christian, seine fügsame Kreatur, zum Thronfolger Dänemarks. Er demütigte Preußen, wie es noch nie gedemütigt worden, indem er ihm selbst die schwächsten Gelüste auf Ausbeutung deutscher Einheitsbestrebungen verbot und es zwang, den Bundestag wiederherzustellen und sich Östreich zu unterwerfen. Das ganze Resultat der Revolution, auf den ersten Blick, schien also zu sein, daß in Östreich und Preußen nach konstitutioneller Form, aber im alten Geist, regiert wurde und daß der russische Zar Europa mehr beherrschte als je zuvor.

In Wirklichkeit aber hatte die Revolution das Bürgertum auch der zerstückelten Länder, und namentlich Deutschlands, mächtig aus dem alten ererbten Schlendrian aufgerüttelt. Es hatte einen, wenn auch bescheidnen, Anteil an der politischen Macht bekommen; und jeder politische Erfolg der Bourgeoisie wird ausgebeutet in einem industriellen Aufschwung. Das "tolle Jahr", das man glücklich hinter sich hatte, bewies dem Bürgertum handgreiflich, daß es mit der alten Lethargie und Schlafmützigkeit jetzt ein für allemal ein Ende nehmen müsse. Infolge des kalifornischen und australischen Goldregens und andrer Umstände trat eine Ausdehnung der Weltmarktsverbindungen und ein Aufschwung der Geschäfte ein wie noch nie vorher; es galt, hier anzufassen und sich seinen Anteil zu sichern. Die Anfänge großer Industrie, die seit 1830 und namentlich seit 1840 am Rhein, in Sachsen, in Schlesien, in Berlin und in einzelnen Städten des Südens entstanden, wurden jetzt rasch fortgebildet und erweitert, die Hausindustrie der Landbezirke dehnte sich mehr und mehr aus, der Eisenbahnbau wurde beschleunigt, und die bei alledem enorm steigende Auswanderung schuf eine deutsche transatlantische Dampfschiffahrt, die keiner Subvention bedurfte. Mehr als je vorher setzten sich deutsche Kaufleute in allen überseeischen Handelsplätzen fest, vermittelten einen immer größeren Teil des |409| Welthandels und fingen allmählich an, den Absatz nicht nur englischer, sondern auch deutscher Industrieprodukte zu vermitteln.

Dieser sich mächtig hebenden Industrie und dem sich an sie knüpfenden Handel aber mußte die deutsche Kleinstaaterei mit ihren vielfachen verschiednen Handels- und Gewerbegesetzgebungen bald eine unerträgliche Fessel werden. Alle paar Meilen weit ein andres Wechselrecht, andre Bedingungen bei Ausübung eines Gewerbes, überall, aber überall andre Schikanen, bürokratische und fiskalische Fußangeln, ja oft noch Zunftschranken, gegen die nicht einmal eine Konzession half! Und dazu die vielen verschiednen Heimatgesetzgebungen und Aufenthaltsbeschränkungen, die es den Kapitalisten unmöglich machten, disponible Arbeitskräfte in genügender Zahl auf die Punkte zu werfen, wo Erz, Kohle, Wasserkraft und andre Naturbegünstigung die Anlage von industriellen Unternehmungen gebot! Die Fähigkeit, die massenhafte Arbeitskraft des Vaterlands ungehindert auszubeuten, war die erste Bedingung der industriellen Entwicklung; überall aber, wo der patriotische Fabrikant Arbeiter von allen Enden zusammenzog, stemmte sich Polizei und Armenverwaltung gegen die Niederlassung der Zuzügler. Ein deutsches Reichsbürgerrecht und volle Freizügigkeit für alle Reichsbürger, eine einheitliche Handels- und Gewerbegesetzgebung, das waren nicht mehr patriotische Phantasien überspannter Studenten, das waren jetzt notwendige Lebensbedingungen der Industrie.

Dazu in jedem Staat und Stätchen andres Geld, andres Maß und Gewicht, oft genug zweierlei und dreierlei im selben Staat. Und von allen diesen zahllosen Gattungen von Münze, Maß oder Gewicht wurde keine einzige auf dem Weltmarkt anerkannt. Was Wunder also, daß Kaufleute und Fabrikanten, die auf dem Weltmarkt verkehrten oder mit importierten Artikeln zu konkurrieren hatten, zu all den vielen Münzen, Maßen und Gewichten auch noch ausländische anwenden mußten, daß baumwollne Garne nach englischen Pfunden gehaspelt, seidne Zeuge nach Meterlänge angefertigt, Rechnungen fürs Ausland in Pfund Sterling, Dollars, Francs ausgestellt wurden? Und wie sollten große Kreditinstitute zustande kommen auf diesen beschränkten Währungsgebieten, mit Banknoten in Gulden hier, in preußischen Talern dort, daneben Taler Gold, Taler "Neue Zweidrittel", Mark Banco, Mark Kurant, Zwanzigguldenfuß, Vierundzwanzigguldenfuß, bei endlosen Kursberechnungen und Kursschwankungen?

Und wenn es gelang, dies alles schließlich zu überwinden, wieviel Kraft war bei allen diesen Reibungen draufgegangen, wieviel Geld und Zeit war verloren! Und man fing endlich auch in Deutschland an zu merken, daß heutzutage Zeit Geld ist.

|410| Auf dem Weltmarkt hatte sich die junge deutsche Industrie zu bewähren, nur durch die Ausfuhr konnte sie groß werden. Dazu gehörte, daß sie in der Fremde den Schutz des Völkerrechts genoß. Der englische, französische, amerikanische Kaufmann konnte im Ausland sich immer noch etwas mehr erlauben als zu Hause. Seine Gesandtschaft trat für ihn ein und im Notfall auch ein paar Kriegsschiffe. Aber der Deutsche! In der Levante konnte wenigstens der Östreicher sich einigermaßen auf seine Gesandtschaft verlassen, sonst half sie ihm auch nicht viel. Wo aber ein preußischer Kaufmann in der Fremde sich bei seinem Gesandten über widerfahrene Unbill beklagte, da hieß es fast immer: "Das geschieht Euch ganz recht, was habt Ihr hier zu suchen, warum bleibt Ihr nicht hübsch zu Hause?" Der Kleinstaatler vollends war überall erst recht rechtlos. Wohin man kam, standen die deutschen Kaufleute unter fremdem, französischem, englischem, amerikanischem Schutz oder hatten sich in der neuen Heimat schleunigst naturalisieren lassen.|1| Und selbst wenn ihre Gesandten sich hätten für sie verwenden wollen, was hätte es genützt? Die deutschen Gesandten selbst wurden über See behandelt wie die Schuhputzer.

Man sieht hieraus, wie das Verlangen nach einem einheitlichen "Vaterland" einen sehr materiellen Hintergrund besaß. Es war nicht mehr der nebelhafte Drang wartburgsfestlicher Burschenschafter, "wo Mut und Kraft in deutschen Seelen flammten", und wo es nach einer französischen Melodie "den Jüngling fortriß mit Sturmeswehn, fürs Vaterland in Kampf und Tod zu gehn", um die romantische Kaiserherrlichkeit des Mittelalters wiederherzustellen, und wo der sturmeswehende Jüngling auf seine alten Tage ein ganz gemeiner pietistischer und absolutistischer Fürstenknecht wurde. Es war auch nicht mehr der der Erde schon bedeutend nähergekommene Einheitsruf der Advokaten und sonstigen bürgerlichen Ideologen des Hambacher Festes, die die Freiheit und Einheit um ihrer selbst willen zu lieben glaubten und gar nicht merkten, daß die Verschweizerung Deutschlands zu einer Kantönlirepublik, auf die das Ideal der am wenigsten Unklaren unter ihnen hinauslief, ebenso unmöglich war wie das hohenstaufische Kaisertum jener Studenten. Nein, es war das aus der unmittelbaren Geschäftsnot hervorbrechende Begehren des praktischen Kaufmanns und Industriellen nach Wegfegung all des historisch überkommenen kleinstaatlichen Plunders, der der freien Entfaltung von Handel und Gewerbe im Wege stand, nach Beseitigung all der überflüssigen Reibung, die der deutsche Geschäftsmann erst zu Hause überwinden mußte, |411| wenn er den Weltmarkt betreten wollte, und deren alle seine Konkurrenten überhoben waren. Die deutsche Einheit war eine wirtschaftliche Notwendigkeit geworden. Und die Leute, die sie jetzt forderten, wußten, was sie wollten. Sie waren im Handel und zum Handel auferzogen, verstanden zu handeln und ließen mit sich handeln. Sie wußten, daß man recht hoch fordern, aber auch liberal ablassen muß. Sie sangen von "des Deutschen Vaterland", darin auch Steierland, Tirol und "das Östreich, an Ehren und an Siegen reich", und:

"Von der Maas bis an die Memel,
von der Etsch bis an den Belt,
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt" -

aber sie waren bereit, auf dieses immer größer sein müssende Vaterland einen recht beträchtlichen Rabatt für bare Zahlung - 25 bis 30% zu bewilligen. Ihr Einheitsplan war gemacht und sofort praktikabel.

Die deutsche Einheit war aber keine bloß deutsche Frage. Seit dem Dreißigjährigen Krieg war keine einzige gemeindeutsche Angelegenheit mehr entschieden worden ohne die sehr fühlbare Einmischung des Auslands.|2| Friedrich II. hatte 1740 Schlesien erobert mit Hülfe der Franzosen. Frankreich und Rußland hatten 1803 die Reorganisation des Heiligen Römischen Reichs durch den Reichsdeputationshauptschluß buchstäblich diktiert. Dann hatte Napoleon Deutschland nach seiner Konvenienz eingerichtet. Und endlich, auf dem Wiener Kongreß |3|, war es aufs neue, hauptsächlich durch Rußland und in zweiter Linie durch England und Frankreich, in sechsunddreißig Staaten mit über zweihundert besondern großen und kleinen Landfetzen zersplittert worden, und die deutschen Dynasten, ganz wie 1802/1803 auf dem Regensburger Reichstag, hatten dabei redlich mitgeholfen und die Zersplitterung noch ärger gemacht. Zudem waren einzelne Stücke von Deutschland fremden Fürsten überliefert. So war Deutschland nicht nur machtlos und hülflos, in innerem Hader sich aufreibend, politisch, militärisch und selbst industriell zur Nichtigkeit verdammt. Sondern, was noch weit schlimmer, Frankreich und Rußland hatten durch wiederholten Brauch ein Recht erworben auf die Zersplitterung Deutschlands, ganz wie Frankreich und Östreich ein Recht sich anmaßten, darüber zu wachen, daß Italien zerstückelt blieb. Es war dies angebliche Recht, das der Zar Nikolaus 1850 geltend gemacht hatte, indem er, jede eigenmächtige Verfassungs- |412| änderung sich gröblichst verbittend, die Wiederherstellung des Bundestags, dieses Ausdrucks der Ohnmacht Deutschlands, erzwang.

Die Einheit Deutschlands mußte also erkämpft werden nicht nur gegen die Fürsten und sonstigen inneren Feinde, sondern auch gegen das Ausland. Oder aber - mit Hülfe des Auslands. Und wie stand es damals im Ausland?

In Frankreich hatte Louis Bonaparte den Kampf zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse benutzt, um sich mit Hülfe der Bauern in die Präsidentschaft und mit Hülfe der Armee auf den Kaiserthron zu schwingen. Aber ein neuer, von der Armee gemachter Kaiser Napoleon innerhalb der Grenzen des Frankreichs von 1815 - das war ein totgebornes Unding. Das wiedergeborne napoleonische Kaiserreich, das hieß die Ausdehnung Frankreichs bis an den Rhein, die Verwirklichung des erblichen Traums des französischen Chauvinismus. Zunächst aber war der Rhein für Louis Bonaparte nicht zu haben; jeder Versuch in dieser Richtung hätte eine europäische Koalition gegen Frankreich zur Folge gehabt. Dagegen bot sich eine Gelegenheit, die Machtstellung Frankreichs zu heben und der Armee neue Lorbeeren zuzuwenden durch einen im Einklang mit fast ganz Europa geführten Krieg gegen Rußland, das die revolutionäre Periode Westeuropas benutzt hatte, um in aller Stille die Donaufürstentümer zu besetzen und einen neuen türkischen Eroberungskrieg vorzubereiten. England verband sich mit Frankreich, Östreich war beiden günstig, nur das heroische Preußen küßte die russische Rute, die es gestern noch gezüchtigt, und blieb in russenfreundlicher Neutralität. Aber weder England noch Frankreich wollten eine ernstliche Besiegung des Gegners, und so endete der Krieg in einer sehr gelinden Demütigung Rußlands und in einer russisch-französischen Allianz gegen Östreich.(1)

|413| Der Krimkrieg machte Frankreich zur leitenden Macht Europas und den Abenteurer Louis-Napoleon zum größten Mann des Tages, was freilich nicht viel sagen will. Aber der Krimkrieg hatte Frankreich keinen Gebietszuwachs gebracht und trug daher in seinem Schoß einen neuen Krieg, worin Louis-Napoleon seinen wahren Beruf erfüllen sollte als "Mehrer des Reichs". Dieser neue Krieg war schon während des ersten eingefädelt worden, indem Sardinien erlaubt wurde, sich der westmächtlichen Allianz anzuschließen als Satellit des kaiserlichen Frankreichs und speziell als sein Vorposten gegen - Östreich; er wurde weiter vorbereitet beim Friedensschluß durch das Einverständnis Louis-Napoleons mit Rußland, dem nichts genehmer war als eine Züchtigung Östreichs.

Louis-Napoleon war jetzt der Abgott der europäischen Bourgeoisie. Nicht nur wegen seiner "Gesellschaftsrettung" vom 2. Dezember 1851, wo er zwar die politische Herrschaft der Bourgeoisie vernichtet, aber nur um ihre soziale Herrschaft zu retten. Nicht nur weil er gezeigt, wie das allgemeine Stimmrecht unter günstigen Umständen in ein Werkzeug zur Unterdrückung der Massen verwandelbar sei; nicht nur weil unter seiner Herrschaft Industrie und Handel und namentlich Spekulation und Börsenschwindel einen nie gekannten Aufschwung genommen. Sondern vor allem, weil die Bourgeoisie in ihm den ersten "großen Staatsmann" erkannte, der Fleisch von ihrem Fleisch, Bein von ihrem Bein war. Er war Emporkömmling, wie jeder echte Bourgeois auch. "In allen Wassern gewaschen", |414| karbonaristischer Verschwörer in Italien, Artillerieoffizier in der Schweiz, verschuldeter vornehmer Lumpazivagabundus und Spezial-Konstabler in England, aber stets und überall Prätendent, hatte er sich durch eine abenteuerliche Vergangenheit und durch moralische Bloßstellung in allen Ländern zum Kaiser der Franzosen und Leiter der Geschicke Europas vorbereitet, wie der Musterbourgeois, der Amerikaner, durch eine Reihe ehrlicher und betrügerischer Bankerotte sich vorbereitet zum Millionär. Als Kaiser machte er nicht nur die Politik dem kapitalistischen Erwerb und dem Börsenschwindel dienstbar, sondern betrieb auch die Politik selbst ganz nach den Grundsätzen der Fondsbörse und spekulierte auf das "Nationalitätsprinzip". Die Zersplitterung Deutschlands und Italiens war der bisherigen französischen Politik ein unveräußerliches Grundrecht Frankreichs gewesen; Louis-Napoleon schickte sich sofort an, dies Grundrecht stückweise zu verschachern gegen sogenannte Kompensationen. Er war bereit, Italien und Deutschland zur Beseitigung der Zersplitterung behülflich zu sein, vorausgesetzt, daß Deutschland und Italien jeden Schritt zur nationalen Einigung hin ihm bezahlten mit der Abtretung von Gebiet. Damit wurde nicht nur der französische Chauvinismus befriedigt und das Kaiserreich allmählich auf die Grenzen von 1801 gebracht, sondern Frankreich auch wieder als die spezifisch aufgeklärte und völkerbefreiende Macht und Louis-Napoleon als der Beschützer der unterdrückten Nationalitäten hingestellt. Und die ganze aufgeklärte und nationalitätsbegeisterte - weil bei der Hinwegräumung aller Geschäftshindernisse vom Weltmarkt lebhaft interessierte - Bourgeoisie jubelte dieser weltbefreienden Aufklärung einstimmig zu.

Der Anfang wurde in Italien gemacht.|4| Hier herrschte seit 1849 Östreich unbeschränkt, und Östreich war damals der allgemeine Sündenbock Europas. Die Magerkeit der Resultate des Krimkriegs wurden nicht der Unentschlossenheit der Westmächte zugeschoben, die nur einen Scheinkrieg gewollt, sondern der unentschiednen Haltung Östreichs, an der niemand mehr schuld gewesen als die Westmächte selbst. Rußland aber war durch den Vormarsch der Östreicher an den Pruth - den Dank für die russische Hülfe in Ungarn 1849 - so verletzt (obwohl grade dieser Vormarsch Rußland gerettet), daß es jeden Angriff auf Östreich mit Freuden sah. Preußen zählte nicht mehr und wurde schon auf dem Pariser Friedenskongreß en canaille behandelt. Und so wurde der Krieg zur Befreiung Italiens "bis zur Adria" mit Rußlands Mitwirkung eingefädelt, im Frühjahr 1859 |415| unternommen und im Sommer schon am Mincio beendigt. Östreich war nicht aus Italien hinausgeworfen, Italien war nicht "frei bis zur Adria" und nicht geeinigt, Sardinien hatte Zuwachs erhalten, aber Frankreich hatte Savoyen und Nizza erworben und damit, gegen Italien, die Grenzen von 1801.

Aber damit waren die Italiener nicht zufrieden. In Italien herrschte damals noch die eigentliche Manufaktur vor, die große Industrie war noch in den Windeln. Die Arbeiterklasse war noch bei weitem nicht durchgängig expropriiert und proletarisiert; in den Städten besaß sie noch ihre eignen Produktionsmittel, auf dem Lande war die industrielle Arbeit Nebenerwerb kleiner grundbesitzender oder pachtender Bauern. Daher war die Energie der Bourgeoisie noch nicht gebrochen durch den Gegensatz gegen ein modernes klassenbewußtes Proletariat. Und da in Italien die Zersplitterung nur durch die östreichische Fremdherrschaft bestand, unter deren Schutz die Fürsten die Mißregierung bis aufs äußerste getrieben, so stand auch der großgrundbesitzende Adel und die städtische Volksmasse auf Seite der Bourgeoisie als der Vorkämpferin der nationalen Unabhängigkeit. Die Fremdherrschaft aber war 1859, außer in Venetien, abgeschüttelt, ihre fernere Einmischung in Italien durch Frankreich und Rußland unmöglich gemacht, niemand fürchtete sie mehr. Und Italien besaß in Garibaldi einen Helden von antikem Charakter, der Wunder tun konnte und Wunder tat. Mit tausend Freischärlern warf er das ganze Königreich Neapel über den Haufen, einigte Italien tatsächlich, zerriß das künstliche Gewebe bonapartischer Politik. Italien war frei und der Sache nach geeint - aber nicht durch Louis-Napoleons Ränke, sondern durch die Revolution.

