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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR.
1962. »Dialektik der Natur«,
S. 370-389.
1. Korrektur
Erstellt am 30.00.1999
|384| Thomson and Tait, »Nat. Philos.« I, S. 191 (§ 276):
»Bei allen Körpern, deren freie Oberflächen zum Teil aus einer Flüssigkeit bestehen, wie es bei der Erde der Fall ist, gibt es auch indirekte Widerstände, die aus der Reibung herrühren, welche den Bewegungen der Ebbe und Flut hindernd entgegentritt. Diese Widerstände müssen, solange solche Körper sich in Beziehung auf benachbarte Körper bewegen, ihren relativen Bewegungen beständig Energie entziehen. Wenn wir zunächst die Wirkung betrachten, welche der Mond allein auf die Erde mit ihren Meeren, Seen und Flüssen ausübt, so erkennen wir, daß diese Wirkung die Perioden der Rotation der Erde um ihre Achse und der Umdrehung beider Körper um ihren Trägheitsmittelpunkt gleichzumachen streben muß, da, solange diese Perioden voneinander verschieden sind, die Wirkung der Ebbe und Flut der Erdoberfläche den Bewegungen beider beständig Energie entziehen muß. Um den Gegenstand etwas eingehender zu betrachten, und um zugleich unnötige Verwicklungen zu vermeiden, wollen wir annehmen, der Mond sei eine gleichförmige Kugel. Die wechselseitige Wirkung und Gegenwirkung zwischen seiner Masse und derjenigen der Erde wird einer einzelnen Kraft äquivalent sein, die in irgendeiner durch seinen Mittelpunkt gehenden Linie wirkt und so beschaffen ist, daß sie die Erdrotation zu hindern strebt, solange diese in einer kürzeren Periode erfolgt als die Bewegung des Mondes um die Erde |Hervorhebung von Engels|. Sie muß daher in einer Linie wie MQ wirken, also vom Mittelpunkt der Erde um OQ abweichen; |385| diese Abweichung hat in der Figur bedeutend vergrößert werden müssen. Man kann sich nun die auf den Mond in der Richtung MQ wirklich wirkende Kraft als aus zwei Teilen bestehend vorstellen; die Größe des ersteren Teils, der in der nach dem Mittelpunkt der Erde zu gehenden Linie MO wirkt, weicht nicht merklich von der Größe der ganzen Kraft ab; die Richtung MT der vergleichsweise sehr kleinen zweiten Komponente ist senkrecht zu MO. Dieser letztere Teil ist für die Mondbahn ganz nahezu tangential und wirkt im Sinne der Bewegung des Mondes. Wenn eine solche Kraft plötzlich zu wirken anfinge, so würde sie zunächst die Geschwindigkeit des Mondes vergrößern; nach einer gewissen Zeit würde sich derselbe aber infolge dieser Beschleunigung um eine solche Strecke von der Erde weiter entfernt haben, daß er, da seine Bewegung gegen die Anziehung der Erde erfolgt, so viel Geschwindigkeit verloren hätte, als durch die tangentiale Beschleunigung gewonnen war. Die Wirkung einer ununterbrochen fortdauernden tangentialen Kraft, die im Sinne der Bewegung wirkt, aber von so kleinem Betrage ist, daß sie in jedem Augenblick nur eine kleine Abweichung von der kreisförmigen Form der Bahn zur Folge hat, besteht darin, daß sie allmählich den Abstand vom Zentralkörper vergrößert und bewirkt, daß von der kinetischen Energie der Bewegung wieder so viel verloren wird, als ihre eigene gegen die Anziehung des Zentralkörpers zu leistende Arbeit ausmacht. Man wird die Umstände leicht verstehen, wenn man diese Bewegung um den Zentralkörper in einer sich sehr langsam erweiternden spiralförmigen Bahn betrachtet. Vorausgesetzt, daß die Kraft dem Quadrat der Entfernung umgekehrt proportional ist, wird die tangentiale Komponente der Schwere gegen die Bewegung doppelt so groß wie die störende tangentiale Kraft sein, die im Sinne der Bewegung wirkt, und daher wird eine Hälfte der gegen die erstere geleisteten Arbeit durch die