MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1887
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Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 335-343.
Korrektur:    1
Erstellt:    20.03.1999

Friedrich Engels

Die Arbeiterbewegung in Amerika

[Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse in England"]


["Der Sozialdemokrat" Nr. 24 und 25 vom 10. und 17. Juni 1887]

|335| Zehn Monate sind verflossen, seit ich, auf Wunsch der Übersetzerin |Florence Kelley-Wischnewetzky|, den "Anhang" zu diesem Buch schrieb. Während dieser zehn Monate hat sich in der amerikanischen Gesellschaft eine Revolution vollzogen, die in jedem andern Lande mindestens zehn Jahre gebraucht hätte. Im Februar 1886 war die öffentliche Meinung Amerikas einstimmig in diesem einen Punkt: daß in Amerika eine Arbeiterklasse - im europäischen Sinn - überhaupt nicht bestehe (1); daß folglich ein Klassenkampf zwischen Arbeitern und Kapitalisten, wie er die europäische Gesellschaft entzweireißt, in der amerikanischen Republik unmöglich sei; und daß daher der Sozialismus ein von außen eingeführtes Gewächs sei, unfähig, im amerikanischen Boden Wurzel zu fassen. Und doch warf gerade damals der hereinbrechende Klassenkampf bereits seinen Riesenschatten vor sich her in den Streiks der pennsylvanischen Kohlengräber und vieler andern Gewerke, und ganz besonders in den Vorbereitungen - in allen Gegenden des Landes - zur großen Achtstundenbewegung, die für den Monat Mai angesetzt war und |336| im Mai auch wirklich erfolgte. Daß ich schon damals diese Anzeichen richtig erkannte, daß ich eine Bewegung der Arbeiterklasse auf nationalem Maßstab voraussah, zeigt mein "Anhang". Was aber niemand voraussehn konnte, das war, daß die Bewegung in so kurzer Zeit mit solch unwiderstehlicher Kraft losbrechen, daß sie um sich greifen werde mit der Schnelligkeit eines Präriebrandes, daß sie schon jetzt die amerikanische Gesellschaft erschüttern werde bis in ihre Grundfesten.

Die Tatsache ist da, unangreifbar, unbestreitbar. Welchen Schrecken sie unter den herrschenden Klassen Amerikas verbreitet hat, wurde mir, in erheiternder Weise, offenbar durch amerikanische Journalisten, die mich vorigen Sommer mit ihrem Besuche beehrten; die neue Bewegung hatte sie in einen Zustand hülfloser, jammervoller Angst versetzt. Und doch war damals die Bewegung noch erst im Entstehen, bestand nur erst aus einer Reihe verworrener, scheinbar zusammenhangsloser Zuckungen jener Klasse, die durch die Unterdrückung der Negersklaverei und durch die rasche, industrielle Entwicklung zur untersten Schicht der amerikanischen Gesellschaft geworden war. Aber schon vor Ablauf des Jahres zeigte sich, wie diese fremdartigen sozialen Krampfanfälle mehr und mehr nach einer bestimmten Richtung hin verliefen. Die spontanen, instinktiven Bewegungen dieser ungeheuren Arbeitermassen, ihre Verbreitung über ein ungeheures Landgebiet, der überall gleichzeitige Ausbruch ihrer gemeinsamen Unzufriedenheit mit einer elenden gesellschaftlichen Lage, überall dieselbe und denselben Ursachen geschuldet - alles das brachte diesen Massen die Tatsache zum Bewußtsein, daß sie eine neue, besondere Klasse in der amerikanischen Gesellschaft bildeten, eine Klasse von tatsächlich mehr oder weniger erblichen Lohnarbeitern, Proletariern. Und mit echt amerikanischem Instinkt führte dies Bewußtsein sie sofort zum nächsten Schritt zu ihrer Befreiung: zur Bildung einer politischen Arbeiterpartei mit eignem Programm und mit der Eroberung des Kapitels und des Weißen Hauses als Ziel. Im Mai die Kämpfe um den achtstündigen Arbeitstag, die Unruhen in Chicago, Milwaukee usw., der Versuch der herrschenden Klassen, die aufkeimende Arbeiterbewegung durch rohe Gewalt und brutale Klassenjustiz zu unterdrücken; im November die junge Arbeiterpartei schon organisiert in allen großen Zentren, die Wahlen in New York, Chicago und Milwaukee. Mai und November erinnerten bisher den amerikanischen Bourgeois nur an die Verfallzeiten der Kupons der amerikanischen Staatsschuld; Mai und November werden sie von nun an auch an die Verfalltage erinnern, an denen das amerikanische Proletariat zum erstenmal seine Kupons zur Zahlung präsentierte.