Seit dem italienischen Krieg war die auswärtige Politik des zweiten französischen Kaiserreichs niemandem ein Geheimnis mehr. Die Besieger des großen Napoleon sollten gezüchtigt werden - aber l'un après l'autre, einer nach dem andern. Rußland und Östreich hatten ihr Teil erhalten, der nächste an der Reihe war Preußen. Und Preußen war verachteter als je; seine Politik während des italienischen Kriegs war feig und jämmerlich gewesen, ganz wie zur Zeit des Baseler Friedens 1795. Mit der "Politik der freien Hand" war es dahin gekommen, daß es ganz vereinsamt in Europa stand, daß alle seine großen und kleinen Nachbarn sich auf das Schauspiel freuten, wie Preußen in die Pfanne gehauen werde, daß seine Hand frei war nur noch für dies eine: das linke Rheinufer an Frankreich abzutreten.

In der Tat war in den ersten Jahren nach 1859 überall und nirgends mehr als am Rhein selbst die Überzeugung verbreitet, daß das linke Rheinufer unrettbar Frankreich verfallen sei. Man wünschte es nicht grade, aber |416| man sah es kommen wie ein unabwendbares Verhängnis, und - geben wir der Wahrheit die Ehre - man fürchtete es auch nicht eben sehr. Bei den Bauern und Kleinbürgern wurden die alten Erinnerungen an die Franzosenzeit, die wirklich die Freiheit gebracht hatte, wieder wach; von der Bourgeoisie war die Finanzaristokratie, besonders in Köln, schon tief in die Mogeleien des Pariser Crédit mobilier und andrer bonapartistischen Schwindelkompamen verwickelt und schrie laut nach der Annexion.(2)

Aber der Verlust des linken Rheinufers, das war die Schwächung nicht nur Preußens, sondern auch Deutschlands. Und Deutschland war gespaltner als je. Östreich und Preußen einander entfremdeter als je durch Preußens Neutralität im italienischen Krieg, das kleine Fürstengezücht halb ängstlich, halb lüstern nach Louis-Napoleon schielend als dem Protektor eines erneuerten Rheinbunds - das war die Lage des offiziellen Deutschlands. Und das in einem Moment, wo nur die vereinigten Kräfte der ganzen Nation imstande waren, die Gefahr der Zerstückelung abzuwenden.

Wie aber die Kräfte der ganzen Nation einigen? Drei Wege lagen offen, nachdem die fast ausnahmslos nebelhaften Versuche von 1848 gescheitert waren, aber auch eben dadurch manchen Nebel zerstreut hatten.

Der erste Weg war der der wirklichen Einigung durch Beseitigung aller Einzelstaaten, also der offen revolutionäre Weg. Dieser Weg hatte soeben in Italien zum Ziel gefühlt; die savoyische Dynastie hatte sich der Revolution angeschlossen und dadurch die Krone Italiens eingeheimst. Solch kühner Tat aber waren unsre deutschen Savoyer, die Hohenzollern, und selbst ihre verwegensten Cavours à la Bismarck absolut unfähig. Das Volk hätte alles selbst tun müssen - und in einem Krieg um das linke Rheinufer wäre es wohl imstande gewesen, das Nötige zu tun. Der unvermeidliche Rückzug der Preußen über den Rhein, stehender Krieg an den Rheinfestungen, der dann unzweifelhafte Verrat der süddeutschen Fürsten konnten hinreichen, eine nationale Bewegung zu entfachen, vor der die ganze Dynastenwirtschaft zerstob. Und dann war Louis-Napoleon der erste, der den Degen einsteckte. Das zweite Kaiserreich konnte als Gegner nur reaktionäre Staaten gebrauchen, denen gegenüber es als Fortführer der französischen Revolution, als Völkerbefreier erschien. Gegen ein selbst in Revolution begriffenes Volk war es ohnmächtig; ja die siegreiche deutsche Revolution konnte den Anstoß geben zum Sturz des ganzen französischen Kaisertums. |417| Das war der günstigste Fall; im ungünstigsten, wenn die Dynasten der Bewegung Herr wurden, verlor man zeitweilig das linke Rheinufer an Frankreich, legte den aktiven oder passiven Verrat der Dynasten vor aller Welt bloß und schuf eine Zwangslage, worin Deutschland kein andrer Ausweg blieb als die Revolution, die Verjagung sämtlicher Fürsten, die Herstellung der deutschen einheitlichen Republik.

Wie die Dinge lagen, konnte dieser Weg zur Einigung Deutschlands nur betreten werden, wenn Louis-Napoleon den Krieg um die Rheingrenze anfing. Dieser Krieg unterblieb jedoch - aus bald zu erwähnenden Gründen. Damit aber hörte auch die Frage der nationalen Einigung auf, eine unaufschiebbare Lebensfrage zu sein, die gelöst werden mußte von heute auf morgen, bei Strafe des Untergangs. Die Nation konnte einstweilen warten.

Der zweite Weg war die Einigung unter der Vorherrschaft Östreichs. Östreich hatte 1815 die ihm durch die napoleonischen Kriege aufgedrängte Lage eines kompakten, abgerundeten Staatsgebiets willig beibehalten. Seine vormaligen abgetrennten Besitzungen in Süddeutschland beanspruchte es nicht wieder; es begnügte sich mit der Anfügung alter und neuer Landstriche, die sich geographisch und strategisch an den noch übrigen Kern der Monarchie anpassen ließen. Die durch die Schutzzölle Josephs II. eingeleitete, durch die italienische Polizeiwirtschaft Franz' I. verschärfte, durch die Auflösung des Deutschen Reichs und den Rheinbund auf die Spitze getriebne Scheidung Deutsch-Östreichs vom übrigen Deutschland blieb auch nach 1815 faktisch in Kraft. Metternich umgab seinen Staat nach der deutschen Seite hin mit einer förmlichen chinesischen Mauer. Die Zölle hielten die stofflichen, die Zensur die geistigen Produkte Deutschlands draußen, die namenlosesten Paßschikanen beschränkten den persönlichen Verkehr auf das notwendigste Minimum. Im Innern sicherte eine selbst in Deutschland einzig dastehende absolutistische Willkür vor jeder, auch der leisesten, politischen Regung. So hatte Östreich der ganzen bürgerlich-liberalen Bewegung Deutschlands absolut ferngestanden. Mit 1848 fiel wenigstens die geistige Scheidewand großenteils hinweg; aber die Ereignisse jenes Jahrs und ihre Folgen waren wenig geeignet, Östreich dem übrigen Deutschland näherzubringen; im Gegenteil, Östreich pochte mehr und mehr auf seine unabhängige Großmachtsstellung. Und so kam es, daß, obwohl die östreichischen Soldaten der Bundesfestungen beliebt und die preußischen verhaßt und verspottet waren, und obwohl Östreich im ganzen vorwiegend katholischen Süden und Westen noch immer populär und angesehn war, dennoch niemand ernstlich an eine Einigung Deutschlands |418| unter östreichischer Vorherrschaft dachte, außer etwa ein paar deutsche kleine und Mittelstaatsfürsten.

Es konnte auch gar nicht anders sein. Östreich hatte es selbst nicht anders gewollt, trotzdem es in der Stille romantische Kaiserträume großzog. Die östreichische Zollgrenze war mit der Zeit die einzige noch übrige materielle Scheidewand innerhalb Deutschlands geblieben und wurde um so schärfer empfunden. Die unabhängige Großmachtspolitik hatte keinen Sinn, wenn sie nicht die Preisgebung deutscher zugunsten spezifisch östreichischer, also italienischer, ungarischer etc. Interessen bedeutete. Wie vor so nach der Revolution blieb Östreich der reaktionärste, der modernen Strömung am widerwilligsten folgende Staat Deutschlands und dazu - die einzige noch übrige, spezifisch katholische Großmacht. Je mehr die nachmärzliche Regierung die alte Pfaffen- und Jesuitenwirtschaft wiederherzustellen strebte, desto unmöglicher wurde ihr die Hegemonie über ein zu zwei Dritteln protestantisches Land. Und endlich war eine Einigung Deutschlands unter Östreich nur möglich durch Sprengung Preußens. Sowenig aber diese an sich ein Unglück für Deutschland bedeutet, so wäre doch die Sprengung Preußens durch Östreich ebenso unheilvoll gewesen, wie die Sprengung Östreichs durch Preußen sein würde vor dem bevorstehenden Sieg der Revolution in Rußland (nach welchem sie überflüssig wird, weil das dann überflüssig gemachte Östreich von selbst zerfallen muß).

Kurz, die deutsche Einheit unter Östreichs Fittichen war ein romantischer Traum und erwies sich als solcher, als die deutschen Klein- und Mittelfürsten 1863 in Frankfurt zusammentraten, um Franz Joseph von Östreich zum deutschen Kaiser auszurufen. Der König von Preußen blieb einfach weg, und die Kaiserkomödie fiel elend ins Wasser.

Blieb der dritte Weg: die Einigung unter preußischer Spitze. Und dieser, weil wirklich eingeschlagen, führt uns aus dem Gebiet der Spekulation wieder herab auf den solideren, wenn auch ziemlich unflätigen Boden der praktischen, der "Realpolitik".

Seit Friedrich II. sah Preußen in Deutschland wie in Polen ein bloßes Eroberungsgebiet, von dem man nimmt, was man kriegen kann, von dem es sich aber auch von selbst versteht, daß man es mit andern zu teilen hat. Teilung Deutschlands mit dem Ausland - zunächst mit Frankreich - das war der "deutsche Beruf" Preußens seit 1740. "Je vais, je crois, jouer votre jeu; si les as me viennent, nous partagerons" (ich glaube, ich werde Euer Spiel spielen; bekomme ich die Asse, so teilen wir) - das waren Friedrichs Abschiedsworte an den französischen Gesandten |Beaurau|, als er in seinen ersten |421| Krieg zog. Getreu diesem "deutschen Beruf" verriet Preußen 1795 Deutschland im Baseler Frieden, willigte (Vertrag vom 5. August 1796) gegen Zusicherung von Gebietszuwachs im voraus in die Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich und kassierte bei dem von Rußland und Frankreich diktierten Reichsdeputationshauptschluß den Lohn des Reichsverrats auch wirklich ein. 1805 verriet es seine Bundesgenossen Rußland und Östreich nochmals, sobald ihm Napoleon Hannover vorhielt - den Köder, worauf es jedesmal anbiß -, verfing sich aber in seiner eignen Dummschlauheit dermaßen, daß es nun doch in Krieg mit Napoleon kam und bei Jena die verdiente Züchtigung erhielt. Im Nachgefühl dieser Hiebe wollte Friedrich Wilhelm III. selbst nach den Siegen von 1813 und 1814 auf alle westdeutschen Außenposten verzichten, sich auf den Besitz von Nordostdeutschland beschränken, sich, ähnlich wie Östreich, möglichst aus Deutschland zurückziehn - was ganz Westdeutschland in einen neuen Rheinbund unter russischer oder französischer Schutzherrschaft verwandelt hätte. Der Plan gelang nicht; ganz wider den Willen des Königs wurden ihm Westfalen und die Rheinprovinz aufgezwungen und damit ein neuer "deutscher Beruf".

Mit den Annexionen - den Ankauf einzelner winziger Landfetzen ausgenommen - war es jetzt vorderhand vorbei. Im Innern kam allgemach die alte junkerlich-bürokratische Wirtschaft wieder in Flor; die in bittrer Not dem Volk gemachten Verfassungszusagen wurden beharrlich gebrochen. Aber bei alledem kam das Bürgertum auch in Preußen immer mehr auf, denn ohne Industrie und Handel war selbst der hochnäsige preußische Staat jetzt eine Null. Langsam, widerhaarig, in homöopathischen Dosen mußten ökonomische Konzessionen an das Bürgertum gemacht werden. Und nach einer Seite hin boten diese Konzessionen die Aussicht, Preußens "deutschen Beruf" zu unterstützen: indem Preußen, um die fremden Zollgrenzen zwischen seinen beiden Hälften zu beseitigen, die anschließenden deutschen Staaten zur Zolleinigung einlud. So entstand der Zollverein, bis 1830 frommer Wunsch (nur Hessen-Darmstadt war beigetreten), dann aber, bei dem etwas rascheren Tempo der politischen und ökonomischen Bewegung, bald den größten Teil Innerdeutschlands ökonomisch an Preußen annektierend. Die nichtpreußischen Küstenländer blieben bis nach 1848 noch draußen.

Der Zollverein war ein großer Erfolg Preußens. Daß er einen Sieg über den östreichischen Einfluß bedeutete, war noch das wenigste. Die Hauptsache war, daß er das ganze Bürgertum der Mittel- und Kleinstaaten auf Seite Preußens stellte. Sachsen ausgenommen, war kein deutscher Staat vor- |422| handen, dessen Industrie sich nur annähernd in dem Maße entwickelt hatte wie die preußische; und das war nicht allein natürlichen und geschichtlichen Vorbedingungen geschuldet, sondern auch dem größeren Zollgebiet und innern Markt. Und je mehr der Zollverein sich ausbreitete und die Kleinstaaten in diesen innern Markt aufnahm, desto mehr gewöhnten sich die angehenden Bourgeois dieser Staaten, nach Preußen zu blicken als ihrer ökonomischen und dereinst auch politischen Vormacht. Und wie die Bourgeois sangen, so pfiffen die Professoren. Was in Berlin die Hegelianer philosophisch konstruierten, daß Preußen an die Spitze Deutschlands zu treten berufen sei, das demonstrierten in Heidelberg die Schüler Schlossers historisch, namentlich Häusser und Gervinus. Dabei war natürlich vorausgesetzt, daß Preußen sein ganzes politisches System ändre, die Forderungen der Ideologen der Bourgeoisie erfülle.(3)

Alles dies geschah aber nicht aus besondrer Vorliebe für den preußischen Staat, wie etwa die italienischen Bourgeois Piemont als leitenden Staat akzeptierten, nachdem es sich offen an die Spitze der nationalen und konstitutionellen Bewegung gestellt. Nein, es geschah widerwillig, die Bourgeois nahmen Preußen als das kleinste Übel: weil Östreich sie von seinem Markt ausschloß und weil Preußen, verglichen mit Östreich, immer noch einen gewissen bürgerlichen Charakter hatte, schon wegen seiner finanziellen Filzigkeit. Zwei gute Einrichtungen hatte Preußen vor andern Großstaaten voraus: die allgemeine Wehrpflicht und den allgemeinen Schulzwang. Es hatte sie eingeführt in Zeiten verzweifelter Not und hatte sich, in bessern Tagen, damit begnügt, sie durch nachlässige Ausführung und absichtliche Verhunzung ihres unter Umständen gefahrvollen Charakters zu entkleiden. Aber sie bestanden auf dem Papier fort, und damit erhielt sich Preußen die Möglichkeit, die in der Volksmasse schlummernde potentielle Energie eines Tags in einem Grade zu entfalten, der für eine gleiche Volkszahl anderswo unerreichbar blieb. Die Bourgeoisie fand sich in diese beiden Einrichtungen; die persönliche Dienstpflicht der Einjährigen, also der Bourgeoissöhne, war um 1840 leicht und ziemlich wohlfeil durch Bestechung zu umgehn, zumal damals in der Armee selbst nur wenig Wert auf aus kaufmännischen und industriellen Kreisen rekrutierte Landwehroffiziere |423| gelegt wurde. Und die vom Schulzwang noch übrige, unbestreitbar in Preußen vorhandne, größere Anzahl von Leuten mit einer gewissen Summe Elementarkenntnissen war der Bourgeoisie im höchsten Grad nützlich; sie wurde, mit dem Fortschritt der großen Industrie, schließlich sogar ungenügend.(4) Die Klagen über die sich in starken Steuern ausdrückenden hohen Kosten beider Einrichtungen |5| wurden vornehmlich beim Kleinbürgertum laut; die emporkommende Bourgeoisie rechnete sich heraus, daß die allerdings fatalen, aber unvermeidlichen künftigen Großmachtskosten reichlich durch die gesteigerten Profite aufgewogen würden.

Kurz, die deutschen Bourgeois machten sich über die preußische Liebenswürdigkeit keine Illusionen. Wenn seit 1840 die preußische Hegemonie bei ihnen in Ansehn kam, so geschah dies nur, weil und in dem Maß wie die preußische Bourgeoisie, infolge ihrer rascheren ökonomischen Entwicklung, wirtschaftlich und politisch an die Spitze der deutschen Bourgeoisie trat, weil und in dem Maß wie die Rotteck und Welcker des altkonstitutionellen Südens von den Camphausen, Hansemann und Milde des preußischen Nordens, die Advokaten und Professoren von den Kaufleuten und Fabrikanten in den Schatten gestellt wurden. Und in der Tat war in den preußischen Liberalen der letzten Jahre vor 1848, namentlich in den rheinischen, ein ganz anders revolutionärer Hauch zu spüren als in den Kantönli-Liberalen des Südens. Damals entstanden die beiden besten politischen Volkslieder seit dem 16. Jahrhundert, das Lied vom Bürgermeister Tschech und das von der Freifrau von Droste-Vischering, über deren Frevelhaftigkeit sich heute dieselben Leute im Alter entsetzen, die 1846 flott mitsangen:

Hatte je ein Mensch so'n Pech
Wie der Bürgermeister Tschech,
Daß er diesen dicken Mann
Auf zwei Schritt nicht treffen kann!

Aber das sollte alles bald anders werden. Die Februarrevolution kam und die Wiener Märztage und die Berliner Revolution vom 18. März. Die Bourgeoisie hatte gesiegt, ohne ernsthaft zu kämpfen, sie hatte den ernsthaften Kampf, als er kam, gar nicht einmal gewollt. Denn sie, die noch vor |424| kurzem mit dem Sozialismus und Kommunismus jener Zeit kokettiert hatte (am Rhein namentlich), merkte jetzt plötzlich, daß sie nicht nur einzelne Arbeiter gezüchtet hatte, sondern eine Arbeiterklasse, ein zwar noch halb im Traum befangnes, aber doch allmählich erwachendes, seiner innersten Natur nach revolutionäres Proletariat. Und dies Proletariat, das überall den Sieg für die Bourgeoisie erkämpft hatte, stellte, namentlich in Frankreich, bereits Forderungen, die mit dem Bestand der ganzen bürgerlichen Ordnung unvereinbar waren; in Paris kam es zum ersten furchtbaren Kampf zwischen beiden Klassen am 23. Juni 1848; nach viertägiger Schlacht unterlag das Proletariat. Von da an trat die Masse der Bourgeoisie in ganz Europa auf die Seite der Reaktion, verband sich mit den eben erst von ihr mit Hülfe der Arbeiter gestürzten absolutistischen Bürokraten, Feudalen und Pfaffen gegen die Feinde der Gesellschaft, eben dieselben Arbeiter.

In Preußen geschah dies in der Form, daß die Bourgeoisie ihre eignen gewählten Vertreter im Stich ließ und ihrer Zersprengung durch die Regierung im November 1848 mit heimlicher oder offner Freude zusah. Das junkerlich-bürokratische Ministerium, das jetzt an die zehn Jahre lang in Preußen sich breitmachte, mußte zwar in konstitutionellen Formen regieren, rächte sich aber dafür durch ein System kleinlicher, bisher selbst in Preußen unerhörter Schikanen und Plackereien, unter dem niemand mehr zu leiden hatte als die Bourgeoisie. Diese aber war bußfertig in sich gegangen, nahm die herabregnenden Hiebe und Tritte demütig hin als Strafe für ihre einstigen revolutionären Gelüste und lernte jetzt allmählich das denken, was sie später aussprach: Hunde sind wir ja doch!

