MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1881

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 277-279.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Eine Arbeiterpartei

Geschrieben Mitte Juli 1881.
Aus dem Englischen.


["The Labour Standard" Nr. 12 vom 23. Juli 1881, Leitartikel]

|277| Wie oft sind wir nicht schon von Freunden und Sympathisierenden gewarnt worden: "Haltet euch die Parteipolitik vom Leibe!" Und sie hatten vollkommen recht, soweit es sich dabei um die gegenwärtige englische Parteipolitik handelt. Ein Arbeiterorgan darf weder für die Whigs noch für die Tories sein, weder für die Konservativen noch für die Liberalen, es darf nicht einmal radikal im heutigen Parteisinn des Wortes sein. Konservative, Liberale, Radikale - sie alle vertreten nur die Interessen der herrschenden Klassen und die verschiedenen Schattierungen der Ansichten, die unter den Grundbesitzern, Kapitalisten und Kleinhändlern vorherrschen. Wenn sie die Arbeiterklasse vertreten, vertreten sie sie ganz bestimmt falsch und schlecht. Die Arbeiterklasse hat, politisch wie sozial, ihre eigenen Interessen. Wie sie für das eintritt, was sie als ihre sozialen Interessen betrachtet, das zeigt die Geschichte der Trade-Unions und der Bewegung für die Verkürzung der Arbeitszeit. Ihre politischen Interessen aber überläßt sie fast völlig den Tories, