MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1881

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 280-282.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Bismarck und die deutsche Arbeiterpartei

Geschrieben Mitte Juli 1881.
Aus dem Englischen.


["The Labour Standard" Nr. 12 vom 23. Juli 1881, Leitartikel]

|280| Die englische bürgerliche Presse ist in der letzten Zeit sehr schweigsam gewesen über die von Bismarck und seinen Kreaturen an den Mitgliedern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Deutschland verübten Brutalitäten. Die einzige Ausnahme machte bis zu einem gewissen Grade die "Daily News". Früher war die Entrüstung in den englischen Tageszeitungen und Wochenblättern wahrhaft gewaltig, wenn sich im Ausland despotische Regierungen auf Kosten ihrer Untertanen solche Übergriffe erlaubten. Aber hier sind von der Unterdrückung Arbeiter betroffen, die stolz auf diesen Namen sind; deshalb verheimlichen die Pressevertreter der "guten Gesellschaft", der "oberen Zehntausend", die Tatsachen, und der Hartnäckigkeit ihres Schweigens nach zu schließen, hat es fast den Anschein, daß sie sie gutheißen. In der Tat, was haben Arbeiter mit Politik zu schaffen? Sollen sie das den "besseren" Ständen überlassen! Und dann gibt es für das Schweigen der englischen Presse noch einen anderen Grund: Es ist recht schwer, Bismarcks Gewaltgesetz und die Art, wie er es durchführt, anzugreifen und in dem gleichen Atemzug Herrn Forsters Gewaltmaßnahmen in Irland zu verteidigen. Das ist ein besonders wunder Punkt, an den nicht gerührt werden darf. Man kann von der bürgerlichen Presse schwerlich erwarten, daß sie selbst darauf hinweist, wie sehr das moralische Ansehen Englands in Europa und Amerika durch das Vorgehen der gegenwärtigen Regierung in Irland gelitten hat.

Aus jeder allgemeinen Wahl ist die deutsche Arbeiterpartei mit einer rasch wachsenden Stimmenzahl hervorgegangen; bei der vorletzten Wahl entfielen auf ihre Kandidaten über 500.000, bei der letzten mehr als 600.000 Summen. Berlin wählte zwei, Elberfeld-Barmen einen, Breslau und |281| Dresden je einen Sozialdemokraten; zehn Sitze wurden erobert, und das angesichts der Koalition der Regierung mit der Gesamtheit der liberalen, konservativen und katholischen Parteien, angesichts des Geschreis wegen der zwei Attentatsversuche gegen den Kaiser |Wilhelm I.|, für die alle anderen Parteien einhellig die Arbeiterpartei verantwortlich machten. Da gelang es Bismarck, eine Gesetzesvorlage durchzubringen, durch die die Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes gestellt wurde. Die Zeitungen der Arbeiter, mehr als fünfzig an der Zahl, wurden unterdrückt, ihre Vereine verboten, ihre Klubs geschlossen, ihre Gelder beschlagnahmt, ihre Versammlungen von der Polizei aufgelöst, und als Krönung des Ganzen wurde verfügt, daß über ganze Städte und Bezirke der "Belagerungszustand" verhängt werden kann, genau wie in Irland, Aber was selbst englische Ausnahmegesetze in Irland niemals gewagt hatten, das tat Bismarck in Deutschland. In allen Bezirken, über die der "Belagerungszustand" verhängt war, erhielt die Polizei das Recht, jedermann auszuweisen, der ihr sozialistischer Propaganda "hinreichend verdächtig" erscheinen mochte. Über Berlin wurde natürlich sofort der Belagerungszustand verhängt, und Hunderte (mit ihren Familien Tausende) wurden ausgewiesen. Denn die preußische Polizei weist immer Familienväter aus; die jungen, unverheirateten Leute läßt sie im allgemeinen ungeschoren; für sie wäre die Ausweisung keine große Strafe, für die Familienväter aber bedeutet sie in den meisten Fällen eine lange Elendszelt, wenn nicht den völligen Ruin. Dann wählte Hamburg einen Arbeiter in den Reichstag, und sofort wurde dort der Belagerungszustand erklärt. Der erste Schub aus Hamburg Ausgewiesener umfaßte gegen hundert, dazu kamen mehr als dreihundert Familienangehörige. Die Arbeiterpartei brachte binnen zwei Tagen die Kosten für die Reise und andere unmittelbare Bedürfnisse auf. Jetzt ist auch über Leipzig der Belagerungszustand verhängt worden, und zwar mit keiner anderen Begründung, als daß die Regierung anders die Parteiorganisation nicht zerschlagen könne. Gleich am ersten Tag wurden 33 Männer ausgewiesen, vorwiegend Verheiratete mit Familie. An der Spitze der Liste stehen drei Abgeordnete des deutschen Reichstags; vielleicht schickt ihnen Herr Dillon ein Glückwunschschreiben in Anbetracht der Tatsache, daß sie doch nicht ganz so schlecht daran sind wie er selbst.

Aber das ist noch nicht alles. Nachdem die Arbeiterpartei erst einmal in aller Form außerhalb des Gesetzes gestellt und all der politischen Rechte beraubt ist, deren sich die übrigen Deutschen angeblich erfreuen, kann die |282| Polizei mit den einzelnen Mitgliedern dieser Partei nach Willkür verfahren. Unter dem Vorwand der Haussuchung nach verbotenen Schriften unterwirft sie deren Ehefrauen und Töchter der unanständigsten und brutalsten Behandlung. Sie selbst werden ganz nach Belieben von der Polizei verhaftet, wochenlang in Untersuchungshaft gehalten und erst freigelassen, nachdem sie monatelang im Gefängnis gesessen. Neue, dem Strafgesetzbuch unbekannte Vergehen werden von der Polizei erfunden und die Bestimmungen dieses Gesetzbuches selbst über die Grenzen des Möglichen hinaus gedehnt. Und oft genug findet die Polizei Justizbeamte und Richter, die korrumpiert oder fanatisch genug sind, ihr zu helfen und Vorschub zu leisten; hängt doch davon die Karriere ab! Was dabei herauskommt, zeigen die nachfolgenden erstaunlichen Zahlen. In dem einen Jahre von Oktober 1879 bis Oktober 1880 waren wegen Hochverrats, Landesverrats, Majestätsbeleidigung etc. allein in Preußen nicht weniger als 1.108 Personen eingekerkert und wegen politischer Verleumdung, Beleidigung Bismarcks, Verunglimpfung der Regierung etc. nicht weniger als 10.094. Elftausendzweihundertundzwei politische Gefangene - das übertrifft selbst Herrn Forsters irische Heldentaten!

Und was hat Bismarck mit all diesen Gewaltmaßnahmen erreicht? Ebensoviel wie Herr Forster in Irland. Die Sozialdemokratische Partei floriert genauso und besitzt eine ebenso feste Organisation wie die Irische Landliga. Vor einigen Tagen haben Wahlen zum Mannheimer Stadtrat stattgefunden. Die Arbeiterpartei stellte sechzehn Kandidaten auf und brachte sie alle mit einer Mehrheit von fast drei zu eins durch. Dann kandidierte Bebel - Reichstagsabgeordneter für Dresden - im Leipziger Wahlkreis für den sächsischen Landtag. Bebel ist selbst Arbeiter (Drechsler) und einer der besten, wenn nicht der beste Redner in Deutschland. Um seine Wahl zu vereiteln, wies die Regierung sein ganzes Wahlkomitee aus. Mit welchem Ergebnis? Daß Bebel, trotz der Beeinträchtigung des Stimmrechts, mit großer Mehrheit gewählt wurde. So nützen Bismarcks Zwangsmaßnahmen gar nichts; im Gegenteil, sie erbittern das Volk. Diejenigen, denen alle legalen Möglichkeiten, sich geltend zu machen, genommen sind, werden eines schönen Tages zu illegalen Mitteln greifen, und niemand kann ihnen daraus einen Vorwurf machen. Wie oft haben Herr Gladstone und Herr Forster diese Doktrin verkündet? Und wie handeln sie jetzt in Irland?


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