Da kam die Regentschaft. Um seine Königstreue zu beweisen, hatte Manteuffel den Thronfolger, jetzigen Kaiser |Wilhelm I.|, gradeso mit Spionen umgeben lassen, wie jetzt Puttkamer die Redaktion des "Sozialdemokrat". Als der Thronfolger Regent wurde, erhielt Manteuffel natürlich sofort einen beseitigenden Fußtritt, und die Neue Ära brach an. Es war nur ein Dekorationswechsel. Der Prinzregent geruhte, den Bourgeois zu erlauben, wieder liberal zu sein. Die Bourgeois machten mit Vergnügen Gebrauch von dieser Erlaubnis, bildeten sich aber ein, sie hätten jetzt das Heft in der Hand, der preußische Staat müsse nach ihrer Pfeife tanzen. Das war aber keineswegs die Absicht "in maßgebenden Kreisen", wie der Reptilienstil lautet. Die Armeereorganisation sollte der Preis sein, mit dem die liberalen Bourgeois die Neue Ära bezahlten. Die Regierung verlangte damit nur die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht bis zu dem Grad, der um 1816 |425| üblich gewesen. Vom Standpunkt der liberalen Opposition ließ sich dagegen absolut nichts sagen, das nicht ihren eignen Phrasen von Preußens Machtstellung und deutschem Beruf ebenfalls ins Gesicht geschlagen hätte. Die liberale Opposition knüpfte aber an ihre Bewilligung die Bedingung der gesetzlichen zweijährigen Maximaldienstzeit. Dies war an sich ganz rationell, es frug sich aber, ob diese zu erzwingen sei, ob die liberale Bourgeoisie des Landes bereit sei, für diese Bedingung bis zum äußersten, mit Gut und Blut einzustehn. Die Regierung beharrte fest auf drei Dienstjahren, die Kammer auf zwei; der Konflikt brach aus. Und mit dem Konflikt in der Militärfrage wurde die äußere Politik wieder entscheidend, auch für die innere.

Wir haben gesehn, wie Preußen durch seine Haltung im Krimkrieg und im italienischen Krieg sich um den letzten Rest von Achtung gebracht hatte. Diese jämmerliche Politik fand eine teilweise Entschuldigung im schlechten Zustand der Armee. Da man auch schon vor 1848 ohne ständische Bewilligung keine neuen Steuern auflegen oder Anleihen aufnehmen konnte, aber auch keine Stände dazu einberufen wollte, war nie Geld genug für die Armee vorhanden, und diese verkam unter der grenzenlosen Knickerei gänzlich. Der unter Friedrich Wilhelm III. eingerissene Paraden- und Gamaschengeist tat den Rest. Wie hülflos diese Paradearmee sich 1848 auf den dänischen Schlachtfeldern bewies, kann man beim Grafen Waldersee nachlesen. Die Mobilmachung 1850 war ein vollständiges Fiasko; es fehlte an allem, und was vorhanden, war meist untauglich. Dem war nun zwar durch Geldbewilligung von Seiten der Kammern abgeholfen; die Armee war aus dem alten Schlendrian aufgerüttelt worden, der Felddienst verdrängte, wenigstens großenteils, den Paradedienst. Aber die Stärke der Armee war noch immer dieselbe wie um 1820, während alle andern Großmächte, namentlich Frankreich, von dem grade jetzt die Gefahr drohte, ihre Heeresmacht bedeutend gesteigert hatten. Und dabei bestand in Preußen allgemeine Wehrpflicht; jeder Preuße war Soldat auf dem Papier, während doch die Bevölkerung von 101/2 Millionen (1817) auf 173/4 Millionen (1858) gewachsen war und die Rahmen der Armee nicht hinreichten, mehr als ein Drittel der wehrfähigen Leute aufzunehmen und auszubilden. Jetzt verlangte die Regierung eine Verstärkung der Armee, die fast genau dem seit 1817 eingetretenen Bevölkerungszuwachs entsprach. Aber dieselben liberalen Abgeordneten, die in einem fort von der Regierung verlangten, sie solle an die Spitze Deutschlands treten, Deutschlands Machtstellung nach außen wahren, sein Ansehn unter den Nationen wiederherstellen - diese selben Leute knickerten und schacherten und wollten nichts bewilligen, es sei denn |426| auf Grund der zweijährigen Dienstzeit. Hatten sie denn die Macht, ihren Willen, auf dem sie so hartnäckig bestanden, auch durchzusetzen? Stand denn das Volk oder auch nur die Bourgeoisie hinter ihnen, zum Losschlagen bereit?

Im Gegenteil. Die Bourgeoisie jubelte ihren Redekämpfen gegen Bismarck zu, aber in Wirklichkeit organisierte sie eine Bewegung, die, wenn auch unbewußt, so doch tatsächlich gegen die Politik der preußischen Kammermehrheit gerichtet war. Die Eingriffe Dänemarks in die holsteinische Verfassung, die gewaltsamen Dänisierungsversuche in Schleswig entrüsteten den deutschen Bürger. Von den Großmächten geschurigelt zu werden, das war er gewohnt; aber von dem kleinen Dänemark Fußtritte zu erhalten, das entflammte seinen Zorn. Der Nationalverein wurde gebildet; die Bourgeoisie grade der Kleinstaaten bildete seine Stärke. Und der Nationalverein, durch und durch liberal wie er war, verlangte vor allen Dingen nationale Einigung unter Führung Preußens, eines liberalen Preußens womöglich, eines wie immer beschaffnen Preußens im Notfall. Daß endlich einmal vorangemacht, daß die elende Stellung der Deutschen auf dem Weltmarkt als Menschen zweiter Klasse beseitigt, daß Dänemark gezüchtigt, den Großmächten in Schleswig-Holstein die Zähne gezeigt würden, das war es vor allem, was der Nationalverein forderte. Und dabei war jetzt die Forderung der preußischen Spitze von allen den Unklarheiten und Duseleien befreit, die ihr bis 1850 noch angehaftet hatten. Man wußte ganz genau, daß sie die Hinauswerfung Östreichs aus Deutschland, die tatsächliche Beseitigung der kleinstaatlichen Souveränität bedeute, und daß beides ohne den Bürgerkrieg und ohne Teilung Deutschlands nicht zu haben war. Aber man fürchtete den Bürgerkrieg nicht mehr, und die Teilung zog nur das Fazit aus der östreichischen Zollabsperrung. Die Industrie und der Handel Deutschlands hatten sich zu einer Höhe entwickelt, das Netz deutscher Handelshäuser, das den Weltmarkt umspannte, war so ausgebreitet und so dicht geworden, daß die Kleinstaaterei zu Hause und die Recht- und Schutzlosigkeit im Ausland nicht länger zu ertragen waren. Und während die stärkste politische Organisation, die die deutsche Bourgeoisie je besessen, ihnen dies tatsächliche Mißtrauensvotum gab, feilschten die Berliner Abgeordneten an der Dienstzeit herum!

Das war die Lage, als Bismarck sich anschickte, in die äußere Politik tätig einzugreifen.

Bismarck ist Louis-Napoleon, übersetzt aus dem französischen abenteuernden Kronprätendenten in den preußischen Krautjunker und deutschen Korpsburschen. Ganz wie Louis-Napoleon ist Bismarck ein Mann |427| von großem praktischem Verstand und großer Schlauheit, ein geborner und geriebner Geschäftsmann, der unter andern Umständen auf der New-Yorker Börse den Vanderbilts und Jay Goulds den Rang streitig gemacht hätte, wie er denn auch sein Privatschäfchen hübsch ins trockene gebracht hat. Mit diesem entwickelten Verstand auf dem Gebiet des praktischen Lebens ist aber häufig eine entsprechende Beschränktheit des Gesichtskreises verknüpft, und hierin übertrifft Bismarck seinen französischen Vorgänger. Denn dieser hatte doch seine "napoleonischen Ideen" während seiner Vagabundenzeit sich selbst herausgearbeitet - sie waren auch darnach -, während Bismarck, wie wir sehn werden, nie auch nur die Spur einer eignen politischen Idee zustande brachte, sondern nur die fertigen Ideen andrer sich zurechtkombinierte. Diese Borniertheit war aber grade sein Glück. Ohne sie hätte er es nie fertiggebracht, die ganze Weltgeschichte vom spezifisch preußischen Gesichtspunkt aus sich vorzustellen; und hatte diese seine stockpreußische Weltanschauung ein Loch, wodurch das Tageslicht hineindrang, so war er irr an seiner ganzen Mission, und es war aus mit seiner Glorie. Freilich, als er seine besondre, ihm von außen vorgeschriebne Mission in seiner Weise erfüllt hatte, da war er dann auch am Ende seines Lateins; wir werden sehn, zu welchen Sprüngen er genötigt war infolge seines absoluten Mangels an rationellen Ideen und seiner Unfähigkeit, die von ihm selbst geschaffne geschichtliche Lage zu begreifen.

Wenn Louis-Napoleon durch seine Vergangenheit sich angewöhnt hatte, in der Wahl seiner Mittel wenig Rücksichten zu beobachten, so lernte Bismarck aus der Geschichte der preußischen Politik, namentlich der des sog. großen Kurfürsten |Friedrich Wilhelm| und Friedrichs II., darin noch weniger skrupulös zu verfahren, wobei er sich das erhebende Bewußtsein erhalten konnte, er bleibe hierin der vaterländischen Tradition getreu. Sein Geschäftsverstand lehrte ihn, seine Junkergelüste zurückzudrängen, wo es sein mußte; als dies nicht mehr nötig schien, traten sie wieder grell hervor; es war dies freilich ein Zeichen des Niedergangs. Seine politische Methode war die des Korpsburschen; die burlesk-wörtliche Interpretation des Bierkomments, wodurch man sich auf der Korpskneipe aus der Schlinge zieht, wandte er in der Kammer ganz ungeniert auf die preußische Verfassung an; sämtliche Neuerungen, die er in die Diplomatie eingeführt, sind dem Korpsstudententum entlehnt. Wenn aber Louis-Napoleon oft in entscheidenden Momenten unsicher wurde, wie beim Staatsstreich 1851, wo Morny ihm positiv Gewalt antun mußte, damit er das Angefangne auch durchführe, und wie am |428| Vorabend des Kriegs 1870, wo seine Unsicherheit ihm seine ganze Stellung verdarb, so muß man Bismarck nachsagen, daß ihm das nie passiert ist. Den hat seine Willenskraft nie im Stich gelassen; viel eher schlug sie in offne Brutalität um. Und hierin vor allem liegt das Geheimnis seiner Erfolge. Sämtlichen in Deutschland herrschenden Klassen, Junkern wie Bourgeois, ist der letzte Rest von Energie so sehr abhanden gekommen, es ist im "gebildeten" Deutschland so sehr Sitte geworden, keinen Willen zu haben, daß der einzige Mann unter ihnen, der wirklich noch einen Willen hat, eben dadurch zu ihrem größten Mann und zum Tyrannen über sie alle geworden ist, vor dem sie wider beßres Wissen und Gewissen, wie sie selbst es nennen, bereitwillig "über den Stock springen". Allerdings, im "ungebildeten" Deutschland ist man noch nicht so weit; das Arbeitervolk hat gezeigt, daß es einen Willen hat, mit dem auch der starke Wille Bismarcks nicht fertig wird.

Eine brillante Laufbahn lag vor unserm altmärkischen Junker, wenn er nur Mut und Verstand hatte zuzugreifen. War nicht Louis-Napoleon der Abgott der Bourgeoisie grade dadurch geworden, daß er ihr Parlament zersprengt, aber ihre Profite erhöht hatte? Und hatte Bismarck nicht dieselben Geschäftstalente, die die Bourgeois so sehr an dem falschen Napoleon bewunderten? Zog es ihn nicht nach seinem Bleichröder wie Louis-Napoleon nach seinem Fould? Lag nicht 1864 in Deutschland ein Widerspruch vor zwischen den Bourgeoisvertretern in der Kammer, die an der Dienstzeit abknickern wollten, und den Bourgeois draußen im Nationalverein, die um jeden Preis nationale Taten wollten, Taten, wozu man Militär braucht? Ein ganz ähnlicher Widerspruch wie der in Frankreich 1851 zwischen den Bourgeois in der Kammer, die die Macht des Präsidenten im Zaum halten, und den Bourgeois draußen, die Ruhe und starke Regierung wollten, Ruhe um jeden Preis - und welchen Widerspruch Louis-Napoleon gelöst hatte, indem er die Parlamentskrakeeler zersprengte und der Masse der Bourgeois Ruhe gab? Lagen die Dinge in Deutschland nicht noch viel sichrer für einen kühnen Griff? War nicht der Reorganisationsplan fix und fertig geliefert von der Bourgeoisie, und verlangte nicht sie selbst laut nach dem energischen preußischen Staatsmann, der ihren Plan ausführen, Östreich von Deutschland ausschließen, die Kleinstaaten unter Preußens Vorherrschaft einigen sollte? Und wenn man dabei die preußische Verfassung etwas unsanft behandeln, die Ideologen in und außerhalb der Kammer nach Verdienst beiseite schieben mußte, konnte man nicht, wie Louis Bonaparte, sich auf das allgemeine Stimmrecht stützen? Was konnte demokratischer sein als die Einführung des allgemeinen Stimmrechts? Hatte Louis-Napoleon nicht |429| seine gänzliche Gefahrlosigkeit - bei richtiger Behandlung - dargetan? Und bot nicht grade dies allgemeine Stimmrecht das Mittel, an die großen Volksmassen zu appellieren, ein bißchen mit der neuerstehenden sozialen Bewegung zu kokettieren, wenn die Bourgeoisie sich widerhaarig erwies?

Bismarck griff zu. Es galt, den Staatsstreich Louis-Napoleons zu wiederholen, der deutschen Bourgeoisie die wirklichen Machtverhältnisse handgreiflich klarzumachen, ihre liberalen Selbsttäuschungen gewaltsam zu zersprengen, aber ihre mit den preußischen Wünschen zusammenfallenden nationalen Forderungen durchzuführen. Zunächst bot Schleswig-Holstein die Handhabe zum Handeln. Das Terrain der auswärtigen Politik war vorbereitet. Der russische Zar |Alexander II.| war durch die von Bismarck 1863 gegen die insurgierten Polen geleisteten Schergendienste gewonnen; Louis-Napoleon war ebenfalls bearbeitet worden und konnte seine Gleichgültigkeit, wo nicht seine stille Begünstigung der Bismarckschen Pläne durch sein geliebtes "Nationalitätsprinzip" entschuldigen; in England war Palmerston Premierminister, hatte aber den kleinen Lord John Russell nur zu dem Zweck ins auswärtige Amt gesetzt, damit er sich dort recht lächerlich mache. Östreich aber war Preußens Konkurrent um die Vorherrschaft in Deutschland und durfte sich grade in dieser Angelegenheit um so weniger von Preußen den Rang ablaufen lassen, als es 1850 und 1851 als Büttel des Kaisers Nikolaus in Schleswig-Holstein sich in der Tat noch gemeiner benommen hatte als selbst Preußen. Die Lage war also äußerst günstig. So sehr Bismarck Östreich haßte, und so gern Östreich an Preußen hinwiederum sein Mütchen gekühlt hätte, so blieb ihnen beim Tod Friedrichs VII. von Dänemark doch nichts andres übrig, als gemeinsam - unter stillschweigender russischer und französischer Erlaubnis - gegen Dänemark einzuschreiten. Der Erfolg war im voraus gesichert, solange Europa neutral blieb; dies war der Fall, die Herzogtümer wurden erobert und im Frieden abgetreten.

Preußen hatte bei diesem Krieg den Nebenzweck gehabt, seine seit 1850 nach neuen Grundsätzen ausgebildete und 1860 reorganisierte und verstärkte Armee vor dem Feind zu versuchen. Sie hatte sich über alles Erwarten gut bewährt, und zwar in den verschiedensten Kriegslagen. Daß das Zündnadelgewehr dem Vorderlader weit überlegen sei und daß man verstehe, es richtig zu gebrauchen, bewies das Gefecht bei Lyngby in Jütland, wo 80 hinter einem Knick postierte Preußen durch ihr Schnellfeuer die dreifache Anzahl Dänen in die Flucht schlugen. Gleichzeitig hatte man |430| Gelegenheit zu bemerken, wie die Östreicher aus dem italienischen Kriege und der Fechtart der Franzosen nur die Lehre gezogen hatten, das Schießen tauge nichts, der wahre Soldat müsse alsbald mit dem Bajonett den Feind werfen, und schrieb sich das hinter die Ohren, da man sich eine willkommnere feindliche Taktik vor den Mündungen der Hinterlader gar nicht wünschen konnte. Und um die Östreicher baldmöglichst instand zu setzen, sich hiervon praktisch zu überzeugen, überantwortete man beim Frieden die Herzogtümer der gemeinsamen Souveränität Östreichs und Preußens, schuf also eine rein provisorische Lage, die Konflikte über Konflikte erzeugen mußte und es dadurch ganz in Bismarcks Hand legte, wann er einen solchen Konflikt zu seinem großen Streich gegen Östreich benutzen wollte. Bei der Sitte der preußischen Politik, eine günstige Situation "rücksichtslos bis aufs äußerste auszunutzen", wie Herr von Sybel das nennt, war es selbstverständlich, daß unter dem Vorwand der Befreiung Deutscher von dänischem Druck an 200.000 dänische Nordschleswiger mit an Deutschland annektiert wurden. Wer aber leer ausging, das war der schleswig-holsteinische Thronkandidat der Kleinstaaten und der deutschen Bourgeoisie, der Herzog von Augustenburg.

So hatte Bismarck in den Herzogtümern der deutschen Bourgeoisie ihren Willen gegen ihren Willen getan. Er hatte die Dänen vertrieben, hatte dem Ausland Trotz geboten, und das Ausland hatte sich nicht gerührt. Aber die Herzogtümer, kaum befreit, wurden als erobertes Land behandelt, gar nicht um ihren Willen befragt, sondern kurzerhand zwischen Östreich und Preußen provisorisch geteilt. Preußen war wieder eine Großmacht geworden, war nicht mehr das fünfte Rad am europäischen Wagen; die Erfüllung der nationalen Wünsche der Bourgeoisie war im besten Zuge, aber der gewählte Weg war nicht der liberale der Bourgeoisie. Der preußische Militärkonflikt dauerte also fort, wurde sogar immer unlösbarer. Der zweite Akt der Bismarckschen Haupt- und Staatsaktion mußte eingeleitet werden.

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Der dänische Krieg hatte einen Teil der nationalen Wünsche erfüllt. Schleswig-Holstein war "befreit", das Warschauer und Londoner Protokoll, worin die Großmächte Deutschlands Erniedrigung vor Dänemark besiegelt, war ihnen zerrissen vor die Füße geworfen, und sie hatten nicht gemuckt. Östreich und Preußen standen wieder zusammen, die Truppen beider hatten nebeneinander gesiegt, und kein Potentat dachte mehr daran, deutsches Gebiet anzutasten. Louis-Napoleons Rheingelüste, bisher durch anderweitige Beschäftigung - die italienische Revolution, den polnischen |431| Aufstand, die dänischen Verwicklungen, endlich den Zug nach Mexiko - in den Hintergrund gedrängt, hatten jetzt keine Aussicht mehr. Für einen konservativen preußischen Staatsmann war also die Weltlage nach außen hin ganz nach Wunsch. Aber Bismarck war bis 1871 nie, und damals erst recht nicht, konservativ, und die deutsche Bourgeoisie war keineswegs befriedigt.