letztere und die andere Hälfte durch die der Bewegung entzogene kinetische Energie verrichtet. Die Gesamtwirkung, welche die jetzt betrachtete besondere störende Ursache auf die Bewegung des Mondes hat, erhält man sehr leicht, wenn man das Prinzip der Momente der Bewegungsgrößen in Anwendung bringt. So sehen wir, daß das Moment der Bewegungsgröße, welches in irgendeiner Zeit durch die Bewegungen der Trägheitsmittelpunkte des Mondes und der Erde in Beziehung auf ihren gemeinschaftlichen Trägheitsmittelpunkt gewonnen wird, demjenigen gleich ist, welches durch die Rotation der Erde um ihre Achse verloren wird. Die Summe der Momente der Bewegungsgröße der Trägheitsmittelpunkte des Mondes und der Erde, wie sie sich jetzt bewegen, ist ungefähr 4,45mal so groß wie das gegenwärtige Moment der Bewegungsgröße der Erdrotation. Die mittlere Ebene der ersteren ist die Ekliptik, und daher ist die mittlere Neigung der Achsen der beiden Momente gegeneinander gleich 23° 27 1/2', welchen Winkel wir, da wir den Einfluß der Sonne auf die Ebene der Mondbewegung hier vernachlässigen, als die wirkliche gegenwärtige Neigung der beiden Achsen annehmen können. Die Resultante oder das ganze Moment der Bewegungsgröße ist daher 5,38mal so groß wie das der jetzigen Erdrotation, und ihre Achse hat gegen die Erdachse eine Neigung von 19° 13'. Das letzte Streben der Ebben und Fluten |Hervorhebung von Engels| ist also, zu bewirken, daß die Erde und der Mond |386| mit diesem resultierenden Moment um diese resultierende Achse gleichförmig rotieren, wie wenn sie zwei Teile eines starren Körpers wären: In diesem Zustande würde der Abstand des Mondes von der Erde (näherungsweise) in dem Verhältnis 1:1,46 vergrößert sein, d.i. in dem Verhältnis des Quadrats des gegenwärtigen Moments der Bewegungsgröße der Trägheitsmittelpunkte zum Quadrat des ganzen Moments der Bewegungsgröße; die Periode der Umdrehung würde im Verhältnis der Kuben derselben Größen, also im Verhältnis 1:1,77 vergrößert sein. Der Abstand würde also auf 347.100 englische Meilen und die Periode auf 48,36 Tage gestiegen sein. Gäbe es außer der Erde und dem Monde keine anderen Körper im Weltall, so könnten diese beiden Körper sich in dieser Weise ewig in kreisförmigen Bahnen um ihren gemeinschaftlichen Trägheitsmittelpunkte weiterbewegen, und während eines Umlaufs würde die Erde eine Rotation um ihre Achse vollenden, so daß sie stets dieselbe Seite dem Monde zukehrte, daß also alle flüssigen Teile ihrer Oberfläche in Beziehung auf die festen Teile in Ruhe blieben. Aber die Existenz der Sonne würde verhindern, daß ein solcher Zustand der Dinge von Dauer wäre. Es würde nämlich Sonnenfluten geben, zweimal hohen und zweimal niedrigen Wasserstand in der Periode der Rotation der Erde in Beziehung auf die Sonne (d.h. zweimal im Sonnentage oder, was dasselbe sein würde, im Monat). Dies könnte nicht vor sich gehen, ohne daß durch die Reibung der Flüssigkeit Energie verloren würde |Hervorhebung von Engels|. Es ist nicht leicht, den ganzen Verlauf der Störung in den Bewegungen der Erde und des Mondes zu skizzieren, welche diese Ursache erzeugen würde; aber schließlich würde sie zur Folge haben, daß Erde, Mond und Sonne um ihren gemeinschaftlichen Trägheitsmittelpunkt wie Teile eines starren Körpers rotierten.«
Kant stellte 1754 zuerst die Ansicht auf, daß die Rotation der Erde durch die Flutreibung verzögert, und diese Wirkung erst vollendet sein werde,
»wenn ihre« (der Erde) »Oberfläche in Ansehung des Mondes in respektiver Ruhe sein wird, d.i., wenn sie sich in derselben Zeit um die Achse drehen wird, darin der Mond um sie läuft, folglich ihm immer dieselbe Seite zukehren wird«.
