MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1889

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 376-378.
Korrektur:    1
Erstellt:    20.03.1999

Friedrich Engels

[Der Bergarbeiterstreik an der Ruhr 1889]

Geschrieben Ende Mai 1889.
Nach: "The Labour Leader", Vol. I, Nr. 5, Juni 1889.
Aus dem Englischen.


|376| Der deutsche Bergarbeiterstreik ist für uns ein bedeutendes Ereignis. Ebenso wie die Bergleute in England in der Chartistenzeit sind auch die Kohlengrubenarbeiter in Deutschland als letzte zur Bewegung gestoßen, und das ist nun ihr erster Start. Die Bewegung begann in den nördlichen westfälischen Kohlenfeldern - ein Bezirk, der jährlich 45 Millionen Tonnen fördert und noch nicht halb entwickelt ist. Augenblicklich wird die Kohle aus einer Tiefe von 500 Yard gefördert. Diese Bergarbeiter - bis jetzt gute Untertanen, patriotisch, gehorsam und religiös, die die besten Soldaten für die Infanterie des 7. Armeekorps stellten (ich kenne sie gut, mein Geburtsort liegt nur 6 oder 7 Meilen südlich von diesen Kohlenfeldern) - sind nun durch die kapitalistische Unterdrückung vollkommen aufgerüttelt worden. Während die Zechen - meistens im Besitz großer Aktiengesellschaften - enorme Dividenden auszahlten, wurden die .Reallöhne der Arbeiter ständig weiter herabgedrückt. Der nominelle wöchentliche Lohn wurde zwar aufrechterhalten, in einigen Fällen sogar scheinbar erhöht, indem man die Arbeiter zwang, erhebliche Überzeit zu arbeiten -, statt einer Achtstundenschicht arbeiteten sie 12 bis 16 Stunden, so daß wöchentlich 9 bis 12 Schichten herauskamen. Überall gab es die als "Genossenschafts"-Läden getarnten truck shops. Betrug beim Anschreiben der geförderten Kohle war an der Tagesordnung. Ganze Lorenladungen Kohle wurden nicht angeschrieben, mit der Begründung, es handele sich um schlechte Kohle oder die Lore sei nicht richtig gefüllt. Seit dem vergangenen Winter haben die Arbeiter mehrmals erklärt, daß sie streiken würden, wenn keine Änderung eintrete, aber ohne Erfolg, und schließlich streikten sie, nachdem sie ihre Absicht bekanntgemacht hatten. Die Zechenbesitzer lügen, wenn sie das Gegenteil behaupten. In einer Woche legten 70.000 Bergleute die Arbeit nieder, und die Besitzer mußten den Streik bezahlen; denn sie zahlten nur einmal im Monat Lohn und hielten stets einen Monatslohn zurück, den sie nun den |377| Streikenden aushändigen mußten. Die Besitzer wurden somit in ihrem eigenen Netz gefangen. Die Bergarbeiter sandten jene bekannte Delegation zum Kaiser |Wilhelm II.| - ein prahlerischer, eingebildeter junger Narr -, der sie mit drohenden Worten empfing, wenn sie sich den Sozialdemokraten zuwenden sollten und die Autoritäten schmähten, würde er sie ohne Gnade niederschießen lassen. (Das ist tatsächlich schon in Bochum versucht worden, wo ein Sekondeleutnant, ein Bursche von 19 Jahren, seinen Soldaten befahl, auf die Streikenden zu schießen; doch die meisten feuerten in die Luft.) Doch, wie dem auch sei, das ganze Kaiserreich zitterte vor diesen streikenden Arbeitern. Der Militärgouverneur des Bezirks |Emil von Albedyll| begab sich ins Ruhrgebiet, ebenso der Staatssekretär des Innern |Ernst Ludwig Herrfurth|, und alles wurde versucht, um die Zechenbesitzer zu bewegen, Konzessionen zu machen. Der Kaiser selbst riet ihnen, ihre Taschen zu öffnen, und erklärte im Ministerrat: "Meine Soldaten sind da, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, aber nicht, um den Zechenbesitzern hohe Profite zu sichern."

Durch die Intervention der liberalen Opposition (die im Parlament einen Sitz nach dem anderen verloren hat, weil die Arbeiter zu uns gekommen sind) ist ein Kompromiß zustande gekommen und die Arbeit wurde wieder aufgenommen. Doch im selben Augenblick, als die Arbeiter wieder in den Gruben waren, brachen die Zechenbesitzer ihr Versprechen, einige der Streikführer wurden entlassen (obwohl das Übereinkommen allen ihre alten Arbeitsplätze sicherte), sie weigerten sich, sich wegen der Arbeitszeit mit den Arbeitern zu verständigen. Der Streik drohte wieder auszubrechen. Die Sache ist noch nicht bereinigt, und ich bin sicher, daß die Regierung, die in einer unangenehmen Lage ist, schließlich die Zechenbesitzer veranlassen wird, für einige Zeit nachzugeben. Denn der Streik hat sich zu Kohlenfeld Nr. 2 und Nr. 3 ausgedehnt. Dieser Bezirk war bis jetzt frei von sozialistischer Beeinflussung, weil jeder Mann, der dort agitieren wollte, wenn er in die Maschen des Gesetzes geriet, so viele Jahre Gefängnis bekam, wie er anderswo in Deutschland Monate erhalten hätte. Zwar hat die Regierung Konzessionen gemacht, aber ob sie genügen werden, muß man abwarten. Denn die Arbeiter in den sächsischen Kohlenfeldern und in den zwei schlesischen Kohlenfeldern, noch weiter östlich, sind dem Beispiel gefolgt, so daß in den letzten drei Wochen mindestens 120.000 Kumpel in Deutschland gestreikt haben. Auch die belgischen und böhmischen Bergleute sind angesteckt worden, während in Deutschland noch andere Berufe, die im Frühjahr Streiks vorbereiteten, ihre Arbeit verlassen haben. Daher gibt |378| es keine Zweifel darüber, daß die deutschen Bergleute ihre Brüder im Kampf gegen das Kapital unterstützen, und sie bilden eine prächtige Menschenschar, fast alle haben in der Armee gedient. Sie bilden eine wichtige zusätzliche Kraft in unseren Reihen. Ihr Glauben an den Kaiser und an den Pfarrer ist erschüttert worden, und was auch die Regierung unternehmen mag, keine Regierung kann ihre Wünsche befriedigen, ohne das kapitalistische System zu stürzen - und das kann die deutsche Regierung nicht, noch wird sie es versuchen wollen. Es ist das erste Mal, daß die Regierung vorgegeben hat, eine unparteiische Stellung während eines Streiks in Deutschland einzunehmen. Damit ist nunmehr ihre jungfräuliche Unschuld in dieser Hinsicht für immer dahin und beide, Wilhelm und Bismarck, mußten sich vor den geschlossenen Reihen der 100.000 streikenden Arbeiter beugen. Das allein ist ein wunderbares Resultat.


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