Das deutsche Bürgertum bewegte sich nach wie vor in dem bekannten Widerspruch. Einerseits verlangte es die ausschließliche politische Macht für sich, d.h. für ein aus der liberalen Kammermajorität gewähltes Ministerium; und ein solches Ministerium hätte einen zehnjährigen Kampf mit dem durch die Krone vertretenen alten System zu führen gehabt, bis seine neue Machtstellung definitiv anerkannt war; also zehn Jahre innerer Schwächung. Andrerseits aber forderte es eine revolutionäre Umgestaltung Deutschlands, die nur durch die Gewalt, also nur durch eine tatsächliche Diktatur, durchführbar war. Und dabei hatte das Bürgertum von 1848 an Schlag auf Schlag, in jedem entscheidenden Moment, den Beweis geliefert, daß es auch nicht die Spur der nötigen Energie besaß, um, sei es das eine, sei es das andre, durchzusetzen - geschweige beides. Es gibt in der Politik nur zwei entscheidende Mächte: die organisierte Staatsgewalt, die Armee, und die unorganisierte, elementare Gewalt der Volksmassen. An die Massen zu appellieren, hatte das Bürgertum 1848 verlernt; es fürchtete sie noch mehr als den Absolutismus. Die Armee aber stand keineswegs zu seiner Verfügung. Wohl aber zur Verfügung Bismarcks.

Bismarck hatte in dem noch andauernden Verfassungskonflikt die parlamentarischen Forderungen der Bourgeoisie aufs äußerste bekämpft. Aber er brannte vor Begierde, ihre nationalen Forderungen durchzuführen; stimmten sie doch mit den geheimsten Herzenswünschen der preußischen Politik. Wenn er jetzt nochmals der Bourgeoisie gegen ihren Willen den Willen tat, wenn er die Einigung Deutschlands, wie die Bourgeoisie sie formuliert hatte, zur Wahrheit machte, so war der Konflikt von selbst beseitigt, und Bismarck mußte ebenso der Abgott der Bourgeois werden wie sein Vorbild Louis-Napoleon.

Die Bourgeoisie lieferte ihm das Ziel, Louis-Napoleon den Weg zum Ziel; die Ausführung allein blieb Bismarcks Werk.

Um Preußen an die Spitze Deutschlands zu stellen, mußte man nicht nur Östreich mit Gewalt aus dem Deutschen Bunde treiben, sondern auch die Kleinstaaten unterwerfen. Ein solcher frischer fröhlicher Krieg Deutscher gegen Deutsche war in der preußischen Politik ja von jeher das Hauptmittel der Gebietserweiterung gewesen; vor so etwas fürchtete sich |432| kein braver Preuße. Ebensowenig konnte das zweite Hauptmittel irgendwie Bedenken erregen: die Allianz mit dem Auslande gegen Deutsche. Den sentimentalen Alexander von Rußland hatte man in der Tasche. Louis-Napoleon hatte den piemontesischen Beruf Preußens in Deutschland nie verkannt und war ganz bereit, mit Bismarck ein Geschäftchen zu machen. Konnte er, was er brauchte, auf friedlichem Weg erhalten, in der Form von Kompensationen, so zog er das vor. Auch brauchte er ja nicht das ganze linke Rheinufer auf einmal; gab man es ihm stückweise, je einen Streifen für jeden neuen Vorschritt Preußens, so war das weniger auffällig und führte doch zum Ziel. Wog doch in den Augen der französischen Chauvins eine Quadratmeile am Rhein ganz Savoyen und Nizza auf. Mit Louis-Napoleon wurde also verhandelt, seine Erlaubnis zur Vergrößerung Preußens und zu einem Norddeutschen Bund erwirkt. Daß ihm dafür ein Stück deutsches Gebiet am Rhein angeboten worden, ist außer Zweifel |6|; in den Verhandlungen mit Govone sprach Bismarck von Rheinbayern und Rheinhessen. Er hat dies zwar nachher abgeleugnet. Aber ein Diplomat, namentlich ein preußischer, hat seine eignen Ansichten über die Grenzen, innerhalb deren man berechtigt oder sogar verpflichtet ist, der Wahrheit gelinde Gewalt anzutun. Die Wahrheit ist ja ein Frauenzimmer, hat's also, nach der Junkervorstellung, eigentlich ganz gern. Louis-Napoleon war nicht so dumm, die Vergrößerung Preußens zu gestatten, ohne daß Preußen ihm Kompensation versprach; eher hätte Bleichröder Geld ohne Zinsen ausgeliehen. Aber er kannte seine Preußen nicht genug und wurde schließlich doch geprellt. Kurz und gut, nachdem er sicher gemacht war, verband man sich mit Italien zum "Stoß ins Herz".

Der Philister verschiedner Länder hat sich über diesen Ausdruck tief entrüstet. Ganz mit Unrecht. A la guerre comme à la guerre. |Krieg ist Krieg.| Der Ausdruck beweist bloß, daß Bismarck den deutschen Bürgerkrieg 1866 für das erkannte, was er war, nämlich eine Revolution, und daß er bereit war, diese Revolution durchzusetzen mit revolutionären Mitteln. Und das tat er. Sein Verfahren gegenüber dem Bundestag war revolutionär. Statt sich der verfassungsmäßigen Entscheidung der Bundesbehörden zu unterwerfen, warf er ihnen Bundesbruch vor - eine reine Ausrede -, sprengte den Bund, proklamierte eine neue Verfassung mit einem durch das revolutionäre allgemeine Stimmrecht gewählten Reichstag und verjagte schließlich den Bundestag aus Frankfurt. In Oberschlesien richtete er eine ungarische |433| Legion ein unter dem Revolutionsgeneral Klapka und andern Revolutionsoffizieren, deren Mannschaft, ungarische Überläufer und Kriegsgefangene, Krieg führen sollten gegen ihren eignen legitimen Kriegsherrn.|7| Nach Eroberung Böhmens erließ Bismarck eine Proklamation "an die Bewohner des glorreichen Königreichs Böhmen", deren Inhalt den Traditionen der Legitimität ebenfalls arg ins Gesicht schlug. Im Frieden nahm er für Preußen die sämtlichen Besitzungen dreier legitimer deutscher Bundesfürsten und einer Freien Stadt weg, ohne daß diese Verjagung von Fürsten, die nicht minder "von Gottes Gnaden" waren als der König von Preußen, sein christliches und legitimistisches Gewissen irgendwie beschwerten. Kurz, es war eine vollständige Revolution, mit revolutionären Mitteln durchgeführt. Wir sind natürlich die letzten, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Was wir ihm vorwerfen, ist im Gegenteil, daß er nicht revolutionär genug, daß er nur preußischer Revolutionär von oben war, daß er eine ganze Revolution anfing in einer Stellung, wo er nur eine halbe durchführen konnte, daß er, einmal auf der Bahn der Annexionen, mit vier lumpigen Kleinstaaten zufrieden war.

Nun aber kam der kleine Napoleon hinterdrein gehinkt und forderte seinen Lohn. Er hätte während des Kriegs am Rhein nehmen können, was ihm gefiel; nicht nur das Land, auch die Festungen waren entblößt. Er zauderte; er erwartete einen langwierigen, beide Teile ermattenden Krieg - und nun kamen diese raschen Schläge, die Niederwerfung Östreichs binnen acht Tagen. Er forderte zuerst - was Bismarck dem General Govone als mögliches Entschädigungsgebiet bezeichnet - Rheinbayern und Rheinhessen mit Mainz. Das aber konnte Bismarck jetzt nicht mehr geben, selbst wenn er gewollt hätte. Die gewaltigen Erfolge des Kriegs hatten ihm neue Verpflichtungen auferlegt. In dem Augenblick, wo Preußen sich zum Schutz und Schirm Deutschlands aufwarf, konnte es nicht den Schlüssel des Mittelrheins, Mainz, an das Ausland verschachern. Bismarck schlug ab. Louis-Napoleon ließ mit sich handeln; er verlangte nur noch Luxemburg, Landau, Saarlouis und das Saarbrücker Kohlenrevier. Aber auch dies konnte Bismarck nicht mehr abtreten, um so weniger, als hier auch preußisches Gebiet beansprucht wurde. Warum hatte Louis-Napoleon nicht selbst zugegriffen, zur rechten Zeit, als die Preußen in Böhmen festsaßen? Genug, aus den Kompensationen für Frankreich wurde nichts. Daß das einen späteren Krieg mit Frankreich bedeutete, wußte Bismarck; aber das war ihm grade recht.

|434| In den Friedensschlüssen nutzte Preußen diesmal die günstige Lage nicht so rücksichtslos aus, als dies sonst, im Glück, seine Gewohnheit war. Und aus guten Gründen. Sachsen und Hessen-Darmstadt wurden in den neuen Norddeutschen Bund gezogen und wurden schon deshalb geschont. Bayern, Württemberg und Baden mußten glimpflich behandelt werden, weil Bismarck die geheimen Schutz- und Trutzbündnisse mit ihnen abzuschließen hatte. Und Östreich - hatte nicht Bismarck ihm einen Dienst erwiesen, indem er die traditionellen Verwicklungen zerhieb, die es an Deutschland und Italien fesselten? Hatte er ihm nicht erst jetzt die lang erstrebte unabhängige Großmachtstellung verschafft? Hatte er nicht in der Tat besser gewußt als Östreich selbst, was Östreich diente, als er es in Böhmen besiegte? Mußte nicht Östreich bei richtiger Behandlung einsehn, daß die geographische Lage, die gegenseitige Verschränkung beider Länder, das preußisch-geeinte Deutschland zu seinem notwendigen und natürlichen Bundesgenossen machte?

So kam es, daß Preußen zum erstenmal seit seinem Bestehn sich mit dem Schimmer der Großmut umgeben konnte, weil es - mit der Wurst nach dem Schinken warf.

Nicht nur Östreich war auf den böhmischen Schlachtfeldern geschlagen - die deutsche Bourgeoisie war es auch. Bismarck hatte ihr bewiesen, daß er besser wußte, was ihr frommte, als sie selbst. An eine Fortführung des Konflikts von seiten der Kammer war nicht zu denken. Die liberalen Ansprüche der Bourgeoisie waren auf lange Zeit begraben, aber ihre nationalen Forderungen erfüllten sich von Tag zu Tag mehr. Mit einer ihr selbst verwunderlichen Raschheit und Genauigkeit führte Bismarck ihr nationales Programm aus. Und nachdem er ihr ihre Schlaffheit und Energielosigkeit und damit ihre totale Unfähigkeit zur Durchführung ihres eignen Programms handgreiflich in corpore vili, an ihrem eignen schäbigen Leibe dargetan, spielte er auch ihr gegenüber den Großmütigen und kam bei der nun tatsächlich entwaffneten Kammer um Indemnität ein wegen der verfassungswidrigen Konfliktsregierung. Zu Tränen gerührt, bewilligte sie der nunmehr harmlose Fortschritt.

Trotzdem wurde die Bourgeoisie daran erinnert, daß sie bei Königgrätz mit besiegt war. Die norddeutsche Bundesverfassung wurde nach der Schablone der durch den Konflikt authentisch interpretierten preußischen Verfassung zugeschnitten. Steuerverweigerung war verboten. Der Bundeskanzler und seine Minister wurden vom König von Preußen ernannt, unabhängig von jeder parlamentarischen Majorität. Die durch den Konflikt sichergestellte Unabhängigkeit der Armee vom Parlament wurde |435| auch gegenüber dem Reichstag festgehalten. Dafür aber hatten die Mitglieder dieses Reichstags das erhebende Bewußtsein, daß sie durch allgemeines Stimmrecht gewählt waren. An diese Tatsache wurden sie auch, und zwar in unangenehmer Weise, erinnert durch den Anblick der zwei Sozialisten |Bebel und Liebknecht|, die mitten unter ihnen saßen. Zum erstenmal erschienen sozialistische Abgeordnete, Vertreter des Proletariats, in einer parlamentarischen Körperschaft. Es war ein unheildrohendes Zeichen.

Zunächst war das alles nicht von Bedeutung. Es kam jetzt darauf an, die neue Reichseinheit wenigstens des Nordens im Interesse der Bourgeoisie auszubauen und auszubeuten und dadurch auch die süddeutschen Bourgeois in den neuen Bund zu locken. Die Bundesverfassung entzog die ökonomisch wichtigsten Verhältnisse der Gesetzgebung den Einzelstaaten und wies ihre Regelung dem Bunde zu: gemeinsames Bürgerrecht und Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet, Heimatsberechtigung, Gesetzgebung über Gewerbe, Handel, Zölle, Schiffahrt, Münzen, Maß und Gewicht, Eisenbahnen, Wasserstraßen, Post und Telegraphen, Patente, Banken, die ganze auswärtige Politik, Konsulate, Handelsschutz im Ausland, Medizinalpolizei, Strafrecht, Gerichtsverfahren etc. Die meisten dieser Gegenstände wurden nun rasch, und im ganzen in liberaler Weise, durch Gesetze geordnet. Und so wurden denn endlich - endlich! die schlimmsten Auswüchse der Kleinstaaterei beseitigt, diejenigen, die einerseits der kapitalistischen Entwicklung, andrerseits dem preußischen Herrschergelüst am meisten den Weg versperrten. Das war aber keine welthistorische Errungenschaft, wie der jetzt chauvinistisch werdende Bourgeois ausposaunte, sondern eine sehr, sehr späte und unvollkommne Nachahmung dessen, was die Französische Revolution schon siebzig Jahre früher getan, und was alle andern Kulturstaaten längst eingeführt. Statt zu prahlen, hätte man sich schämen sollen, daß das "hochgebildete" Deutschland hiermit zuallerletzt kam.

Während dieser ganzen Zeit des Norddeutschen Bundes kam Bismarck der Bourgeoisie auf wirtschaftlichem Gebiet bereitwillig entgegen und zeigte auch in der Behandlung parlamentarischer Machtfragen die eiserne Faust nur im samtnen Handschuh. Es war seine beste Periode; man konnte stellenweise zweifeln an seiner spezifisch preußischen Borniertheit, an seiner Unfähigkeit einzusehn, daß es in der Weltgeschichte noch andre und stärkere Mächte gibt als Armeen und auf sie gestützte Diplomatenschliche.

Daß der Friede mit Östreich den Krieg mit Frankreich im Schöße trug, wußte Bismarck nicht nur, er wollte es auch. Dieser Krieg sollte grade das |436| Mittel bieten zur Vollendung des ihm von der deutschen Bourgeoisie vorgeschriebenen preußisch-deutschen Reichs.(5) Die Versuche, das Zollparlament allmählich in einen Reichstag umzuwandeln und so die Südstaaten nach und nach in den Nordbund zu ziehn, scheiterten an dem lauten Ruf der süddeutschen Abgeordneten: Keine Kompetenzerweiterung! Die Stimmung der eben noch auf dem Schlachtfeld besiegten Regierungen war nicht günstiger. Nur ein neuer, handgreiflicher Beweis, daß Preußen, ihnen gegenüber, übermächtig, aber auch mächtig genug sei, sie zu schützen - also nur ein neuer, gemeindeutscher Krieg konnte den Moment der Kapitulation rasch herbeiführen. Und dann war die scheidende Mainlinie, nachdem sie im stillen zwischen Bismarck und Louis-Napoleon vorher vereinbart, nach den Siegen doch scheinbar von diesem den Preußen aufgenötigt worden; Einigung mit Süddeutschland war also Verletzung des diesmal den Franzosen förmlich zugestandnen Rechts auf die Zersplitterung Deutschlands, war Kriegsfall.

Inzwischen mußte Louis-Napoleon suchen, ob er nicht irgendwo an der deutschen Grenze einen Landfetzen fände, den er als Kompensation für Sadowa einheimse. Bei der Neubildung des Norddeutschen Bundes war Luxemburg ausgeschlossen worden, war also jetzt ein mit Holland in Personalunion befindlicher, aber sonst ganz unabhängiger Staat. Dabei war es ungefähr ebenso französiert wie das Elsaß und hatte entschieden weit mehr Hinneigung zu Frankreich als zu dem positiv gehaßten Preußen.

Luxemburg ist ein schlagendes Exempel davon, was die politische Misere Deutschlands seit dem Mittelalter aus den deutsch-französischen Grenzländern gemacht hat, und um so schlagender, als Luxemburg bis 1866 nominell zu Deutschland gehört hat. Bis 1830 aus einer französischen und einer deutschen Hälfte zusammengesetzt, hatte auch der deutsche Teil schon früh den Einfluß der überlegnen französischen Kultur über sich ergehen lassen. Die luxemburgischen deutschen Kaiser waren nach Sprache und Bildung Franzosen. Seit der Einverleibung in die burgundischen Lande |437| (1440) blieb Luxemburg, wie die übrigen Niederlande, in nur nominellem Verband mit Deutschland; daran änderte auch seine Aufnahme in den Deutschen Bund 1815 nichts. Nach 1830 fiel der französische Teil und noch ein hübscher Streifen des deutschen Teils an Belgien. Aber in dem noch übrigen Deutsch-Luxemburg blieb alles auf französischem Fuß: die Gerichte, die Behörden, die Kammer, alles verhandelte französisch, alle öffentlichen und privaten Aktenstücke, alle Geschäftsbücher wurden französisch abgefaßt, alle Mittelschulen unterrichteten auf Französisch, die gebildete Sprache war und blieb Französisch - natürlich ein Französisch, das unter der Last der hochdeutschen Lautverschiebung ächzte und keuchte. Kurzum, in Luxemburg wurden zwei Sprachen gesprochen: ein rheinfränkischer Volksdialekt und Französisch, aber Hochdeutsch blieb eine fremde Sprache. Die preußische Garnison der Hauptstadt machte das alles eher schlimmer als besser. Das ist beschämend genug für Deutschland, aber es ist wahr. Und diese freiwillige Französierung Luxemburgs stellt auch die ähnlichen Vorgänge im Elsaß und in Deutsch-Lothringen erst in das richtige Licht.

Der König von Holland |Wilhelm III.|, souveräner Herzog von Luxemburg, konnte bares Geld sehr gut gebrauchen und ließ sich bereitfinden zum Verkauf des Herzogtums an Louis-Napoleon. Die Luxemburger hätten unbedingt ihre Einverleibung in Frankreich genehmigt - Beweis ihre Haltung im Kriege 1870. Preußen konnte völkerrechtlich nichts einwenden, da es selbst die Ausschließung Luxemburgs aus Deutschland bewirkt hatte. Seine Truppen lagen in der Hauptstadt als Bundesgarnison einer deutschen Bundesfestung; sobald Luxemburg aufhörte, Bundesfestung zu sein, hatten sie dort kein Recht mehr. Warum aber gingen sie nicht heim, warum konnte Bismarck die Annexion nicht zugeben?