Er war daher der Ansicht, daß diese Verzögerung nur der Flutreibung, also dem Vorhandensein flüssiger Massen auf der Erde, ihren Ursprung verdanke.
»Wenn die Erde eine ganz feste Masse ohne alle Flüssigkeiten wäre, so würde die Anziehung weder der Sonne, noch des Mondes etwas tun, ihre freie Achsendrehung zu verändern; denn sie zieht die östlichen sowohl als die westlichen Teile der Erdkugel mit gleicher Kraft und verursacht dadurch keinen Hang weder nach der einen noch nach der andern Seite; folglich läßt sie die Erde in völliger Freiheit, diese Umdrehung so wie ohne allen äußerlichen Einfluß ungehindert fortzusetzen.«
Mit diesem Resultat durfte Kant sich begnügen. Tiefer in die Einwirkung des Mondes auf die Erdrotation einzudringen, dazu fehlten damals |387| alle wissenschaftlichen Vorbedingungen. Hat es doch fast hundert Jahre bedurft, bis Kants Theorie zur allgemeinen Anerkennung kam, und noch länger, bis man entdeckte, daß Ebbe und Flut nur die sichtbare Seite einer die Erdrotation beeinflussenden Wirkung der Attraktion von Sonne und Mond sind.
Diese allgemeinere Auffassung der Sache ist eben von Thomson und Tait entwickelt. Nicht allein auf die Flüssigkeiten des Erdkörpers oder seiner Oberfläche, auf die ganze Erdmasse überhaupt wirkt die Anziehung von Mond und Sonne in einer die Erdrotation hemmenden Weise. Solange die Periode der Erdrotation nicht zusammenfällt mit der Periode des Mondumlaufs um die Erde, solange hat die Anziehung des Mondes - um zunächst bei dieser allein zu bleiben - die Wirkung, beide Perioden einander immer mehr anzunähern. Wäre die Rotationsperiode des (relativen) Zentralkörpers länger als die Umlaufszeit des Satelliten, so würde die erstere allmählich verkürzt; ist sie kürzer, wie bei der Erde der Fall, so wird sie verlangsamt. Aber weder wird im einen Fall kinetische Energie aus nichts erschaffen, noch wird sie im andern vernichtet. Im ersten Fall würde der Satellit näher an den Zentralkörper heranrücken und seine Umlaufszeit verkürzen, im zweiten würde er sich weiter von ihm entfernen und eine längere Umlaufszeit erhalten. Im ersten Fall verliert der Satellit durch Annäherung an den Zentralkörper ebensoviel potentielle Energie, als der Zentralkörper bei beschleunigter Rotation an kinetischer Energie gewinnt, im zweiten gewinnt der Satellit durch Vergrößerung seines Abstandes genau dasselbe an potentieller Energie, was der Zentralkörper an kinetischer Energie der Rotation einbüßt. Die Gesamtsumme der im System Erde-Mond vorhandnen dynamischen Energie, potentieller und kinetischer, bleibt dieselbe; das System ist durchaus konservativ.
