MLWerke | Marx/Engels - Werke | Artikel und Korrespondenzen 1883 | ||
Seitenzahlen verweisen auf: | Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 9-15. | |
Korrektur: | 1 | |
Erstellt: | 20.03.1999 |
Nach: "Progress", Vol. II, London 1883, S. 112-116.
Aus dem Englischen.
|9| Die historische und sprachliche Kritik der Bibel, die Untersuchung des Alters, des Ursprungs und des historischen Werts der verschiedenen Schriften, aus denen sich das Alte und das Neue Testament zusammensetzt, ist eine Wissenschaft, welche in diesem Lande fast niemandem, außer einigen freisinnigen Theologen, bekannt ist, die sich bemühen, sie so geheim wie möglich zu halten.
Diese Wissenschaft ist fast ausschließlich deutsch. Überdies hat sich das wenige, das über die Grenzen Deutschlands gedrungen ist, nicht gerade als ihr bester Teil erwiesen; es ist jene freisinnige Kritik, die sich brüstet, unvoreingenommen, gründlich und gleichzeitig christlich zu sein. Die Bücher sind nicht gerade Offenbarungen des heiligen Geistes, sondern sind Offenbarungen des Göttlichen durch den heiligen Geist der Menschlichkeit etc. So sind die Vertreter der Tübinger Schule (Baur, Gfrörer etc.) in Holland und der Schweiz ebensosehr beliebt wie in England; will man jedoch ein wenig darüber hinausgehen, so folgt man Strauß. Derselbe nachsichtige, aber vollkommen unhistorische Geist beherrscht den berühmten Ernest Renan, der nur ein armseliger Plagiator der deutschen Kritiker ist. Von all seinen Werken gehört ihm nichts als die ästhetische Sentimentalität des durchdringenden Gedankens und die seichte Sprache, in die das Ganze gekleidet ist.
Etwas Gutes hat Ernest Renan allerdings gesagt:
"Wenn Sie einen genauen Begriff davon haben wollen, was die ersten christlichen Gemeinden waren, dann vergleichen Sie sie nicht mit den Kirchengemeinden unserer Tage; sie glichen eher lokalen Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation."
Und das stimmt. Das Christentum ergriff die Massen genauso, wie es der moderne Sozialismus tut, in Gestalt mannigfaltiger Sekten und noch mehr durch widersprechende individuelle Meinungen - manche klarer, manche |10| verwirrter, wobei die letzteren die große Mehrheit bildeten -, aber alle sind dem herrschenden System, "den bestehenden Mächten", feindlich gesinnt.
Nehmen wir z.B. unser Buch der Offenbarung, von dem wir sehen werden, daß es, statt das dunkelste und geheimnisvollste zu sein, das einfachste und klarste Buch des ganzen Neuen Testaments ist. Im Augenblick müssen wir den Leser bitten, zu glauben, was wir nach und nach beweisen werden: daß es im Jahre 68 oder im Januar 69 u.Z. geschrieben wurde und daß es deshalb nicht nur das einzige Buch des Neuen Testaments ist, von dem das Datum wirklich feststeht, sondern auch das älteste Buch. Wie das Christentum im Jahre 68 aussah, können wir hier wie im Spiegel sehen.
Als erstes, Sekten und immer wieder Sekten. In den Sendschreiben an die sieben Kirchen Asiens werden mindestens drei Sekten erwähnt, von denen wir sonst nichts weiter wissen: die Nikolaiten, die Bileamiten und die Anhänger einer Frau, hier durch den Namen Jesabel versinnbildlicht. Von allen drei wird behauptet, daß sie es ihren Anhängern gestatteten, von den den Göttern geopferten Dingen zu essen, und daß sie der Unzucht zugetan waren. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß mit jeder großen revolutionären Bewegung die Frage der "freien Liebe" in den Vordergrund tritt: bei einem Teil der Menschen als ein revolutionärer Fortschritt, als ein Abwerfen nicht mehr notwendiger, alter traditioneller Fesseln, bei anderen als eine willkommene Lehre, die bequemerweise alle Arten zügelloser Handlungen zwischen Mann und Frau deckt. Die letzteren, nämlich die Philister, scheinen hier bald die Oberhand bekommen zu haben; denn die "Hurerei" wird immer in Zusammenhang gebracht mit dem Essen von "Götzenopfern", was Juden und Christen streng verboten war, aber was abzulehnen manchmal gefährlich oder zumindest unangenehm sein konnte. Dies zeigt offensichtlich, daß die hier erwähnten Anhänger der freien Liebe im allgemeinen bestrebt waren, jedermanns Freund zu sein, und daß sie alles andere als das Zeug zu Märtyrern hatten.