Einfach, weil jetzt die Widersprüche an den Tag traten, in die er sich verwickelt hatte. Vor 1866 war Deutschland für Preußen noch reines Annexationsgebiet, worin man sich mit dem Ausland teilen mußte. Nach 1866 war Deutschland preußisches Schutzgebiet geworden, das man vor ausländischen Krallen zu verteidigen hatte. Allerdings hatte man, aus preußischen Rücksichten, ganze Stücke Deutschlands aus dem neugegründeten sogenannten Deutschland ausgeschlossen. Aber das Recht der deutschen Nation auf ihr eignes Gesamtgebiet legte jetzt der Krone Preußen die Pflicht auf, die Einverleibung dieser Stücke des alten Bundesgebiets in fremde Staaten zu verhindern, ihnen für die Zukunft den Anschluß an den neuen preußisch-deutschen Staat offenzuhalten. Deshalb hatte Italien an der |438| Tiroler Grenze haltgemacht, deshalb durfte jetzt Luxemburg nicht an Louis-Napoleon übergehn. Eine wirklich revolutionäre Regierung konnte das offen verkündigen. Nicht so der königlich preußische Revolutionär, der es endlich fertiggebracht hatte, Deutschland in einen Metternichschen "geographischen Begriff" zu verwandeln. Er hatte sich völkerrechtlich selbst ins Unrecht gesetzt und konnte sich nur helfen durch Anwendung seiner beliebten Korpskneipeninterpretation auf das Völkerrecht.

Wenn er damit nicht gradezu ausgelacht wurde, so kam dies nur daher, daß Louis-Napoleon im Frühjahr 1867 noch keineswegs für einen großen Krieg bereit war. Man einigte sich auf der Londoner Konferenz. Die Preußen räumten Luxemburg; die Festung wurde geschleift, das Herzogtum neutral erklärt. Der Krieg war wieder vertagt.

Louis-Napoleon konnte sich dabei nicht beruhigen. Die Machtvergrößerung Preußens war ihm ganz recht, sobald er nur die entsprechenden Kompensationen am Rhein erhielt. Er wollte mit wenigem zufrieden sein; auch davon hatte er noch abgelassen, aber er hatte gar nichts erhalten, war vollständig geprellt. Ein bonapartistisches Kaisertum in Frankreich war aber nur möglich, wenn es die Grenze allmählich gegen den Rhein zu vorschob und wenn Frankreich - in der Wirklichkeit oder doch in der Einbildung - Schiedsrichter Europas blieb. Die Grenzverschiebung war mißlungen, die Schiedsrichterstellung war bereits bedroht, die bonapartistische Presse schrie laut nach Revanche für Sadowa - wenn Louis-Napoleon seinen Thron behaupten wollte, mußte er seiner Rolle getreu bleiben und das mit Gewalt holen, was er trotz aller erwiesenen Dienste mit Güte nicht erhielt.

Von beiden Seiten also emsige Kriegsvorbereitungen, diplomatische wie militärische. Und zwar ereignete sich folgendes diplomatische Begebnis:

Spanien suchte nach einem Thronkandidaten. Im März [1869] hört Benedetti, der französische Gesandte in Berlin, gerüchtweise von einer Thronbewerbung des Prinzen Leopold von Hohenzollern; erhält Auftrag von Paris, der Sache nachzuforschen. Der Unterstaatssekretär von Thile versichert auf Ehrenwort, die preußische Regierung wisse davon nichts. Auf einem Besuch in Paris erfährt Benedetti die Meinung des Kaisers: "Diese Kandidatur ist wesentlich antinational, das Land wird sie sich nicht gefallen lassen, man muß sie verhüten."

Beiläufig bewies hier Louis-Napoleon, daß er schon stark am Herunterkommen war. Was konnte in der Tat eine schönere "Rache für Sadowa" sein, als die Königschaft eines preußischen Prinzen in Spanien, die daraus unvermeidlich folgenden Unannehmlichkeiten, die Verwicklung Preußens m innere spanische Parteiverhältnisse, wohl gar ein Krieg, eine Niederlage |439| der zwerghaften preußischen Flotte, jedenfalls Preußen vor Europa in eine höchst groteske Lage gebracht? Aber das Schauspiel konnte Louis Bonaparte sich nicht mehr erlauben. Sein Kredit war bereits so weit erschüttert, daß er sich an den traditionellen Standpunkt gebunden hielt, wonach ein deutscher Fürst auf dem spanischen Thron Frankreich zwischen zwei Feuer brächte, also nicht zu dulden sei - ein seit 1830 kindischer Standpunkt.

Benedetti suchte also Bismarck auf, um weitere Aufklärungen zu erhalten und ihm den Standpunkt Frankreichs klarzumachen (11. Mai 1869). Er erfuhr von Bismarck nichts besonders Bestimmtes. Wohl aber erfuhr Bismarck von ihm, was er wissen wollte: daß die Aufstellung der Kandidatur Leopolds den sofortigen Krieg mit Frankreich bedeute. Hiermit war es in Bismarcks Hand gegeben, den Krieg ausbrechen zu lassen, wann es ihm gefiel.

In der Tat taucht die Kandidatur Leopolds im Juli 1870 abermals auf und führt sofort zum Krieg, so sehr auch Louis-Napoleon sich dagegen sträubte. Er sah nicht nur, daß er in eine Falle gegangen war. Er wußte auch, daß es sich um sein Kaisertum handelte, und hatte wenig Vertrauen in die Wahrhaftigkeit seiner bonapartistischen Schwefelbande, die ihm versicherte, alles sei bereit, bis auf den letzten Gamaschenknopf, und noch weniger Vertrauen in ihre militärische und administrative Tüchtigkeit. Aber die logischen Konsequenzen seiner eignen Vergangenheit trieben ihn ins Verderben; sein Zaudern selbst beschleunigte seinen Untergang.

Bismarck dagegen war nicht nur militärisch vollständig schlagfertig, sondern hatte diesmal das Volk in der Tat hinter sich, das durch alle beiderseitigen diplomatischen Lügen hindurch nur die eine Tatsache sah: hier handle es sich um einen Krieg nicht nur um den Rhein, sondern um die nationale Existenz. Reserven und Landwehr strömten - zum erstenmal seit 1813- wieder bereitwillig und kampflustig zu den Fahnen. Einerlei, wie das alles so gekommen war, einerlei, welches Stück des zweitausendjährigen nationalen Erbteils Bismarck auf eigne Faust dem Louis-Napoleon versprochen oder nicht versprochen hatte: Es galt, dem Ausland ein für allemal beizubringen, daß es sich in innere deutsche Dinge nicht zu mischen habe und daß Deutschland nicht berufen sei, den wackligen Thron Louis-Napoleons durch Abtretung deutschen Gebiets zu stützen. Und vor diesem nationalen Aufschwung verschwanden alle Klassenunterschiede, zerflossen alle Rheinbundsgelüste süddeutscher Höfe, alle Restaurationsversuche verjagter Fürsten in nichts.

Beide Teile hatten sich um Allianzen beworben. Louis-Napoleon hatte Östreich und Dänemark sicher, Italien ziemlich sicher. Bismarck hatte Ruß- |440| land. Aber Östreich war wie immer nicht fertig, konnte nicht vor dem 2. September tätig eingreifen - und am 2. September war Louis-Napoleon Kriegsgefangener der Deutschen, und Rußland hatte Östreich benachrichtigt, es werde Östreich angreifen, sobald Östreich Preußen angreife. In Italien aber rächte sich Louis-Napoleons achselträgerische Politik: Er hatte die nationale Einheit in Gang bringen, aber dabei den Papst vor dieser selben nationalen Einheit schützen wollen; er hatte Rom besetzt gehalten mit Truppen, die er jetzt zu Hause brauchte und die er doch nicht wegziehn konnte, ohne Italien zu verpflichten, daß es Rom und den Papst als Souverän respektiere; was Italien wiederum verhinderte, ihm beizustehn. Dänemark endlich erhielt von Rußland Befehl, sich ruhig zu verhalten.

Entscheidender aber als alle diplomatischen Verhandlungen wirkten auf die Lokalisierung des Kriegs die raschen Schläge der deutschen Waffen von Spichern und Wörth bis Sedan. Louis-Napoleons Armee erlag in jedem Gefecht und wanderte schließlich zu drei Vierteln kriegsgefangen nach Deutschland. Das war nicht die Schuld der Soldaten, die sich tapfer genug geschlagen hatten, wohl aber der Führer und der Verwaltung. Aber wenn man wie Louis-Napoleon sein Reich errichtet hat mit Hülfe einer Bande von Strolchen, wenn man dies Reich achtzehn Jahre behauptet hat nur, indem man Frankreich dieser selben Bande zur Ausbeutung überließ, wenn man alle entscheidenden Posten im Staat mit Leuten eben dieser Bande und alle untergeordneten Stellen mit ihren Helfershelfern besetzt hat, dann soll man auch keinen Kampf auf Tod und Leben unternehmen, wenn man nicht im Stich gelassen sein will. In weniger als fünf Wochen brach das ganze, vom europäischen Philister jahrelang angestaunte Gebäude des Kaiserreichs zusammen; die Revolution vom 4. September räumte nur noch den Schutt weg; und Bismarck, der in den Krieg gezogen war, um ein kleindeutsches Kaiserreich zu gründen, fand sich eines schönen Morgens als Stifter einer französischen Republik.

Nach Bismarcks eigener Proklamation wurde der Krieg geführt nicht gegen das französische Volk, sondern gegen Louis-Napoleon. Mit dessen Sturz fiel also aller Grund zum Kriege weg. Das bildete sich auch die - sonst nicht so naive - Regierung des 4. September ein und war sehr verwundert, als Bismarck nun plötzlich den preußischen Junker herauskehrte.

Niemand in der Welt hat einen solchen Franzosenhaß wie die preußischen Junker. Denn nicht nur hat der bis dahin steuerfreie Junker während der Züchtigung durch die Franzosen, 1806 bis 1813, die er sich durch seinen Dünkel selbst zugezogen, schwer zu leiden gehabt: die gottlosen Franzosen haben, was noch weit schlimmer, durch ihre frevelhafte Revolution die Köpfe |441| derart verwirrt, daß die alte Junkerherrlichkeit größtenteils selbst in Altpreußen zu Grabe getragen worden, daß die armen Junker um den noch übrigen Rest dieser Herrlichkeit jahraus, jahrein einen harten Kampf zu führen haben und ein großer Teil von ihnen bereits zu einem schäbigen Schmarotzeradel herabgesunken ist. Dafür mußte Rache genommen werden an Frankreich, und das besorgten die Junkeroffiziere in der Armee unter Bismarcks Leitung. Man hatte sich Listen der französischen Kriegskontributionen in Preußen gemacht und ermaß danach die in Frankreich von den einzelnen Städten und Departements zu erhebenden Brandschatzungen - aber natürlich unter Rücksichtnahme auf den weit größeren Reichtum Frankreichs. Man requirierte Lebensmittel, Fourage, Kleider, Schuhwerk etc. mit zur Schau getragner Rücksichtslosigkeit. Ein Bürgermeister in den Ardennen, der die Lieferung nicht machen zu können erklärte, erhielt ohne weiteres fünfundzwanzig Stockprügel; die Pariser Regierung hat die amtlichen Beweise veröffentlicht. Die Franktireurs, die so genau nach den Vorschriften der preußischen Landsturmordnung von 1813 handelten, als hätten sie sie expreß studiert, wurden ohne Gnade erschossen, wo man sie nur abfing. Auch die Geschichten von den heimgesandten Pendülen sind wahr, die "Kölnische Zeitung" hat selbst darüber berichtet. Nur waren diese Pendülen nach preußischen Begriffen nicht gestohlen, sondern als herrenloses Gut in den verlassenen Landhäusern um Paris vorgefunden und für die Lieben in der Heimat annektiert. Und so sorgten die Junker unter Bismarcks Leitung dafür, daß trotz der tadellosen Haltung sowohl der Mannschaft wie eines großen Teils der Offiziere der spezifisch preußische Charakter des Kriegs bewahrt und den Franzosen eingebleut, dafür aber auch von diesen die ganze Armee für die kleinlichen Gehässigkeiten der Junker verantwortlich gemacht wurde.

Und doch war es diesen Junkern vorbehalten, dem französischen Volk eine Ehrenbezeugung zu erweisen, die in der ganzen bisherigen Geschichte ihresgleichen nicht hat. Als alle Entsatzversuche um Paris gescheitert, alle französischen Armeen zurückgeschlagen, der letzte große Angriffsvorstoß Bourbakis auf die Verbindungslinie der Deutschen gescheitert war, als die gesamte Diplomatie Europas Frankreich seinem Schicksal überließ, ohne einen Finger zu rühren, da mußte das ausgehungerte Paris endlich kapitulieren. Und höher schlugen die Junkerherzen, als sie endlich triumphierend einziehen konnten in das gottlose Nest und volle Rache nehmen an den Pariser Erzrebellen - die volle Rache, die ihnen 1814 von Alexander von Rußland und 1815 von Wellington untersagt worden war; jetzt konnten sie den Herd und die Heimat der Revolution züchtigen nach Herzenslust.

|442| Paris kapitulierte, es zahlte 200 Millionen Brandschatzung; die Forts wurden den Preußen übergeben; die Garnison legte vor den Siegern die Waffen nieder und lieferte ihr Feldgeschütz aus; die Kanonen der Ringmauer wurden ihrer Lafetten beraubt; alle Widerstandsmittel, die dem Staat gehörten, wurden Stück für Stück ausgeliefert - aber die eigentlichen Verteidiger von Paris, die Nationalgarde, das Pariser Volk in Waffen, die blieben unangetastet, denen mutete niemand zu, die Waffen auszuliefern, weder ihre Gewehre noch ihre Kanonen (6); und damit es aller Welt kund werde, daß die siegreiche deutsche Armee ehrerbietig haltgemacht vor dem bewaffneten Volk von Paris, zogen die Sieger nicht in Paris ein, sondern waren damit zufrieden, die Champs-Élysées - einen öffentlichen Garten! - drei Tage lang besetzt halten zu dürfen, ringsum beschützt, bewacht und eingeschlossen von den Schildwachen der Pariser! Kein deutscher Soldat setzte den Fuß ins Pariser Stadthaus, keiner betrat die Boulevards, und die paar, die ins Louvre eingelassen wurden, um die Kunstschätze zu bewundern, hatten um Erlaubnis bitten müssen, es war Bruch der Kapitulation. Frankreich war niedergeschlagen, Paris war ausgehungert, aber den Respekt hatte sich das Pariser Volk durch seine glorreiche Vergangenheit gesichert, daß kein Sieger wagte, ihm Entwaffnung zuzumuten, keiner den Mut hatte, es zu Hause aufzusuchen und diese Straßen, den Kampfplatz so vieler Revolutionen, durch einen Triumphzug zu entweihen. Es war, als ob der neugebackne deutsche Kaiser |Wilhelm I.| den Hut abzöge vor den lebendigen Revolutionären von Paris, wie weiland sein Bruder vor den toten Märzkämpfern Berlins, und als ob die ganze deutsche Armee hinter ihm stände und präsentierte das Gewehr.

Das war aber auch das einzige Opfer, das Bismarck sich auferlegen mußte. Unter dem Verwand, es gebe keine Regierung in Frankreich, die mit ihm Frieden schließen könne - was grade so wahr und so falsch war am 4. September wie am 28. Januar - hatte er seine Erfolge echt preußisch bis auf den letzten Tropfen ausgenutzt und sich erst nach vollständiger Niederwerfung Frankreichs zum Frieden bereit erklärt. Im Friedensschluß selbst wurde wiederum, auf gut altpreußisch, "die günstige Lage rücksichtslos |443| ausgenützt". Nicht nur die unerhörte Summe von fünf Milliarden Kriegsentschädigung erpreßt, sondern auch zwei Provinzen, Elsaß und Deutsch-Lothringen mit Metz und Straßburg, von Frankreich abgerissen und Deutschland einverleibt. Mit dieser Annexion tritt Bismarck zum erstenmal als unabhängiger Politiker auf, der nicht mehr ein ihm von außen vorgeschriebnes Programm in seiner Weise ausführt, sondern die Produkte seines eignen Hirns in die Tat übersetzt; und damit begeht er seinen ersten kolossalen Bock. |Von hier bis zu den Worten: "Bismarck war am Ziel" (siehe S. 449) fehlen die entsprechenden Seiten der Handschrift von Engels. Der fehlende Teil wird nach dem in "Die Neue Zeit" veröffentlichten Text gebracht.|

Das Elsaß war von Frankreich der Hauptsache nach im Dreißigjährigen Krieg erobert. Damit hatte Richelieu den soliden Grundsatz Heinrichs IV. verlassen:

"Die spanische Sprache möge dem Spanier, die deutsche dem Deutschen gehören; aber wo man französisch spricht, das kommt mir zu";

er stützte sich auf den Grundsatz der natürlichen Rheingrenze, der geschichtlichen Grenze des alten Galliens. Das war Torheit; aber das Deutsche Reich, das die französischen Sprachgebiete von Lothringen und Belgien und sogar der Franche-Comté einschloß, hatte nicht das Recht, Frankreich die Annexion deutschsprechender Länder vorzuwerfen. Und wenn Ludwig XIV. 1681 Straßburg mitten im Frieden, mit Hilfe einer französisch gesinnten Partei in der Stadt, an sich riß, so steht es Preußen schlecht an, sich darüber zu entrüsten, nachdem es 1796 die Freie Reichsstadt Nürnberg, allerdings ohne von einer preußischen Partei gerufen zu sein, genau ebenso vergewaltigte, wenn auch nicht mit Erfolg.(7)

|444| Lothringen wurde 1735 im Wiener Frieden von Österreich an Frankreich verschachert und 1766 endgiltig in französischen Besitz genommen. Es hatte seit Jahrhunderten nur nominell zum Deutschen Reiche gehört, seine Herzöge waren in jeder Beziehung Franzosen und fast immer mit Frankreich verbündet gewesen.

In den Vogesen bestanden bis zur Französischen Revolution eine Menge kleiner Herrschaften, die gegenüber Deutschland sich als reichsunmittelbare Reichsstände gerierten, gegenüber Frankreich aber dessen Oberhoheit anerkannt hatten; sie zogen Vorteile aus dieser Zwitterstellung, und wenn das Deutsche Reich das duldete, statt die Herren Dynasten zur Rechenschaft zu ziehen, so durfte es sich nicht beklagen, als Frankreich kraft seiner Oberhoheit die Einwohner dieser Gebiete gegen die verjagten Dynasten in Schutz nahm.

Im ganzen war dies deutsche Gebiet bis zur Revolution so gut wie gar nicht französiert. Deutsch blieb Schul- und Amtssprache im inneren Verkehr wenigstens des Elsasses. Die französische Regierung begünstigte die deutschen Provinzen, die nach langjähriger Kriegsverwüstung jetzt, von Anfang des achtzehnten Jahrhunderts an, keinen Feind mehr im Lande zu sehen bekamen. Das von ewigen inneren Kriegen zerrissene Deutsche Reich war wahrlich nicht dazu angetan, die Elsässer zur Rückkehr in den Mutterschoß anzulocken; man hatte wenigstens Ruhe und Frieden, man wußte, woran man war, und so fand sich das tonangebende Philisterium in Gottes unerforschlichen Ratschluß. War ihr Schicksal doch nicht beispiellos, standen doch auch die Holsteiner unter fremder dänischer Herrschaft.