|337| In europäischen Ländern brauchte die Arbeiterklasse Jahre und abermals Jahre, bis sie vollständig begriff, daß sie eine besondere und, unter den bestehenden Umständen, ständige Klasse der modernen Gesellschaft bildet. Und wiederum brauchte sie Jahre, bis dies Klassenbewußtsein sie dahin führte, sich zu einer besondern politischen Partei zusammenzutun, einer Partei, die allen alten, von den verschiedenen Gruppen der herrschenden Klassen gebildeten Parteien unabhängig und feindlich gegenübersteht. Auf dem begünstigteren Boden Amerikas, wo keine feudalen Ruinen den Weg versperren, wo die Geschichte anfängt mit den im 17. Jahrhundert schon herausgearbeiteten Elementen der modernen bürgerlichen Gesellschaft, hat die Arbeiterklasse diese beiden Stufen ihrer Entwicklung in nur zehn Monaten durchgemacht.

Trotzdem ist das alles nur der Anfang. Daß die arbeitenden Massen die Gemeinsamkeit ihrer Beschwerden und Interessen fühlen, ihre Solidarität als Klasse gegenüber allen anderen Klassen; daß sie, um diesem Gefühl Ausdruck und Wirksamkeit zu geben, die zu solchem Schritt in jedem freien Lande bereitgehaltene politische Maschinerie in Bewegung setzen - das ist immer nur der erste Schritt. Der nächste Schritt besteht darin, das gemeinsame Heilmittel für diese gemeinsamen Leiden zu finden und in dem Programm der neuen Arbeiterpartei zum Ausdruck zu bringen. Und dieser Schritt - der wichtigste und schwierigste der ganzen Bewegung - ist in Amerika noch zu tun.

Eine neue Partei muß ein bestimmtes positives Programm haben, ein Programm, dessen Einzelheiten wechseln mögen mit den Umständen und mit der Entwicklung der Partei selbst, aber immerhin ein Programm, worüber die Partei in jedem gegebenen Augenblick einig ist. Solange dieses Programm noch nicht herausgearbeitet ist, solange wird auch die Partei nur noch als Keim existieren; sie mag lokale Existenz haben; aber keine nationale; sie mag eine Partei sein ihrer Bestimmung nach, aber noch nicht in der Wirklichkeit.

Welches aber auch die ursprüngliche Gestalt dieses Programms sein mag, so muß es sich stets fortentwickeln in einer Richtung, die im voraus bestimmt werden kann. Die Ursachen, die zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse eine abgrundtiefe Kluft gerissen haben, sind dieselben in Amerika wie in Europa; die Mittel, diese Kluft auszufüllen, sind gleichfalls überall dieselben. Und daher muß das Programm des amerikanischen Proletariats, je weiter die Bewegung sich entwickelt, um so mehr zusammenfallen mit dem, welches nach sechzig Jahren des Zwistes und der Debatten das allgemein angenommenn Programm des europäischen streitbaren |338| Proletariats geworden ist. Es wird, wie dieses, als schließliches Ziel proklamieren die Eroberung der politischen Herrschaft durch die Arbeiterklasse als Mittel zur direkten Aneignung aller Produktionsmittel - Boden, Eisenbahnen, Bergwerke, Maschinen usw. - durch die Gesellschaft und zur gemeinsamen Benutzung dieser Produktionsmittel durch und für die Gesamtheit.