Das Christentum wurde, wie jede andere große revolutionäre Bewegung, von den Massen geschaffen. Es entstand in einer uns vollkommen unbekannten Art und Weise in Palästina zu einer Zeit, als neue Sekten, neue Religionen, neue Propheten zu Hunderten auftauchten. Tatsächlich handelt es sich nur um eine Durchschnittserscheinung, die sich spontan aus den gegenseitigen Reibereien der fortschrittlicheren dieser Sekten bildete und die nachher durch das Hinzukommen von Theoremen des alexandrinischen Juden Philo und später durch starke stoische Infiltrationen zu einer Lehre wurde. Wenn wir in der Tat Philo den geistigen Vater des Christentums |11| nennen können, so war Seneca der Onkel. Ganze Absätze des Neuen Testaments scheinen fast wörtlich aus seinen Werken abgeschrieben zu sein; andererseits kann man Absätze in den Satiren von Persius finden, die aus dem damals ungeschriebenen Neuen Testament entnommen zu sein scheinen. Von all diesen, die Lehre betreffenden Elementen ist in unserem Buch der Offenbarung nichts zu finden. Hier haben wir das Christentum in der primitivsten Form, in der es für uns erhalten geblieben ist. Es gibt dort nur einen vorherrschenden, dogmatischen Punkt: daß die Gläubigen durch das Opfer Christi gerettet worden sind. Aber wie und warum kann absolut nicht erklärt werden. Da ist nichts als die alte jüdische und heidnische Vorstellung, daß Gott oder die Götter durch Opfer versöhnt werden müssen, in die spezifisch christliche Vorstellung umgewandelt (die das Christentum tatsächlich zur allgemeinen Religion machte), daß der Tod Christi das ein für allemal ausreichende große Opfer ist.
Von der ursprünglichen Sünde keine Spur. Nichts von der Dreieinigkeit. Jesus ist "das Lamm", aber Gott untergeordnet. In der Tat wird er in einem Absatz (15,3) mit Moses auf eine Stufe gestellt. Statt des einen heiligen Geistes gibt es "die sieben Geister Gottes" (3,1 und 4,5). Die ermordeten Heiligen (die Märtyrer) rufen Gott zur Rache auf:
"Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächest unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?" (6,10) -
eine Gefühlsregung, die später sorgfältig aus dem theoretischen Moralkodex des Christentums gestrichen, die aber in der Praxis um so heftiger geübt wurde, sobald die Christen die Oberhand über die Heiden bekamen. Natürlicherweise stellt das Christentum nur eine Sekte des Judaismus dar. So in den Sendschreiben an die sieben Gemeinden:
"Ich weiß die Lästerung von denen, die da sagen, sie seien Juden" (nicht Christen) "und sind's nicht, sondern sind des Satans Schule" (2,9);
und noch einmal (3,9);
"Siehe, ich werde geben aus des Satanas Schule, die da sagen, sie seien Juden, und sind's nicht."
Unser Autor hatte also im Jahre 69 u.Z. nicht im entferntesten eine Vorstellung davon, daß er eine neue Phase der religiösen Entwicklung vertrat, die dazu bestimmt war, eines der wesentlichsten Elemente der Revolution zu werden. Daher sind es auch, als die Heiligen vor dem Throne Gottes erscheinen, zuerst 144.000 Juden, 12.000 von jedem der zwölf Stämme, und erst nach ihnen werden die Heiden zugelassen, die dieser neuen Phase des Judentums beigetreten waren.