Da kam die Französische Revolution. Was Elsaß und Lothringen nie gewagt hatten von Deutschland zu hoffen, das wurde ihnen von Frankreich geschenkt. Die feudalen Fesseln wurden gesprengt. Der hörige, fronpflichtige Bauer wurde ein freier Mann, in vielen Fällen freier Eigentümer seines Gehöfts und Feldes. Die Patrizierherrschaft und die Zunftprivilegien in den Städten verschwanden. Der Adel wurde verjagt. Und in den Gebieten der kleinen Fürsten und Herren folgten die Bauern dem Beispiel der Nachbarn, |445| vertrieben Dynasten, Regierungskammern und Adel und erklärten sich für freie französische Bürger. In keinem Teil Frankreichs schloß das Volk sich der Revolution begeisterter an als gerade im deutschredenden. Und als nun gar das Deutsche Reich der Revolution den Krieg erklärte, als die Deutschen nicht nur ihre eigenen Ketten auch jetzt noch gehorsam trugen, sondern obendrein sich dazu gebrauchen ließen, den Franzosen die alte Knechtschaft, den Elsässer Bauern die kaum verjagten Feudalherren wieder aufzuzwingen, da war es aus mit der Deutschheit der Elsässer und Lothringer, da lernten sie die Deutschen hassen und verachten, da wurde in Straßburg die Marseillaise gedichtet, komponiert und zuerst von Elsässern gesungen, da wuchsen die Deutschfranzosen trotz Sprache und Vergangenheit auf Hunderten von Schlachtfeldern, im Kampfe für die Revolution, zusammen zu einem Volke mit den Nationalfranzosen.

Hat nicht die große Revolution dasselbe Wunder vollbracht an den Flamländern von Dünkirchen, den Kelten der Bretagne, den Italienern von Korsika? Und wenn wir uns darüber beklagen, daß dies auch Deutschen geschah, haben wir denn unsere ganze Geschichte vergessen, die das möglich machte? Haben wir vergessen, daß das ganze linke Rheinufer, das doch die Revolution nur passiv mitgemacht, französisch gesinnt war, als die Deutschen 1814 dort wieder einrückten, französisch gesinnt blieb bis 1848, wo die Revolution die Deutschen in den Augen der Rheinländer rehabilitierte? Daß Heines Franzosenschwärmerei und selbst sein Bonapartismus nichts war als der Widerhall der allgemeinen Volksstimmung links des Rheins?

Beim Einmarsch der Verbündeten 1814 fanden sie gerade im Elsaß und Deutsch-Lothringen die entschiedenste Feindschaft, den heftigsten Widerstand im Volke selbst; denn hier fühlte man die Gefahr, wieder deutsch werden zu müssen. Und doch wurde damals dort noch fast nur deutsch gesprochen. Aber als die Gefahr der Losreißung von Frankreich vorüber, als den deutsch-romantischen Chauvins die Annexionslust gelegt war, da sah man die Notwendigkeit ein, auch sprachlich mehr und mehr mit Frankreich zusammenzuwachsen, und seitdem führte man dieselbe Französierung der Schulen ein, die auch die Luxemburger freiwillig bei sich eingerichtet hatten. Und dennoch ging der Umwandlungsprozeß sehr langsam; erst die jetzige Generation der Bourgeoisie ist wirklich französiert, während Bauern und Arbeiter deutsch sprechen. Es steht ungefähr wie in Luxemburg: Das Schriftdeutsche ist (die Kanzel teilweise ausgenommen) durch das Französische verdrängt, aber der deutsche Volksdialekt hat nur an der Sprachgrenze Boden verloren und wird als gemütliche Sprache weit mehr gebraucht, als dies in den meisten Gegenden Deutschlands der Fall.

|446| Das ist das Land, das Bismarck und die preußischen Junker, unterstützt von der, wie es scheint, von allen deutschen Fragen unzertrennlichen Wiederbelebung einer chauvinistischen Romantik, wieder deutsch zu machen sich unterfingen. Die Heimat der Marseillaise, Straßburg, deutsch machen wollen, das war ein ebensolcher Widersinn wie der, die Heimat Garibaldis, Nizza, französisch zu machen. Aber in Nizza hielt Louis-Napoleon doch den Anstand aufrecht und ließ über die Annexion abstimmen - und das Manöver ging durch. Abgesehen davon, daß die Preußen aus sehr guten Gründen dergleichen revolutionäre Maßregeln verabscheuen - es ist noch nie vorgekommen, daß die Volksmasse irgendwo nach Annexion an Preußen verlangt hätte -, wußte man nur zu gut, daß gerade hier die Bevölkerung einmütiger an Frankreich hing als die Nationalfranzosen selbst. Und so vollzog man den Gewaltstreich einfach kraft der Gewalt. Es war ein Stück Rache an der Französischen Revolution; man riß eines der Stücke ab, die gerade durch die Revolution mit Frankreich in eins geschweißt worden.

Militärisch hatte die Annexion allerdings einen Zweck. Durch Metz und Straßburg erhält Deutschland eine Verteidigungsfront von ungeheurer Stärke. Solange Belgien und die Schweiz neutral, kann ein französischer Massenangriff nirgends anders ansetzen als auf dem schmalen Strich zwischen Metz und den Vogesen; und dazu bilden Koblenz, Metz, Straßburg, Mainz das stärkste und größte Festungsviereck der Welt. Aber auch dies Festungsviereck, wie das österreichische in der Lombardei, liegt zur Hälfte in Feindesland und bildet dort Zwingburgen zur Niederhaltung der Bevölkerung. Noch mehr: Um es zu vervollständigen, mußte über das deutsche Sprachgebiet hinausgegriffen, mußte eine Viertelmillion Nationalfranzosen mit annektiert werden.

Der strategische große Vorteil ist also der einzige Punkt, der die Annexion entschuldigen kann. Aber steht dieser Gewinn in irgendwelchem Verhältnis zu dem Schaden, den man sich dadurch antat?

Für den großen moralischen Nachteil, worin das junge Deutsche Reich sich setzte, indem es die brutale Gewalt offen und ungeheuchelt als sein Grundprinzip erklärte - dafür hat der preußische Junker keine Augen. Im Gegenteil, widerhaarige, gewaltsam im Zaum gehaltene Untertanen sind ihm Bedürfnis; sie sind Beweise der vermehrten preußischen Macht; und im Grunde hat er nie andere gehabt. Aber wofür er verpflichtet war, Augen zu haben, das waren die politischen Folgen der Annexion. Und die lagen klar zutage. Noch ehe die Annexion rechtskräftig geworden, rief Marx sie laut in die Welt hinaus in einem Rundschreiben der Internationale: "Die Annexion von Elsaß und Lothringen macht Rußland zum Schiedsrichter |447| Europas." Und von der Tribüne des Reichstags haben die Sozialdemokraten es oft genug wiederholt, so lange, bis die Wahrheit dieses Ausspruches endlich von Bismarck selbst in seiner Reichstagsrede vom 6. Februar 1888 anerkannt worden ist durch sein Winseln vor dem allmächtigen Zar, dem Gebieter über Krieg und Frieden.

Es war doch sonnenklar. Indem man von Frankreich zwei seiner fanatisch-patriotischsten Provinzen abriß, trieb man es jedem in die Arme, der ihm deren Rückgabe in Aussicht stellte, machte man sich Frankreich zum ewigen Feind. Bismarck allerdings, der in dieser Beziehung den deutschen Philister würdig und gewissenhaft repräsentiert, verlangt von den Franzosen, sie sollen nicht nur staatsrechtlich, sondern auch moralisch auf Elsaß-Lothringen verzichten, sie sollen sich noch ordentlich freuen, daß diese beiden Stücke des revolutionären Frankreichs "dem alten Vaterlande wiedergegeben sind", von dem sie platterdings nichts wissen wollen. Das tun aber die Franzosen leider ebensowenig, wie die Deutschen während der napoleonischen Kriege auf das linke Rheinufer moralisch verzichteten, trotzdem auch dieses damals sich keineswegs nach ihnen zurücksehnte. Solange die Elsässer und Lothringer nach Frankreich zurückverlangen, solange wird und muß Frankreich nach ihrer Wiedererlangung streben und sich nach den Mitteln dazu umsehen, also unter anderen auch nach Bundesgenossen. Und der natürliche Bundesgenosse gegen Deutschland ist Rußland.

Wenn die beiden größten und stärksten Nationen des westlichen Kontinents sich gegenseitig durch Feindseligkeit neutralisieren, wenn sogar ein ewiger Zankapfel zwischen ihnen liegt und sie zum Kampfe gegeneinander hetzt, so hat den Vorteil davon - nur Rußland, dessen Hände dann um so freier sind; Rußland, das in seinen Eroberungsgelüsten von Deutschland um so weniger gehindert werden kann, je mehr es von Frankreich unbedingte Unterstützung erwarten darf. Und hat nicht Bismarck Frankreich in die Lage versetzt, daß es um Rußlands Allianz betteln, daß es Rußland Konstantinopel gern überlassen muß, wenn Rußland ihm nur seine verlorenen Provinzen zusagt? Und wenn trotzdem der Friede siebzehn Jahre erhalten worden, woher anders kommt das als daher, daß das in Frankreich und Rußland eingeführte Landwehrsystem mindestens sechzehn, ja nach neuester deutscher Verbesserung sogar fünfundzwanzig Jahre braucht, um die volle Zahl eingeübter Mannschaftsjahrgänge zu liefern? Und nachdem die Annexion nun schon siebzehn Jahre lang das die ganze Politik Europas beherrschende Faktum gewesen, ist sie nicht in diesem Augenblick die Grundursache der ganzen, den Weltteil mit Krieg bedrohenden Krise? Nehmt diese eine Tatsache weg, und der Friede ist gesichert!

|448| Der Elsässer Bourgeois mit seinem oberdeutsch ausgesprochenen Französisch, dieser halbschlächtige Geck, der sich französischer gebärdet als irgendein Stockfranzose, der auf Goethe herabsieht und für Racine schwärmt, der dabei das böse Gewissen seiner geheimen Deutschheit doch nicht los wird und eben deshalb über alles Deutsche wegwerfend schwadronieren muß, so daß er nicht einmal zum Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich taugt - dieser Elsässer Bourgeois ist allerdings ein verächtlicher Kerl, sei er nun Mülhauser Fabrikant oder Pariser Journalist. Aber wer hat ihn zu dem gemacht, was er ist, wer anders als die deutsche Geschichte der letzten dreihundert Jahre? Und waren nicht bis noch ganz vor kurzem fast alle Deutschen im Ausland, namentlich die Kaufleute, echte Elsässer, die ihr Deutschtum verleugneten, die fremde Nationalität ihrer neuen Heimat sich mit einer wahren Selbsttierquälerei anquälten und dabei sich freiwillig mindestens ebenso lächerlich machten wie die Elsässer, die doch mehr oder weniger durch die Umstände dazu genötigt sind? In England z.B. war die ganze von 1815 bis 1840 eingewanderte deutsche Kaufmannschaft fast ausnahmslos verengländert, sprach auch unter sich fast nur englisch, und noch heute laufen, auf der Börse von Manchester z.B., diverse alte deutsche Philister herum, die ihr halbes Vermögen hingäben, könnten sie als volle Engländer passieren. Erst seit 1848 ist auch hierin ein Umschwung eingetreten, und seit 1870, wo sogar der Reservelieutenant nach England kommt und Berlin sein Kontingent herschickt, wird die ehemalige Kriecherei verdrängt durch eine preußische Hochnäsigkeit, die uns im Ausland nicht minder lächerlich macht.

Und ist etwa den Elsässern die Vereinigung mit Deutschland seit 1871 mundgerechter gemacht worden? Im Gegenteil. Man hat sie unter Diktatur gestellt, während nebenan, in Frankreich, die Republik herrschte. Man hat die pedantisch-zudringliche preußische Landratswirtschaft bei ihnen eingeführt, gegen die die - gesetzlich streng geregelte - Einmischung der verrufenen französischen Prätektenwirtschaft golden ist. Man machte dem letzten Rest von Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht ein rasches Ende, man löste widerhaarige Stadträte auf und setzte deutsche Bürokraten als Bürgermeister ein. Dagegen aber schmeichelte man den "Notabeln", d.h. den durchaus französierten Adeligen und Bourgeois, und schützte sie in ihrer Aussaugung der wenn auch nicht deutschgesinnten, aber doch deutschredenden Bauern und Arbeiter - die das einzige Element bildeten, an das ein Aussöhnungsversuch anknüpfen konnte. Und was hatte man davon? Daß im Februar 1887, als ganz Deutschland sich einschüchtern ließ und die Bismarcksche Kartellmajorität in den Reichstag schickte, daß |449| damals Elsaß-Lothringen lauter entschiedene Franzosen wählte und jeden verwarf, der nur der leisesten deutschen Sympathien verdächtig war.

Wenn nun die Elsässer sind, wie sie sind, haben wir ein Recht, uns darüber zu erbosen? Keineswegs. Ihr Widerwille gegen die Annexion ist eine geschichtliche Tatsache, die nicht heruntergerissen, sondern erklärt sein will. Und da müssen wir uns fragen: Wie viele und wie kolossale geschichtliche Sünden mußte Deutschland begehen, bis diese Gesinnung im Elsaß möglich wurde? Und wie muß unser neues Deutsches Reich sich von außen her ausnehmen, wenn nach siebzehn Jahren des Wiederverdeutschungsversuchs die Elsässer uns einstimmig zurufen: verschont uns damit? Haben wir das Recht, uns einzubilden, daß zwei glückliche Feldzüge und siebzehn Jahre Bismarckscher Diktatur genügen, um die sämtlichen Wirkungen einer dreihundertjährigen schmachvollen Geschichte auszulöschen?

Bismarck war am Ziel. Sein neues preußisch-deutsches Kaisertum war in Versailles, im Prachtsaal Ludwigs XIV., öffentlich ausgerufen worden. Frankreich lag wehrlos zu seinen Füßen; das trotzige Paris, das er selbst nicht anzutasten gewagt, war von Thiers in den Aufstand der Kommune hineingehetzt und dann von den aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Soldaten der exkaiserlichen Armee zu Boden geschlagen. Der europäische Gesamtphilister staunte Bismarck an, wie er in den fünfziger Jahren dessen Vorbild Louis Bonaparte angestaunt hatte. Deutschland war mit russischer Hülfe die erste Macht in Europa geworden, und alle Macht Deutschlands lag in den Händen des Diktators Bismarck. Jetzt kam es darauf an, was er mit dieser Macht anzufangen wisse. Hatte er bisher die Einheitspläne der Bourgeoisie, wenn auch nicht mit den Mitteln der Bourgeoisie, sondern mit bonapartistischen Mitteln durchgeführt, so war dies Thema jetzt so ziemlich erschöpft, so galt es jetzt, eigne Pläne zu machen, zu zeigen, welche Ideen sein eigner Kopf zu produzieren fähig war. Und das mußte offenbar werden beim innern Ausbau des neuen Reichs.

Die deutsche Gesellschaft setzt sich zusammen aus Großgrundbesitzern, Bauern, Bourgeois, Kleinbürgern und Arbeitern, die sich wiederum in drei Hauptklassen gruppieren.

Der größere Grundbesitz ist in den Händen einiger weniger Magnaten (namentlich in Schlesien) und einer großen Zahl mittlerer Grundeigentümer, die in den altpreußischen Provinzen östlich der Elbe am dichtesten sitzen. Diese preußischen Junker sind es auch, die die ganze Klasse mehr oder weniger dominieren. Sie sind selbst Landwirte, insofern sie ihre Güter großenteils durch Inspektoren bebauen lassen, und daneben sehr häufig Besitzer von Schnapsbrennereien und Rübenzuckerfabriken. Ihr Grundbesitz |450| ist, wo es anging, als Majorat in der Familie festgelegt. Die jüngeren Söhne treten in die Armee oder den staatlichen Zivildienst, so daß sich an diesen grundbesitzenden Kleinadel ein noch kleinerer Offiziers- und Beamtenadel hängt, der obendrein noch durch die starke Adelsfabrikation unter den bürgerlichen höheren Offizieren und Beamten Zuwachs erhält. An der unteren Grenze dieser ganzen adligen Sippschaft bildet sich naturgemäß ein zahlreicher Schmarotzeradel, ein adliges Lumpenproletariat, das vom Schuldenmachen, zweifelhaftem Spiel, Zudringlichkeit, Bettel und politischer Spionage lebt. Die Gesamtheit dieser Gesellschaft bildet das preußische Junkertum und ist eine der Hauptstützen des altpreußischen Staats. Aber der grundbesitzende Kern dieses Junkertums steht selbst auf gar schwachen Füßen. Die Pflicht, standesgemäß zu leben, wird täglich kostspieliger; die Unterstützung der jüngern Söhne bis durch das Lieutenants- und Assessorsstadium, die Unterbringung der Töchter im Ehestand, alles das kostet Geld; und da das alles Pflichten sind, vor deren Erfüllung alle andern Rücksichten schweigen müssen, ist es kein Wunder, daß die Einkünfte nicht reichen, daß Wechsel unterschrieben oder gar Hypotheken aufgenommen werden. Kurzum, die ganze Junkerschaft steht immerdar am Rand des Abgrunds; jeder Unfall, sei es Krieg, Mißernte oder Handelskrise, droht sie hineinzustürzen; und so ist es kein Wunder, daß sie seit reichlich hundert Jahren nur durch Staatshülfe aller Art vom Untergang gerettet worden ist und in Wirklichkeit nur durch Staatshülfe fortbesteht. Diese nur künstlich erhaltene Klasse ist dem Untergang geweiht; keine Staatshülfe kann sie auf die Dauer am Leben erhalten. Aber mit ihr verschwindet auch der alte preußische Staat.

Der Bauer ist politisch ein wenig aktives Element. Soweit er selbst Eigentümer, verkommt er mehr und mehr durch die ungünstigen Produktionsbedingungen des der alten gemeinen Mark oder Gemeinweide - ohne die für ihn kein Viehstand möglich - beraubten Parzellenbauern. Soweit er Pächter, steht's noch schlimmer um ihn. Der kleinbäuerliche Betrieb setzt vorwiegend Naturalwirtschaft voraus, an der Geldwirtschaft geht er zugrunde. Daher steigende Verschuldung, massenweise Expropriation durch den Hypothekengläubiger, Zuflucht zur Hausindustrie, um nur nicht ganz von der Scholle vertrieben zu werden. Politisch ist die Bauernschaft meist indifferent oder reaktionär: am Rhein aus altem Preußenhaß ultramontan, in andern Gegenden partikularistisch oder protestantisch-konservativ. Das religiöse Gefühl dient bei dieser Klasse noch als Aufdruck gesellschaftlicher oder politischer Interessen.