Man sieht, diese Theorie ist vollständig unabhängig von der physikalisch-chemischen Beschaffenheit der betreffenden Körper. Sie leitet sich ab aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen freier Weltkörper, deren Zusammenhang hergestellt wird durch Attraktion im Verhältnis der Massen und im umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Abstände. Sie ist augenscheinlich entstanden als eine Verallgemeinerung der Kantschen Theorie von der Flutreibung, und wird uns hier von Thomson und Tait dargestellt sogar als deren Begründung auf mathematischem Weg. Aber in Wirklichkeit - und davon haben die Verfasser merkwürdigerweise schlechterdings keine Ahnung -, in Wirklichkeit schließt sie den Spezialfall der Flutreibung aus.
Reibung ist Hemmung von Massenbewegung, und galt jahrhundertelang als Vernichtung von Massenbewegung, also von kinetischer Energie. |388| Wir wissen jetzt, daß Reibung und Stoß die beiden Formen sind, in denen kinetische Energie sich in Molekularenergie, in Wärme umsetzt. Bei jeder Reibung geht also kinetische Energie als solche verloren, um wiederzuerscheinen nicht als potentielle Energie im Sinne der Dynamik, sondern als Molekularbewegung in der bestimmten Form der Wärme. Die durch Reibung verlorengegangne kinetische Energie ist also zunächst für die dynamischen Beziehungen des betreffenden Systems wirklich verloren. Sie könnte nur dann wieder dynamisch wirksam werden, wenn sie aus der Form der Wärme rückverwandelt würde in kinetische Energie.
Wie stellt sich nun der Fall der Flutreibung? Es ist augenscheinlich, daß auch hier die ganze den Wassermassen an der Erdoberfläche durch die Mondanziehung mitgeteilte kinetische Energie in Wärme verwandelt wird, sei es durch Reibung der Wasserteilchen aneinander vermöge der Viskosität des Wassers, sei es durch Reibung an der festen Erdoberfläche und Zerkleinerung der der Flutbewegung sich entgegenstemmenden Gesteine. Von dieser Wärme wird nur der verschwindend kleine Teil wieder in kinetische Energie rückverwandelt, der zur Verdunstung der Wasseroberflächen beiträgt. Aber auch diese verschwindend kleine Menge der vom Gesamtsystem Erde-Mond an einen Teil der Erdoberfläche abgetretenen kinetischen Energie bleibt zunächst an der Erdoberfläche unterworfen den dort geltenden Bedingungen, und diese bereiten aller dort tätigen Energie ein und dasselbe Endschicksal: schließliche Verwandlung in Wärme und Ausstrahlung in den Weltraum.
Insofern also die Flutreibung unbestreitbar auf die Erdrotation hemmend wirkt, insofern geht die hierzu verwendete kinetische Energie dem dynamischen System Erde-Mond absolut verloren. Sie kann also nicht innerhalb dieses Systems als dynamische potentielle Energie wiedererscheinen. Mit andern Worten: Von der vermittelst der Mondanziehung auf die Hemmung der Erdrotation verwendeten kinetischen Energie kann als dynamische potentielle Energie ganz wiedererscheinen, also durch entsprechende Vergrößerung des Mondabstands kompensiert werden nur derjenige Teil, der auf die feste Masse des Erdkörpers wirkt. Der Teil dagegen, der auf flüssige Massen der Erde wirkt, kann dies nur, insofern er nicht diese Massen selbst in eine der Erdrotation entgegengerichtete Bewegung versetzt, denn diese Bewegung verwandelt sich ganz in Wärme und geht schließlich durch Ausstrahlung dem System verloren.
Was von Flutreibung an der Oberfläche der Erde, gilt ebensosehr von der manchmal hypothetisch angenommenen Flutreibung eines supponierten flüssigen Erdkerns.
|389| Das Eigentümliche an der Sache ist, daß Thomson und Tait nicht merken, wie sie zur Begründung der Theorie von der Flutreibung eine Theorie aufstellen, die von der stillschweigenden Voraussetzung ausgeht, daß die Erde ein durchweg starrer Körper ist und damit jede Möglichkeit einer Flut und also auch einer Flutreibung ausschließt.
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