Nun erstrebt in der Tat die neue amerikanische Partei, wie alle und jede politische Partei, kraft der bloßen Tatsache ihrer Bildung, die Eroberung der politischen Herrschaft. Aber sie ist weit entfernt davon, mit sich einig zu sein über das, wozu diese politische Herrschaft gebraucht werden soll. In New York und den andern Großstädten des Ostens hat die Arbeiterklasse sich nach Gewerkschaften organisiert und in jeder Stadt eine mächtige Central Labor Union gebildet. In New York speziell erkor die Central Labor Union vorigen November Henry George zu ihrem Bannerträger; infolgedessen war ihr damaliges Wahlprogramm stark von Henry Georges Ansichten durchtränkt. In den großen Städten des Nordwestens wurde die Wahlschlacht auf Grundlage eines ziemlich unbestimmten Arbeiterprogramms ausgekämpft, worin der Einfluß der Georgeschen Ideen kaum, wenn überhaupt, sichtbar war. Und während in diesen großen Mittelpunkten der Bevölkerung und der Industrie die Bewegung eine entschieden politische Form erhielt, finden wir daneben, über das ganze Land zerstreut, zwei weit verbreitete Arbeiterorganisationen: die Arbeitsritter und die Sozialistische Arbeiterpartei, von denen nur die letztere ein mit dem oben skizzierten, modernen europäischen Standpunkt übereinstimmendes Programm besitzt.

Von diesen drei mehr oder weniger bestimmten Formen, in denen die amerikanische Arbeiterbewegung uns gegenübertritt, ist die erste - die von Henry George geführte Bewegung in New York - für den Augenblick von vorwiegend nur lokaler Bedeutung. Unzweifelhaft ist New York bei weitem die wichtigste Stadt des Landes; aber New York ist nicht Paris, und die Vereinigten Staaten sind nicht Frankreich. Und es scheint mir, daß das Programm Henry Georges in seiner jetzigen Gestalt zu knapp ist, um die Grundlage zu bilden für mehr als eine lokale Bewegung, oder, im besten Fall, für mehr als eine kurzlebige Übergangsstufe der allgemeinen Bewegung. Für Henry George ist die Enteignung der Volksmasse vom Grundbesitz die große, allgemeine Ursache der Spaltung des Volks in Reiche und Arme. Das ist aber geschichtlich nicht ganz richtig. Im asiatischen und klassischen Altertum war die herrschende Form der Klassenunterdrückung die Sklaverei, d.h. nicht sowohl die Enteignung der Massen von Grund und Boden, als |339| vielmehr die Aneignung ihrer Personen durch Dritte. Als beim Verfall der römischen Republik die freien italienischen Bauern von ihren Heimstätten expropriiert wurden, verwandelten sie sich in eine Klasse von "verlumpten Weißen" ("poor whites", "white trash"), wie sie in den südlichen Sklavenstaaten der Union vor 1861 bestand; und zwischen Sklaven und verlumpten Freien, zwei zur Selbstbefreiung gleich untüchtigen Klassen, ging die alte Welt in die Brüche. Im Mittelalter war keineswegs die Enteignung der Volksmassen vom Boden, sondern vielmehr ihre Aneignung an den Boden die Grundlage des feudalen Drucks. Der Bauer behielt seine Heimstätte, wurde aber als Leibeigner oder Höriger an sie gefesselt und hatte dem Grundherrn Tribut in Arbeit oder in Produkten zu leisten. Erst bei Anbruch der neuen Zeit, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, wurde die Expropriation der Bauern auf großer Stufenleiter durchgeführt, und zwar diesmal unter geschichtlichen Bedingungen, welche die besitzlos gewordenen Bauern allmählich in die moderne Klasse der Lohnarbeiter hinüberführten, in Leute, welche nichts besitzen außer ihrer Arbeitskraft und nur leben können von dem Verkauf dieser Arbeitskraft an andere. Wenn aber die Enteignung von Grund und Boden diese Klasse ins Leben rief, so gehörte die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, die moderne Großindustrie und die moderne Großackerwirtschaft dazu, sie zu verewigen, zu vermehren und sie in eine besondere Klasse mit besonderen Interessen und einer besonderen geschichtlichen Aufgabe zu verwandeln. Alles dies ist ausführlich dargestellt von Marx. ("Kapital", I. Bd. Abschn. VII: "Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation.") Nach Marx liegt die Ursache des gegenwärtigen Klassengegensatzes und der gegenwärtigen Erniedrigung der Arbeiterklasse in ihrer Enteignung von allen Produktionsmitteln, worin der Boden natürlich einbegriffen ist.