Die Bourgeoisie haben wir bereits behandelt. Sie war seit 1848 in einem unerhörten ökonomischen Aufschwung begriffen. An der kolossalen Aus- |451| dehnung der Industrie nach der Handelskrise von 1847, bedingt durch die in diese Periode fallende Herstellung einer ozeanischen Dampfschiffahrt, durch die enorme Ausdehnung der Eisenbahnen und durch die Goldschätze Kaliforniens und Australiens, hatte Deutschland wachsenden Anteil genommen. Grade ihr Drang nach Beseitigung der kleinstaatlichen Verkehrshindernisse und nach ebenbürtiger Weltmarktsstellung neben ihren auswärtigen Konkurrenten hatte Bismarcks Revolution in Bewegung gesetzt. Jetzt, wo die französischen Milliarden Deutschland überfluteten, eröffnete sich für die Bourgeoisie eine neue Periode fieberhafter Erwerbstätigkeit, in der sie sich zum erstenmal als große Industrienation bewies durch einen nationaldeutschen Krach. Sie war damals schon ökonomisch die mächtigste Klasse der Bevölkerung; ihren ökonomischen Interessen mußte der Staat gehorchen; die Revolution von 1848 hatte den Staat in die äußere konstitutionelle Form übergeführt, worin sie auch politisch herrschen und ihre Herrschaft ausbilden konnte. Trotzdem war sie noch weit entfernt von der wirklichen politischen Herrschaft. Im Konflikt war sie gegen Bismarck nicht siegreich gewesen; die Beseitigung des Konflikts durch die Revolutionierung Deutschlands von oben hatte ihr des ferneren beigebracht, daß die Exekutivgewalt einstweilen noch von ihr höchstens in sehr indirekter Weise abhängig sei, daß sie weder Minister absetzen oder aufdringen, noch über die Armee verfügen könne. Dabei war sie feig und schlaff gegenüber einer energischen Exekutivgewalt, aber das waren die Junker auch, und sie hatte mehr Entschuldigung als diese durch ihren direkten ökonomischen Gegensatz zur revolutionären industriellen Arbeiterklasse. Aber sicher war, daß sie das Junkertum allmählich ökonomisch vernichten mußte, daß sie von allen besitzenden Klassen die einzige war, die noch Aussicht auf eine Zukunft besaß.

Das Kleinbürgertum bestand erstens aus Resten des mittelalterlichen Handwerks, die in dem lange zurückgebliebnen Deutschland massenhafter vertreten waren als im übrigen Westeuropa, zweitens aus heruntergekommnen Bourgeois, drittens aus bis zum Kleinhandel emporgekommnen Elementen der besitzlosen Bevölkerung. Mit der Ausdehnung der großen Industrie verlor die Existenz der gesamten Kleinbürgerschaft den letzten Rest von Stabilität; Erwerbswechsel und periodischer Bankerott wurden die Regel. Diese früher so stabile Klasse, die die Kerntruppe des deutschen Philisteriums gewesen, sank aus der früheren Zufriedenheit, Zahmheit, Knechts- und Gottseligkeit und Ehrbarkeit hinab in wüste Zerfahrenheit und Mißvergnügen mit dem ihr von Gott beschiednen Geschick. Die Reste des Handwerks schrien nach Wiederherstellung der Zunftprivilegien, von |452| den andern wurde ein Teil sanft demokratisch-fortschrittlich, ein andrer näherte sich sogar der Sozialdemokratie und schloß sich stellenweise direkt der Arbeiterbewegung an.

Endlich die Arbeiter. Von den ländlichen Arbeitern lebten wenigstens die des Ostens noch immer in einer halben Leibeigenschaft und waren nicht zurechnungsfähig. Dagegen hatte unter den städtischen Arbeitern die Sozialdemokratie reißende Fortschritte gemacht und wuchs in dem Maß, wie die große Industrie die Volksmassen proletarisierte und damit den Klassengegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeitern auf die Spitze trieb. Waren auch die sozialdemokratischen Arbeiter einstweilen noch in zwei sich bekämpfende Parteien gespalten, so war doch seit dem Erscheinen von Marx' "Kapital" der prinzipielle Gegensatz zwischen beiden so gut wie verschwunden. Der Lassalleanismus strikter Observanz, mit der ausschließlichen Forderung von "Produktionsgenossenschaften mit Staatshülfe", schlief allmählich ein und erwies sich mehr und mehr ungeeignet, den Kern einer bonapartistisch-staatssozialistischen Arbeiterpartei abzugeben. Was einzelne Führer in dieser Beziehung verbrochen, wurde von dem gesunden Sinn der Massen wieder gutgemacht. Die Einigung der beiden sozialdemokratischen Richtungen, fast nur noch durch Personenfragen hintangehalten, war in naher Zukunft sicher. Aber schon während der Spaltung und trotz der Spaltung war die Bewegung mächtig genug, um der industriellen Bourgeoisie Schrecken einzujagen und sie in ihrem Kampf gegen die noch von ihr unabhängige Regierung zu lahmen; wie denn die deutsche Bourgeoisie überhaupt seit 1848 das rote Gespenst nicht wieder loswurde.

Diese Klassengliederung lag der Parteigliederung im Parlament und den Landtagen zugrunde. Großgrundbesitz und ein Teil der Bauernschaft bildeten die Masse der Konservativen; die industrielle Bourgeoisie lieferte den rechten Flügel des bürgerlichen Liberalismus: die Nationalliberalen, während der linke Flügel - die abgeschwächte demokratische oder sog. Fortschrittspartei - von den Kleinbürgern, unterstützt von einem Teil der Bourgeoisie wie der Arbeiter, gestellt wurde. Die Arbeiter endlich hatten ihre selbständige Partei, zu der auch Kleinbürger gehörten, in der Sozialdemokratie.

Ein Mann in Bismarcks Stellung und mit Bismarcks Vergangenheit mußte sich bei einiger Einsicht in die Sachlage sagen, daß die Junker, wie sie waren, keine lebensfähige Klasse bildeten, daß von allen besitzenden Klassen nur die Bourgeoisie eine Zukunft beanspruchen konnte und daß daher (abgesehn von der Arbeiterklasse, deren geschichtliche Sendung zu begreifen wir ihm nicht zumuten wollen) sein neues Reich um so sichereren |453| Bestand versprach, je mehr er es allmählich auf den Übergang in einen modernen Bourgeoisstaat vorbereitete. Muten wir ihm nichts zu, was ihm unter den Umständen unmöglich war. Ein sofortiger Übergang zur parlamentarischen Regierung mit der entscheidenden Macht im Reichstag (wie im englischen Unterhaus) war weder möglich noch selbst augenblicklich ratsam; die Diktatur Bismarcks in parlamentarischen Formen mußte ihm selbst als zunächst noch notwendig erscheinen; wir nehmen ihm keineswegs übel, daß er sie zunächst bestehn ließ, wir fragen bloß, wozu sie zu gebrauchen war. Und da kann schwerlich ein Zweifel sein, daß die Anbahnung eines der englischen Verfassung entsprechenden Zustands der einzige Weg war, auf dem sich Aussicht bot, dem neuen Reich eine feste Grundlage und eine ruhige innere Entwicklung zu sichern. Indem man den größeren, ohnehin unrettbaren Teil seiner Junkerschaft dem bevorstehenden Untergang überließ, schien es immer noch möglich, aus dem Rest und aus neuen Elementen eine Klasse unabhängiger Großgrundbesitzer sich aufbauen zu lassen, die selbst nur die ornamentale Spitze der Bourgeoisie war; eine Klasse, der die Bourgeoisie, selbst im Vollgenuß ihrer Macht, die staatliche Repräsentation und damit die fettesten Posten und sehr großen Einfluß überlassen mußte. Indem man der Bourgeoisie die politischen Konzessionen, die ihr auf die Dauer doch nicht vorenthalten werden konnten (so mußte man wenigstens vom Standpunkt der besitzenden Klassen urteilen), indem man ihr diese Konzessionen allmählich und selbst in kleinen und seltnen Dosen zukommen ließ, leitete man das neue Reich wenigstens auf die Bahn, worin es den übrigen, ihm politisch weit vorausgeeilten Staaten Westeuropas nachkommen konnte, wo es endlich die letzten Reste des Feudalismus wie der die Bürokratie noch stark beherrschenden Philistertradition abschüttelte, und machte es vor allen Dingen fähig, auf eignen Füßen zu stehn an dem Tage, wo seine keineswegs jugendlichen Gründer das Zeitliche segnen würden.

Dabei war das gar nicht einmal schwer. Weder Junker noch Bourgeois hatten auch nur durchschnittliche Energie. Die Junker hatten das seit sechzig Jahren bewiesen, wo der Staat fortwährend ihr eignes Beste durchführte gegen die Opposition dieser Don Quixoten. Die Bourgeoisie, ebenfalls durch lange Vorgeschichte geschmeidig gemacht, hatte den Konflikt noch schwer in den Knochen liegen; seitdem brachen Bismarcks Erfolge ihre Widerstandskraft noch mehr, und den Rest tat die Furcht vor der drohend anwachsenden Arbeiterbewegung. Unter solchen Umständen konnte es dem Mann, der die nationalen Wünsche der Bourgeoisie verwirklicht hatte, nicht schwer werden, in der Verwirklichung ihrer im ganzen schon sehr |454| bescheidnen politischen Wünsche jedes ihm beliebige Tempo einzuhalten. Nur mußte er sich über das Ziel klar sein.

Vom Standpunkt der besitzenden Klassen aus war dies das einzig Rationelle. Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zeigt es sich freilich, daß es schon zu spät war zur Errichtung einer dauernden Bourgeoisherrschaft. Die große Industrie, und mit ihr Bourgeoisie und Proletariat, bildeten sich in Deutschland aus zu einer Zeit, wo fast gleichzeitig mit der Bourgeoisie das Proletariat die politische Bühne selbständig betreten konnte, wo also der Kampf beider Klassen schon beginnt, ehe die Bourgeoisie sich die ausschließliche oder vorwiegende politische Macht erobert hat. Aber wenn es auch für eine ruhige und festbegründete Herrschaft der Bourgeoisie in Deutschland zu spät ist, so war es immer noch im Jahr 1870 die beste Politik, im Interesse der besitzenden Klassen überhaupt, auf diese Bourgeoisherrschaft loszusteuern. Denn dadurch allein war es möglich, die massenhaften Überreste aus der Zeit des verfaulenden Feudalismus zu beseitigen, die in Gesetzgebung und Verwaltung fortwucherten; nur so war es möglich, die gesamten Resultate der großen Französischen Revolution allmählich in Deutschland heimisch zu machen, kurz, Deutschland den riesenlangen alten Zopf abzuschneiden und es bewußt und endgiltig auf die Bahn der modernen Entwicklung zu leiten, seine politischen Zustände seinen industriellen Zuständen anzupassen. Kam dann schließlich der unvermeidliche Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, so vollzog er sich mindestens unter normalen Umständen, wo jeder sehn konnte, um was es sich handelte, und nicht in einer Verwirrung, Unklarheit, Interessendurchkreuzung und Ratlosigkeit, wie wir sie 1848 in Deutschland gesehn. Nur mit dem Unterschied, daß diesmal die Ratlosigkeit ausschließlich auf selten der Besitzenden sein wird; die Arbeiterklasse weiß, was sie will.

Wie die Dinge 1871 in Deutschland lagen, war ein Mann wie Bismarck in der Tat auf eine zwischen den verschiednen Klassen lavierende Politik angewiesen. Und soweit ist ihm nichts vorzuwerfen. Es kommt nur darauf an, auf welches Ziel diese Politik gerichtet war. Ging sie, einerlei in welchem Tempo, aber bewußt und resolut auf die schließliche Bourgeoisherrschaft los, so war sie im Einklang mit der geschichtlichen Entwicklung, soweit sie dies vom Standpunkt der besitzenden Klassen überhaupt sein konnte. Ging sie los auf die Erhaltung des altpreußischen Staats, auf die allmähliche Verpreußung Deutschlands, so war sie reaktionär und zum schließlichen Scheitern verdammt. Ging sie los auf die bloße Erhaltung der Herrschaft Bismarcks, so war sie bonapartistisch und mußte enden wie aller Bonapartismus.

|455| Die nächste Aufgabe war die Reichsverfassung. Als Material lagen vor einerseits die norddeutsche Bundesverfassung, andrerseits die Verträge mit den süddeutschen Staaten. Die Faktoren, mit deren Hülfe Bismarck die Reichsverfassung ins Leben zu rufen hatte, waren einerseits die im Bundesrat vertretnen Dynastien, andrerseits das im Reichstag vertretne Volk. Den Ansprüchen der Dynastien war in der norddeutschen Verfassung und den Verträgen eine Grenze gesetzt. Das Volk dagegen hatte Anspruch darauf, daß sein Anteil an der politischen Macht bedeutend vergrößert werde. Es hatte die Unabhängigkeit von fremder Einmischung und die Einigung - soweit davon die Rede sein konnte - auf dem Schlachtfeld erkämpft; es war auch in erster Linie berufen zu entscheiden, wozu diese Unabhängigkeit benutzt, wie diese Einigung im einzelnen ausgeführt und verwertet werden sollte. Und selbst wenn das Volk den in der norddeutschen Verfassung und den Verträgen vorliegenden Rechtsboden anerkannte, hinderte das doch keineswegs, daß es in der neuen Verfassung einen größern Machtanteil erhielt als in der bisherigen. Der Reichstag war die einzige Körperschaft, die in Wirklichkeit die neue "Einheit" darstellte. Je schwerer die Stimme des Reichstags wog, je freier die Reichsverfassung war gegenüber den Landesverfassungen, desto fester mußte sich das neue Reich ineinanderfügen, desto mehr mußte der Bayer, der Sachse, der Preuße aufgehn in dem Deutschen.

Für jeden Menschen, der weiter sah als seine Nase, mußte das einleuchtend sein. Aber Bismarcks Meinung war das keineswegs. Im Gegenteil benützte er den nach dem Krieg eingerissenen patriotischen Taumel grade dazu, die Majorität des Reichstags dahin zu bringen, daß sie auf jede, nicht nur Erweiterung, sondern selbst klare Feststellung der Rechte des Volks verzichtete und sich darauf beschränkte, den in der norddeutschen Verfassung und den Verträgen vorliegenden Rechtsboden in der Reichsverfassung einfach wiederzugeben. Alle Versuche der kleinen Parteien, die Freiheitsrechte des Volks darin zum Ausdruck zu bringen, wurden verworfen, selbst der Antrag des katholischen Zentrums auf Einrückung der preußischen Verfassungsartikel, enthaltend die Garantie der Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie der Selbständigkeit der Kirche. Die preußische Verfassung, doppelt und dreifach beschnitten, wie sie war, blieb also immer noch liberaler als die Reichsverfassung. Die Steuern wurden nicht jährlich, sondern ein für allemal "durch Gesetz" bewilligt, so daß Steuerverweigerung durch den Reichstag ausgeschlossen ist. Hiermit war die der außerdeutschen konstitutionellen Welt unbegreifliche preußische Doktrin auf Deutschland angewandt, die Doktrin, daß die Volksvertretung nur das Recht hat, die Ausgaben auf dem Papier zu verweigern, während die Regierung die |456| Einnahmen in klingender Münze in den Sack steckt. Während aber so der Reichstag der besten Machtmittel beraubt und auf die demütige Stellung der durch die Revisionen von 1849 und 1850, durch die Manteuffelei, durch den Konflikt und durch Sadowa gebrochnen preußischen Kammer herabgedrückt wird, erfreut sich der Bundesrat im wesentlichen aller Machtvollkommenheiten, die der alte Bundestag nominell besaß, und erfreut sich ihrer in Wirklichkeit, denn er ist befreit von den Fesseln, die den Bundestag lahmlegten. Der Bundesrat hat nicht nur in der Gesetzgebung eine entscheidende Stimme neben dem Reichstag, er ist auch höchste Verwaltungsinstanz, insofern er die Ausführungsbestimmungen der Reichsgesetze erläßt, und beschließt außerdem "über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgesetze ... hervortreten", d.h. über Mängel, denen in andern zivilisierten Ländern nur ein neues Gesetz abhelfen kann (Art. 7, Al. 3, der einer juristischen Konfliktsfalle sehr ähnlich sieht).

Sonach hat Bismarck seine Hauptstütze gesucht nicht im Reichstag, der die nationale Einheit, sondern im Bundesrat, der die partikularistische Zersplitterung vertritt. Er hatte nicht den Mut - er, der sich als Vertreter des nationalen Gedankens aufspielte -, wirklich an die Spitze der Nation oder ihrer Vertreter sich zu stellen; die Demokratie sollte ihm dienen, nicht aber er ihr; eher als auf das Volk verließ er sich auf krumme Schleichwege hinter den Kulissen, auf die Fähigkeit, durch diplomatische Mittel, Zuckerbrot und Peitsche, sich im Bundesrat eine wenn auch widerhaarige Majorität zusammenzuklüngeln. Die Kleinlichkeit der Auffassung, die Niedrigkeit des Standpunkts, die sich uns hier offenbart, entspricht ganz dem Charakter des Mannes, wie wir ihn bisher kennengelernt. Dennoch dürfen wir uns wundern, daß seine großen Erfolge ihn nicht wenigstens für einen Augenblick über ihn selbst hinauszuheben vermochten.

Der Fall lag aber so, daß es darauf ankam, der ganzen Reichsverfassung einen einzigen festen Drehzapfen zu geben, nämlich den Reichskanzler. Der Bundesrat mußte eine Stellung erhalten, die eine andre verantwortliche Exekutive als die des Reichskanzlers unmöglich machte und dadurch die Zulässigkeit verantwortlicher Reichsminister ausschloß. In der Tat stieß jeder Versuch, die Reichsverwaltung durch Einsetzung eines verantwortlichen Ministeriums zu ordnen, auf unüberwindlichen Widerstand als Eingriff in die Rechte des Bundesrats. Die Verfassung war, wie man bald entdeckte, Bismarck "auf den Leib zugeschnitten". Sie war ein Schritt weiter auf dem Weg zu seiner persönlichen Alleinherrschaft, vermittelst Balancierung der Parteien im Reichstag, der Partikularstaaten im Bundesrat - ein Schritt weiter auf dem Weg des Bonapartismus.

|457| Im übrigen kann man nicht sagen, daß - abgesehn von einzelnen Konzessionen an Bayern und Württemberg - die neue Reichsverfassung einen direkten Rückschritt ausmacht. Das ist aber auch das beste, was man von ihr sagen kann. Die ökonomischen Bedürfnisse der Bourgeoisie waren im wesentlichen befriedigt, ihren politischen Ansprüchen - soweit sie deren noch machte - war derselbe Riegel vorgestreckt wie zur Konfliktszeit.

Soweit sie politische Ansprüche noch machte. Denn es ist unleugbar, daß diese Ansprüche in den Händen der Nationalliberalen auf ein sehr bescheidnes Maß zusammengeschrumpft waren und täglich noch mehr zusammenschrumpften. Die Herren, weit entfernt zu verlangen, Bismarck möge ihnen das Zusammenwirken mit ihm erleichtern, waren vielmehr bestrebt, ihm zu Willen zu sein, da wo es ging, und auch schon manchmal, wo es nicht ging oder nicht gehn gesollt. Daß Bismarck sie verachtete, kann ihm kein Mensch verübeln - aber waren denn seine Junker um ein Haar besser und männlicher?

Das nächste Gebiet, worauf die Reichseinheit herzustellen blieb, das Geldwesen, wurde geordnet durch die Münz- und Bankgesetze von 1873 bis 1875. Die Einführung der Goldwährung war ein bedeutender Fortschritt; aber nur zaudernd und schwankend wurde sie eingeführt und steht heute noch nicht auf ganz festen Füßen. Das angenommene Geldsystem - der Dritteltaler unter dem Namen Mark als Einheit mit dezimaler Teilung - war das gegen Ende der dreißiger Jahre von Soetbeer vorgeschlagne; das tatsächliche Einheitsstück war das goldne Zwanzigmarkstück. Mit einer fast unmerklichen Wertänderung konnte man es absolut gleichwertig machen entweder mit dem englischen Sovereign oder dem goldnen Fünfundzwanzigfrankenstück oder dem amerikanischen goldnen Fünfdollarstück und damit einen Anschluß gewinnen an eines der drei großen Münzsysteme des Weltmarkts. Man zog es vor, ein apartes Münzsystem zu schaffen und damit den Verkehr und die Kursberechnungen unnötig zu erschweren. Die Gesetze über Reichskassenscheine und Banken beschränkten den Papierschwindel der Kleinstaaten und kleinstaatlichen Banken und beobachteten in Erwägung des inzwischen eingetretnen Krachs eine gewisse Ängstlichkeit, wie sie dem auf diesem Gebiete noch unerfahrnen Deutschland wohl anstand. Auch hier waren die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie im ganzen entsprechend gewahrt.