|12| So sah das Christentum im Jahre 68 aus, wie es im ältesten und einzigen Buch des Neuen Testaments geschildert wird, dessen Echtheit nicht bezweifelt werden kann. Wer der Autor war, wissen wir nicht. Er nennt sich Johannes. Er gibt nicht einmal vor, der "Apostel" Johannes zu sein, denn die Grundsteine des "neuen Jerusalem" bergen '"die Namen der zwölf Apostel des Lammes" (21,14). Diese müssen daher schon tot gewesen sein, als er das Buch schrieb. Daß er ein Jude war, ist klar ersichtlich aus den reichlich vorhandenen Hebraismen in seinem Griechisch, welches an schlechter Grammatik selbst die anderen Bücher des Neuen Testaments bei weitem übertrifft. Daß das sogenannte Evangelium des Johannes, die Briefe des Johannes und dieses Buch mindestens drei verschiedene Autoren haben, wird eindeutig durch ihre Sprache, wenn nicht schon durch die in ihnen enthaltenen, einander völlig widersprechenden Doktrinen bewiesen.
Die apokalyptischen Visionen, die fast die ganze Offenbarung ausmachen, sind in den meisten Fällen wörtlich den klassischen Propheten des Alten Testaments und ihren späteren Imitatoren entnommen, angefangen mit dem Buch des Daniel (ungefähr 160 v.u.Z., das Dinge prophezeite, die Jahrhunderte vorher geschehen waren) und endend mit dem "Buch des Henoch", einem apokryphischen Elaborat in griechischer Sprache, nicht lange vor Anfang unserer Zeitrechnung geschrieben. Die ursprüngliche Erdichtung, selbst die Gruppierung der plagiierten Visionen, ist äußerst armselig. Professor Ferdinand Benary, dessen Vorlesungsreihe an der Berliner Universität im Jahre 1841 ich das Folgende verdanke, hat unter Angabe von Kapitel und Vers nachgewiesen, woher unser Autor jede einzelne seiner angeblichen Visionen genommen hat. Es ist deshalb nutzlos, unserem "Johannes" in all seinen närrischen Einfällen zu folgen. Wir sollten vielmehr sofort zu dem Punkt kommen, der das Geheimnis dieses auf jeden Fall merkwürdigen Buchs aufdeckt.
Im vollkommenen Gegensatz zu all seinen orthodoxen Kommentatoren, die alle erwarten, daß seine Prophezeiungen noch eintreffen, nach mehr als 1.800 Jahren, hört "Johannes" niemals auf zu sagen:
"Die Zeit ist nahe, dies alles wird in Kürze geschehen."
Und das trifft besonders auf die Krise zu, die er voraussagt und die er offenbar zu sehen erwartet.
Diese Krise ist der große entscheidende Kampf zwischen Gott und dem "Antichrist", wie andere ihn genannt haben. Die entscheidenden Kapitel sind die Kapitel 13 und 17. Lassen wir alle überflüssigen Ausschmückungen fort: "Johannes" sieht ein Tier aus dem Meer steigen, das |13| sieben Häupter und zehn Hörner hat (die Hörner interessieren uns überhaupt nicht).
"Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund; und seine tödliche Wunde ward heil."
Dieses Tier sollte für 42 Monate (eine Hälfte der heiligen sieben Jahre) Macht über die Erde gegen Gott und das Lamm haben, und alle Menschen sollten während dieser Zeit gezwungen sein, das Malzeichen dieses Tieres oder die Zahl seines Namens an der rechten Hand oder an der Stirn zu tragen.
"Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist 666."
Im zweiten Jahrhundert wußte Irenäus immer noch, daß mit dem verwundeten und geheilten Haupt der Kaiser Nero gemeint war. Nero war der erste große Verfolger der Christen. Bei seinem Tode verbreitete sich besonders in Achaja und Asien das Gerücht, daß er nicht tot, sondern nur verwundet sei, und daß er eines Tages wieder erscheinen und über die ganze Welt Schrecken verbreiten würde (Tacitus, Hist. II, 8). Gleichzeitig kannte Irenäus eine andere sehr alte Lesart, wonach der Name die Zahl 616 an Stelle von 666 ergab.
Im Kapitel 17 erscheint das Tier mit den sieben Häuptern wieder, diesmal von der wohlbekannten scharlachroten Dame beritten, deren gefällige Beschreibung der Leser im Buch selbst nachsehen kann. Ein Engel erklärt dort dem Johannes:
"Das Tier, das du gesehen hast, ist gewesen und ist nicht ... Die sieben Häupter sind sieben Berge, auf welchen das Weib sitzt, und sieben Könige. Fünf sind gefallen, und einer ist, und der andere ist noch nicht gekommen; und wenn er kommt, muß er eine kleine Zeit bleiben. Und das Tier, das gewesen ist und nicht ist, das ist der achte und ist von den sieben ... Und das Weib, das du gesehen hast, ist die große Stadt, die das Reich hat über die Könige auf Erden."