Nachdem Henry George einmal die Monopolisierung des Bodens zur einzigen Ursache der Armut und des Elends gemacht hat, findet er begreiflicherweise das Heilmittel darin, daß die Gesellschaft als solche den Boden wieder in Besitz nimmt. Nun verlangen die Sozialisten der Marxschen Schule ebenfalls, daß die Gesellschaft den Boden wieder in Besitz nimmt, und nicht nur den Boden, sondern alle andern Produktionsmittel ebenfalls. Aber selbst wenn wir hiervon absehen, so bleibt noch ein anderer Unterschied. Was soll mit dem Boden gemacht werden? Die heutigen Sozialisten, soweit Marx sie repräsentiert, verlangen, daß er gemeinsam besessen und gemeinsam für gemeinsame Rechnung bearbeitet werde, und daß |340| dasselbe mit allen andern gesellschaftlichen Produktionsmitteln, Bergwerken, Eisenbahnen, Fabriken usw. geschehen soll. Henry George dagegen ist damit zufrieden, daß der Boden, ganz wie jetzt, an Einzelne stückweise verpachtet wird, sobald nur die Verpachtung geregelt und die Bodenrente, statt wie jetzt in Privattaschen, in die öffentliche Kasse fließt. Die Forderung der Sozialisten schließt eine vollständige Umwälzung des gesamten heutigen Systems der gesellschaftlichen Produktion ein. Die Forderung Henry Georges dagegen läßt die heutige gesellschaftliche Produktionsweise unberührt und ist auch in der Tat schon vor Jahren von der extremsten Richtung der Ricardianischen bürgerlichen Ökonomen aufgestellt worden. Auch sie verlangten die Konfiskation der Bodenrente durch den Staat.

Natürlich wäre es unbillig, anzunehmen, daß Henry George schon ein für allemal sein letztes Wort gesagt hat. Aber ich muß seine Theorie eben nehmen, wie ich sie finde.

Die zweite große Abteilung der amerikanischen Bewegung bilden die Arbeitsritter. Und in ihnen scheint sich der augenblickliche Entwicklungsstand der Bewegung am treuesten widerzuspiegeln, wie sie denn auch unzweifelhaft weitaus die zahlreichste der drei Abteilungen bilden. Ein riesenhafter Verein, verbreitet über unermeßliche Landstriche in unzähligen "assemblies", worin alle Schattierungen individueller und lokaler Ansichten innerhalb der Arbeiterklasse vertreten sind; sie alle vereinigt unter dem Dach eines Programms von entsprechender Unbestimmtheit, und zusammengehalten weit weniger durch ihre unausführbare Verfassung als durch das instinktive Gefühl, daß die bloße Tatsache ihres Sichzusammentuns für ihre gemeinsamen Strebeziele sie zum Rang einer großen Macht im Land erhebt; ein echt amerikanisches Widerspruchsrätsel, das die modernsten Bestrebungen mit dem mittelalterlichen Mummenschanz umkleidet und den demokratischsten und selbst rebellischsten Geist verbirgt hinter einer scheinbaren, aber in Wirklichkeit ohnmächtigen Despotie - das ist das Bild, das die Arbeitsritter einem europäischen Beobachter darbieten. Lassen wir uns aber nicht durch bloß äußerliche Absonderlichkeiten aufhalten, so können wir nicht umhin, in dieser kolossalen Arbeiteranhäufung eine ungeheure Masse schlummernder, potentieller Energie zu sehen, die im Begriff steht, sich langsam aber sicher in lebendige Kraft umzusetzen. Die Arbeitsritter sind die erste von der gesamten amerikanischen Arbeiterklasse geschaffne nationale Organisation. Einerlei was ihr Ursprung und ihre Geschichte, was ihre Mängel und kleinen Verrücktheiten, was ihr Programm und ihre Verfassung - hier sind sie, tatsächlich das Werk der gesamten amerikanischen Klasse der Lohnarbeiter, das einzige nationale Band, das sie zu- |341| sammenhält, das ihre Stärke ihnen selbst nicht minder als ihren Feinden fühlbar macht, das sie mit der stolzen Hoffnung künftiger Siege erfüllt. Und es wäre keineswegs richtig zu sagen, daß die Arbeitsritter entwicklungsunfähig |Im "Sozialdemokrat": entwicklungsfähig| sind. Sie sind fortwährend in vollem Gang der Entwicklung und Umwälzung begriffen, eine wogende, gärende Masse bildsamen Stoffs, der daran arbeitet, die seiner Natur angemessene Form und Gestalt zu finden. Diese Form wird sich finden, so gewiß die historische Entwicklung, ebenso gut wie die der Natur, ihre eignen innewohnenden Gesetze hat. Ob dann die Arbeitsritter ihren jetzigen Namen beibehalten oder nicht, ist gleichgültig. Aber der Beobachter aus der Ferne wird kaum umhin können, in ihnen den Rohstoff zu sehn, aus dem die Zukunft der amerikanischen Arbeiterbewegung, und damit die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft überhaupt, herausgearbeitet werden muß.