Endlich kam noch die Vereinbarung einheitlicher Justizgesetze. Der Widerstand der Mittelstaaten gegen Ausdehnung der Reichskompetenz auch auf das materielle bürgerliche Recht wurde überwunden; das bürgerliche Gesetzbuch ist aber noch im Werden, während Strafgesetz, Straf- und |458| Zivilprozeß, Handelsrecht, Konkursordnung und Gerichtsverfassung einheitlich geregelt sind. Die Beseitigung der buntscheckigen kleinstaatlichen formellen und materiellen Rechtsnormen war an sich schon ein dringendes Bedürfnis der fortschreitenden bürgerlichen Entwicklung, und in dieser Beseitigung besteht auch das Hauptverdienst der neuen Gesetze - weit weniger in ihrem Inhalt.

Der englische Jurist fußt auf einer Rechtsgeschichte, die ein gut Stück altgermanischer Freiheit über das Mittelalter hinaus gerettet hat, die den in beiden Revolutionen des 17. Jahrhunderts im Keim erstickten Polizeistaat nicht kennt und in zwei Jahrhunderten stetiger Entwicklung der bürgerlichen Freiheit gipfelt. Der französische Jurist fußt auf der großen Revolution, die nach totaler Vernichtung des Feudalismus und der absolutistischen Polizeiwillkür die ökonomischen Lebensbedingungen der neuhergestellten modernen Gesellschaft in die Sprache juristischer Rechtsnormen übersetzte in ihrem klassischen, von Napoleon proklamierten Gesetzbuch. Dagegen, was ist die historische Unterlage unsrer deutschen Juristen? Nichts als der jahrhundertlange passive, meist durch Schläge von außen vorangetriebne, bis heute noch nicht vollendete Zersetzungsprozeß der Reste des Mittelalters; eine ökonomisch zurückgebliebne Gesellschaft, worin der Feudaljunker und der Zunftmeister als Gespenster umgehn und einen neuen Leib suchen; ein Rechtszustand, in welchen die Polizeiwillkür - wenn auch die fürstliche Kabinettsjustiz 1848 verschwunden - noch täglich Loch an Loch reißt. Aus dieser schlechtesten aller schlechten Schulen sind sie hervorgegangen, die Väter der neuen Reichsgesetzbücher, und die Arbeit ist eben danach. Von der rein juristischen Seite abgesehn, kommt die politische Freiheit in diesen Gesetzbüchern schlecht genug weg. Wenn die Schöffengerichte der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum ein Mittel an die Hand geben, bei der Niederhaltung der Arbeiterklasse mitzuwirken, so deckt sich der Staat doch möglichst gegen die Gefahr einer erneuerten bürgerlichen Opposition durch die Beschränkung der Geschwornengerichte. Die politischen Paragraphen des Strafgesetzbuchs sind oft genug von einer Unbestimmtheit und Dehnbarkeit, als wären sie auf das jetzige Reichsgericht, und dieses auf sie, zugeschnitten. Daß die neuen Gesetzbücher ein Fortschritt sind gegenüber dem preußischen Landrecht ist selbstredend - so etwas Schauerliches wie dies Gesetzbuch bringt heutzutage selbst Stoecker nicht mehr fertig, und wenn er sich auch beschneiden ließe. Aber die Provinzen, die bisher das französische Recht gehabt, empfinden den Unterschied der verwaschenen Kopie und des klassischen Originals nur zu sehr. Es war der Abfall der Nationalliberalen von ihrem Programm, der |459| diese Stärkung der Staatsgewalt auf Kosten der bürgerlichen Freiheit, diesen ersten positiven Rückschritt, möglich machte.

Zu erwähnen ist noch das Reichspreßgesetz. Das Strafgesetzbuch hatte das hier in Frage kommende materielle Recht schon im wesentlichen geregelt; die Herstellung gleicher formeller Bestimmungen für das ganze Reich und die Beseitigung der hier und da noch bestehenden Kautionen und Stempel machten also den Hauptinhalt dieses Gesetzes aus und zugleich den einzigen dadurch bewirkten Fortschritt.

Damit Preußen sich abermals als Musterstaat bewähre, wurde dort die sogenannte Selbstverwaltung eingeführt. Es handelte sich darum, die anstößigsten Reste des Feudalismus zu beseitigen und doch, der Sache nach, möglichst alles beim alten zu lassen. Dazu diente die Kreisordnung. Die gutsherrliche Polizeigewalt der Herren Junker war ein Anachronismus geworden. Sie wurde dem Namen nach - als Feudalprivilegium - aufgehoben und der Sache nach wiederhergestellt, indem man selbständige Gutsbezirke schuf, innerhalb deren der Gutsbesitzer entweder selbst Gutsvorsteher mit den Befugnissen eines ländlichen Gemeindevorstehers ist oder doch diesen Gutsvorsteher ernennt, und indem man zudem die gesamte Polizeigewalt und polizeiliche Gerichtsbarkeit eines Amtsbezirks einem Amtsvorsteher übertrug, der auf dem Lande natürlich fast ausnahmslos ein großer Grundbesitzer war und dadurch auch die Landgemeinden unter seine Fuchtel bekam. Das Feudalvorrecht des einzelnen wurde weggenommen, aber die damit verbundne Machtvollkommenheit wurde der ganzen Klasse gegeben. Durch einen ähnlichen Eskamotierungsprozeß verwandelten sich die englischen Großgrundbesitzer in Friedensrichter und Herren der ländlichen Verwaltung, Polizei und niedern Gerichtsbarkeit und sicherten sich so unter neuem, modernisiertem Titel den Fortgenuß aller wesentlichen, aber in der alten feudalen Form nicht mehr haltbaren Machtposten. Das ist aber auch die einzige Ähnlichkeit zwischen der englischen und der deutschen "Selbstverwaltung". Ich möchte den englischen Minister sehn, der es wagte, im Parlament anzutragen auf die Bestätigung der gewählten Gemeindebeamten und den Ersatz durch staatlich aufgezwungne Stellvertreter im Fall renitenter Wahlen, auf die Einführung von Staatsbeamten mit den Machtbefugnissen der preußischen Landräte, Bezirksregierungen und Oberpräsidenten, auf die in der Kreisordnung vorbehaltne Einmischung der Staatsverwaltung in die innern Angelegenheiten der Gemeinden, Ämter und Kreise, und nun gar auf die in Ländern englischer Zunge und englischen Rechts unerhörte Abschneidung des Rechtswegs, wie sie fast auf jeder Seite der Kreisordnung zu finden ist. Und während sowohl die Kreistage wie die |460| Provinziallandtage noch immer in altfeudaler Weise zusammengesetzt sind aus Vertretern der drei Stände: Großgrundbesitzer, Städte und Landgemeinden, bringt in England selbst ein hochkonservatives Ministerium eine Bill ein, die die gesamte Grafschaftsverwaltung an Behörden überträgt, gewählt nach fast allgemeinem Stimmrecht.

Die Vorlage der Kreisordnung für die sechs östlichen Provinzen (1871) war das erste Anzeichen, daß Bismarck nicht daran denke, Preußen in Deutschland aufgehn zu lassen, sondern im Gegenteil die feste Burg des Altpreußentums, eben diese sechs Ostprovinzen, noch mehr zu befestigen. Unter verändertem Namen behielten die Junker alle wesentlichen Machtpositionen, blieben die Heloten Deutschlands, die ländlichen Arbeiter jener Landstriche - Gesinde wie Taglöhner -, in ihrer bisherigen tatsächlichen Leibeigenschaft, zugelassen nur zu zwei öffentlichen Funktionen: Soldat zu werden und den Junkern bei den Reichstagswahlen als Stimmvieh zu dienen. Der Dienst, den Bismarck hierdurch der revolutionären sozialistischen Partei geleistet hat, ist unbeschreiblich und alles Dankes wert.

Was soll man aber sagen zu der Stupidität der Herren Junker, die gegen diese einzig in ihrem Interesse, im Interesse der längeren Erhaltung ihrer Feudalvorrechte, nur unter etwas modernisiertem Namen, ausgearbeitete Kreisordnung mit Händen und Füßen strampelten, wie es verzognen Kindern zukam? Das preußische Herren- oder vielmehr Junkerhaus verwarf zuerst die um ein volles Jahr verschleppte Vorlage und nahm sie erst an, nachdem ein Pairsschub von 24 neuen "Herren" erfolgt war. Die preußischen Junker erwiesen sich damit abermals als kleinliche, verstockte, rettungslose Reaktionäre, unfähig, den Kern einer selbständigen großen Partei mit geschichtlichem Beruf im Leben der Nation zu bilden, wie die englischen Großgrundbesitzer dies in Wirklichkeit tun. Ihren totalen Mangel an Verstand hatten sie damit festgestellt; Bismarck hatte nur noch ihren ebenso totalen Mangel an Charakter vor aller Welt klarzulegen, und ein wenig sachgemäß angewandter Druck verwandelte sie in eine Partei Bismarck sans phrase.

Dazu sollte der Kulturkampf dienen.

Die Durchführung des preußisch-deutschen Kaiserplans mußte zum Gegenschlag haben die Vereinigung aller auf früherer Sonderentwicklung beruhenden antipreußischen Elemente zu einer Partei. Ein gemeinsames Banner fanden diese buntfarbigen Elemente im Ultramontanismus. Die Rebellion des gesunden Menschenverstands, selbst bei zahllosen orthodoxen Katholiken, gegen das neue Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit einerseits, die Vernichtung des Kirchenstaats und die sogenannte |461| Gefangenschaft des Papsts in Rom andrerseits zwangen zu einem engeren Zusammenschluß aller streitbaren Kräfte des Katholizismus. So bildete sich schon während des Kriegs - Herbst 1870 - im preußischen Landtag die spezifisch katholische Partei des Zentrums; sie trat in den ersten deutschen Reichstag 1871 mit nur 57 Mann ein, verstärkte sich aber bei jeder Neuwahl, bis sie über 100 kam. Sie war aus sehr verschiedenartigen Elementen zusammengesetzt. In Preußen lag ihre Hauptstärke in den rheinischen Kleinbauern, die sich noch immer als "Mußpreußen" ansahn, weiterhin in den katholischen Großgrundbesitzern und Bauern der westfälischen Bistümer Münster und Paderborn und in den katholischen Schlesiern. Das zweite große Kontingent lieferten die süddeutschen Katholiken, namentlich die Bayern. Die Macht des Zentrums aber lag weit weniger in der katholischen Religion als darin, daß es die Antipathien der Volksmassen gegen das jetzt die Herrschaft über Deutschland beanspruchende spezifische Preußentum vertrat. Diese Antipathien waren in den katholischen Gegenden besonders lebhaft; daneben liefen Sympathien mit dem jetzt aus Deutschland hinausgeworfnen Östreich. Im Einklang mit diesen beiden populären Strömungen war das Zentrum entschieden partikularistisch und föderalistisch.

Dieser wesentlich antipreußische Charakter des Zentrums wurde von den übrigen kleinen Reichstagsfraktionen, die aus lokalen - nicht wie die Sozialdemokraten aus nationalen und allgemeinen - Gründen antipreußisch waren, sofort erkannt. Nicht nur die katholischen Polen und Elsässer, sondern selbst die protestantischen Welfen schlossen sich als Bundesgenossen eng ans Zentrum an. Und obwohl die bürgerlich-liberalen Fraktionen sich nie über den wirklichen Charakter der sog. Ultramontanen klarwurden, verrieten sie doch eine Ahnung vom richtigen Sachverhalt, wenn sie das Zentrum "vaterlandslos" und "reichsfeindlich" titulierten ... |Hier bricht die Handschrift ab|


Fußnoten von Friedrich Engels

(1) Der Krimkrieg war eine einzige kolossale Komödie der Irrungen, wo man sich bei jedem neuen Auftritt fragt: Wer soll hier geprellt werden? Aber die "Komödie kostete ungezählte Schätze und reichlich eine Million Menschenleben. Kaum war der Kampf im Gang, so marschierte Östreich in die Donaufürstentümer; die Russen zogen sich vor ihnen zurück. Dadurch war, solange Östreich neutral blieb, ein Krieg an der russischen Landgrenze gegen die Türkei unmöglich gemacht. Aber Östreich war für einen Krieg an dieser Grenze als Alliierter zu haben, vorausgesetzt, daß der Krieg ernsthaft geführt wurde, um die Wiederherstellung Polens und die dauernde Zurückschiebung der russischen Westgrenze. Dann hätte auch Preußen mitgemußt, durch das Rußland jetzt noch alle seine Zufuhren bezog; Rußland wäre zu Lande wie zu Wasser blockiert gewesen und mußte rasch erliegen. Aber das war nicht die Absicht der Alliierten. Sie waren im Gegenteil froh, jetzt aller Gefahr eines ernsthaften Kriegs enthoben zu sein. Palmerston schlug vor, den Kriegsschauplatz nach der Krim zu verlegen - was Rußland wünschte - und Louis-Napoleon ging nur zu gern darauf ein. Der Krieg konnte hier nur noch ein Scheinkrieg bleiben, und so waren alle Hauptbeteiligter. zufriedengestellt. Aber der Kaiser Nikolaus setzte sich in den Kopf, hier einen ernstlichen Krieg zu führen und vergaß dabei, daß, was für einen Scheinkrieg sein günstigstes, für einen ernstlichen Krieg sein ungünstigstes Terrain war. Die Stärke Rußlands in der Verteidigung - die ungeheuere Ausdehnung seines dünnbevölkerten, unwegsamen und an Hülfsquellen armen Gebiets - kehrt sich bei jedem russischen Angriffskrieg gegen Rußland selbst, und nirgends mehr als in der Richtung der Krim. Die südrussischen Steppen, die das Grab des Angreifers hätten werden müssen, wurden das Grab der russischen Armeen, die Nikolaus mit brutal-dummer Rücksichtslosigkeit eine nach der anderen - zuletzt mitten im Winter - nach Sewastopol trieb. Und als die letzte, eiligst zusammengeraffte, kaum notdürftig ausgerüstete, elend verpflegte Heersäule an zwei Drittel ihres Bestands auf dem Marsch verloren hatte (ganze Bataillone kamen im Schneesturm um) und der Rest nicht imstande war, die Feinde vom russischen Boden zu vertreiben, da brach der aufgeblasene Hohlkopf Nikolaus jämmerlich zusammen und vergiftete sich. Von da an wurde der Krieg wieder Scheinkrieg und führte bald zum Friedensschluß. <=

(2) Daß dies damals die allgemeine Stimmung am Rhein, davon haben Marx und ich uns an Ort und Stelle oft genug überzeugt. Linksrheinische Industrielle frugen mich u.a., wie sich ihre Industrie unter dem französischen Zolltarif befinden werde. <=

(3) Die "Rheinische Zeitung" von 1842 diskutierte von diesem Standpunkt aus die Frage von der preußischen Hegemonie. Gervinus sagte mir schon im Sommer 1843 in Ostende: Preußen muß an die Spitze Deutschlands treten; dazu ist aber dreierlei nötig: Preußen muß eine Verfassung geben, es muß Preßfreiheit geben und es muß eine auswärtige Politik annehmen, die Farbe hat. <=

(4) Noch zur Zeit des Kulturkampfs klagten mir rheinische Fabrikanten, sie könnten sonst vortreffliche Arbeiter nicht zu Aufsehern befördern wegen Mangel genügender Schulkenntnisse. Dies sei besonders in den katholischen Gegenden der Fall. <=

(5) Schon vor dem östreichischen Krieg interpelliert von einem mittelstaatlichen Minister wegen seiner demagogischen deutschen Politik, antwortete Bismarck diesem, er werde trotz aller Phrasen Östreich aus Deutschland hinauswerfen und den Bund sprengen. - "Und die Mittelstaaten, glauben Sie, daß die dabei ruhig zusehn werden?" - "Ihr Mittelstaaten, Ihr werdet gar nichts tun." - "Und was soll dann aus den Deutschen werden?" - "Dann führe ich sie nach Paris und mache sie dort einig." (Erzählt in Paris vor dem östr[eichischen] Krieg von besagtem Mittelstaatsmann und veröffentlicht während jenes Kriegs im "Manchester Guardian" von seiner Pariser Korrespondentin, Frau Crawford.) <=

(6) Es waren diese der Nationalgarde, nicht dem Staat gehörigen und eben deshalb nicht an die Preußen ausgelieferten Kanonen, die Thiers am 18. März 1871 den Befehl gab, den Parisern zu stehlen und dadurch den Aufstand veranlaßte, aus dem die Kommune hervorging. <=

(7) Man wirft Ludwig XIV. vor, seine Reunionskammern im tiefsten Frieden auf ihm nicht gehörige deutsche Gebiete losgelassen zu haben. So etwas kann auch der boshafteste Neid den Preußen nicht nachsagen. Im Gegenteil. Nachdem sie 1795 durch direkten Bruch der Reichsverfassung Separatfrieden mit Frankreich gemacht und ihre ebenfalls abtrünnigen kleinen Nachbarn hinter der Demarkationslinie zum ersten Norddeutschen Bund um sich versammelt hatten, benutzten sie die bedrängte Lage der im Verein mit Österreich den Krieg nunmehr allein fortführenden süddeutschen Reichsstände zu Annexionsversuchen in Franken. Sie errichteten in Ansbach und Bayreuth (die damals preußisch waren) Reunionskammern nach Ludwigs Muster, erhoben auf eine Reihe benachbarter Gebietsstrecken Ansprüche, denen gegenüber Ludwigs Rechtsvorwände sonnenklar überzeugend waren; und als dann die Deutschen geschlagen zurückwichen und die Franzosen in Franken einrückten, da besetzten die rettenden Preußen das Nürnberger Gebiet einschließlich der Vorstädte bis an die Stadtmauer und erschlichen von den angstschlotternden Nürnberger Spießbürgern einen Vertrag (2. September 1796), wodurch die Stadt sich der preußischen Herrschaft unterwarf, unter der Bedingung, daß nie - Juden in den Mauern sollten zugelassen werden. Gleich darauf aber rückte Erzherzog Karl wieder vor, schlug die Franzosen bei Würzburg 3. und 4. September 1796, und damit löste sich dieser Versuch, Preußens deutschen Beruf den Nürnbergern einzubleuen, in blauem Dunst auf. <=


Randnotizen von Friedrich Engels

|1| Engels schrieb hier mit Bleistift an den Rand: "Weerth" <=

|2| Engels schrieb hier mit Bleistift an den Rand: "West[fälischer] und Tesch[ener] Friede <=

|3| Engels schrieb hier mit Bleistift zwischen die Zeilen: "Deutschland-Polen" <=

|4| Engels schrieb hier mit Bleistift an den Rand: "Orsini" <=

|5| Engels schrieb hier an den Rand: "Mittelschulen für die Bourgeoisie" <=

|6| Engels schrieb hier mit Bleistift an den Rand: "Teilung - Mainlinie" (siehe S. 436) <=

|7| Engels schrieb hier mit Bleistift an den Rand: "Eid!" <=


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