Hier haben wir also zwei klare Angaben: 1. Die scharlachrote Dame ist Rom, die große Stadt, die über die Könige der Welt regieret; 2. zur Zeit, da das Buch geschrieben wird, regiert der sechste römische Kaiser; nach ihm wird ein andrer kommen, der kurze Zeit regiert, und dann kommt die Rückkehr des einen, der "von den sieben ist", der verwundet, aber geheilt war und dessen Name in der geheimnisvollen Zahl enthalten ist, und von dem Irenäus noch wußte, daß es Nero war.
Beginnen wir bei Augustus, so haben wir Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero als Fünften. Der Sechste, der ist, ist Galba, dessen |14| Thronbesteigung das Signal für einen Aufstand der Legionen war, besonders in Gallien, geführt durch Otho, Galbas Nachfolger. Demzufolge muß unser Buch unter Galba geschrieben worden sein, der vom 9. Juni 68 bis zum 15. Januar 69 regierte. Es sagt die Rückkehr Neros als bevorstehend voraus.
Aber nun zum entscheidenden Beweis - die Zahl. Auch diese ist von Ferdinand Benary entdeckt und seitdem niemals in der wissenschaftlichen Welt abgestritten worden.
Ungefähr dreihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung begannen die Juden, ihre Buchstaben als Symbole für Zahlen zu benutzen. Die spekulativen Rabbis sahen hierin eine Methode zur mystischen Deutung oder Kabbala. Geheime Worte wurden durch die Zahl ausgedrückt, die durch die Addition der in ihnen enthaltenen numerischen Werte der Buchstaben zustande kam. Diese neue Wissenschaft nannten sie gematriah, Geometrie. Eben diese Wissenschaft wird von unserem "Johannes" hier angewandt. Wir haben zu beweisen 1., daß die Zahl den Namen eines Mannes beinhaltet und daß dieser Mann Nero ist und 2., daß die Lösung sowohl für die Lesart 666 als auch für die ebenso alte Lesart 616 gilt. Wir nehmen die hebräischen Buchstaben und ihre Werte:
(nun) |
n |
= 50 |
(resch) |
r |
= 200 |
(waw) für |
o |
= 6 |
(nun) |
n |
= 50 |
(koph) |
k [q] |
= 100 |
(samech) |
s |
= 60 |
(resch) |
r |
= 200 |
Neron Kesar, der Kaiser Neron, griechisch Neron Kaisar. Wenn wir nun aber, statt die griechische Schreibweise zu verwenden, das lateinische Nero Caesar in hebräische Buchstaben übertragen, verschwindet das Nun am Ende von Neron und damit der Wert von 50. Das bringt uns zur anderen alten Lesart, nämlich 616, und damit ist der Beweis so vollkommen, wie man es nur wünschen kann.(1)
Also liegt nun der Inhalt des geheimnisvollen Buchs in voller Klarheit vor uns. "Johannes" sagt die Rückkehr Neros ungefähr für das Jahr 70 und seine Schreckensherrschaft voraus, die 42 Monate oder 1.260 Tage dauern soll. Nach dieser Zeitspanne erscheint Gott, überwältigt Nero, den Anti- |15| christ, zerstört die große Stadt durch Feuer und fesselt den Teufel für ein Jahrtausend. Das Tausendjährige Reich beginnt etc. All dies hat jetzt jegliche Bedeutung verloren, ausgenommen für einfältige Personen, die noch immer versuchen mögen, den Tag des letzten Gerichts auszurechnen. Jedoch als authentisches Bild eines beinah primitiven Christentums, von einem der ihren gezeichnet, ist das Buch mehr wert als alle übrigen Bücher des Neuen Testaments zusammengenommen.
Fußnoten von Engels
Die obige Schreibweise des Namens, sowohl mit als auch ohne das zweite Nun, entspricht der Schreibweise des Talmuds und ist deshalb authentisch. <=
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