Die dritte Abteilung ist die Sozialistische Arbeiterpartei. Sie ist eine Partei nur dem Namen nach, denn nirgendwo in Amerika ist sie bis jetzt wirklich imstand gewesen, als politische Partei handelnd aufzutreten. Sie ist zudem bis zu einem gewissen Grad ein ausländisches Element in den Vereinigten Staaten; sie hat bis ganz neuerdings fast ausschließlich aus eingewanderten Deutschen bestanden, die sich ihrer eigenen Sprache bedienen und mit der englischen Landessprache nur wenig vertraut sind. Dafür aber, daß sie von fremder Wurzel kam, kam sie auch bewaffnet mit der Erfahrung, die sie in langjährigem Klassenkampf in Europa erworben, und mit einer Einsicht in die allgemeinen Bedingungen der Emanzipation der Arbeiterklasse, wie sie bei amerikanischen Arbeitern bis jetzt nur ausnahmsweise zu finden ist. Es ist dies ein Glück für das amerikanische Proletariat, das hiemit in den Stand gesetzt wird, den intellektuellen und moralischen Gewinn des vierzigjährigen Kampfs ihrer europäischen Klassengenossen sich anzueignen und zu benutzen und so seinen eigenen Sieg zu beschleunigen. Denn, wie gesagt, darüber kann kein Zweifel sein: das schließliche Programm des amerikanischen Proletariats muß und wird im wesentlichen dasselbe sein wie das jetzt vom gesamten streitbaren Proletariat Europas angenommene, dasselbe wie das der deutsch-amerikanischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Damit, und soweit, ist diese Partei berufen zu einem sehr wichtigen Anteil an der Bewegung. Aber um diesen Beruf zu erfüllen, wird sie auch ihre ausländische Tracht bis auf den letzten Rest abzustreifen haben. Sie muß durch und durch amerikanisch werden. Sie kann nicht verlangen, daß die Amerikaner zu ihr kommen; sie, die eingewanderte Minder- |342| heit, muß zu der ungeheuren Mehrheit der eingeborenen Amerikaner gehn. Und dazu muß sie vor allen Dingen Englisch lernen.

Der Verschmelzungsprozeß dieser verschiedenen Elemente der gewaltigen wogenden Masse - Elemente, in Wirklichkeit einander nicht widerstreitend, aber wohl kraft ihrer verschiedenen Ausgangspunkte einander entfremdet -, dieser Prozeß wird einige Zeit in Anspruch nehmen und nicht ohne mannigfache Reibung abgehen, wie sie sich schon jetzt an verschiedenen Punkten zeigt. So sind die Arbeitsritter in den Städten des Ostens hier und da in lokalem Kampf mit den organisierten Gewerkschaften. Aber eben diese Art Reibung existiert auch innerhalb der Arbeitsritter selbst, in deren Mitte Frieden und Harmonie keineswegs herrscht. Das sind aber keineswegs Anzeichen des Verfalls, worüber die Kapitalisten ein Recht hätten zu jubeln. Es sind vielmehr nur Beweise, daß die zahllosen Scharen von Arbeitern, die jetzt endlich in einer und derselben Gesamtrichtung in Bewegung geraten, bis jetzt weder den angemessenen Ausdruck für ihre gemeinsamen Interessen, noch die geeignetste Organisationsform gefunden haben. Bis jetzt sind sie nur noch die ersten Massenaushebungen des großen Revolutionskriegs, versammelt und ausgerüstet in einzelnen, noch selbständigen Lokalgruppen, alle bestimmt, ein einziges großes Heer zu bilden, aber noch ohne regelmäßige Organisation und gemeinsamen Feldzugsplan. Noch kreuzen sich hie und da die auf einen Sammelpunkt hinmarschierenden Kolonnen; Verwirrung, Zank und Streit, selbst Drohung ernstlichen Zusammenstoßes wird laut. Aber schließlich überwindet die Gemeinsamkeit des Endzieles alle kleinen Schwierigkeiten; es dauert nicht lange, und die verzettelten und lärmenden Bataillone tun sich zusammen zu einer festgegliederten Schlachtlinie voll Waffenglanz und drohendem Schweigen, gedeckt durch verwegene Plänkler in der Front und durch unerschütterliche Reserven im Rücken.

Dies Resultat zu erreichen, die Vereinigung dieser verschiedenen unabhängigen Körperschaften zu einer einzigen nationalen Arbeiterarmee mit einem gemeinsamen Programm - und sei dies Programm noch so unreif, solange es nur ein echtes Klassenprogramm von Arbeitern ist -, das ist der nächste große in Amerika zu vollziehende Schritt. Dies Ziel zu erreichen und das Programm zu einem diesem Ziel angemessenen zu machen, dazu kann niemand mehr beitragen als die Sozialistische Arbeiterpartei, wenn sie sich nur entschließt, dieselbe Taktik zu befolgen, die die europäischen Sozialisten befolgten zu der Zeit, als sie nur noch eine geringe Minderheit der Arbeiterklasse ausmachten. Diese Taktik wurde zuerst dargelegt im "Manifest der Kommunistischen Partei" von 1847 in folgenden Worten:

|343| "Die Kommunisten" - das war der Name, den wir damals angenommen, und den wir auch heute noch weit entfernt sind, zurückzuweisen - "die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien.

Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.

Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß einerseits sie in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats zur Geltung bringen; andrerseits dadurch, daß sie in den verschiednen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.

Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus ...

Sie kämpfen also für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung."

Das ist die Taktik, die der große Begründer des modernen Sozialismus, Karl Marx, und mit ihm ich und die Sozialisten aller Nationen, die mit uns arbeiteten, seit mehr als vierzig Jahren befolgt haben, die uns überall zum Siege geführt und die es bewirkt hat, daß heute die Masse der europäischen Sozialisten, in Deutschland wie in Frankreich, in Belgien und Holland wie in der Schweiz, in Dänemark und Schweden wie in Spanien und Portugal, als eine einzige große Armee unter einer und derselben Fahne kämpfen.

London, 26. Januar 1887

Friedrich Engels


Fußnoten von Friedrich Engels

(1) Eine englische Ausgabe meines 1844 geschriebnen Buchs fand gerade darin ihre Rechtfertigung, daß die industriellen Zustände des heutigen Amerikas den englischen der vierziger Jahre, also den von mir geschilderten, fast genau entsprechen. Wie sehr dies der Fall, bezeugen die Artikel über "The Labor Movement in America" von Edward und Eleanor Marx-Aveling in der Londoner Monatsschrift "Time", März, April, Mai und Juni. Ich beziehe mich auf diese vortrefflichen Artikel um so lieber, als mir dadurch Gelegenheit geboten wird, gleichzeitig die elenden Verleumdungen über Aveling zurückzuweisen, die die Exekutive der Soz. Arbeiterpartei Amerikas sich nicht entblödet hat, in die Welt zu schicken. [Anmerkung von Engels zum Separatabdruck.] <=


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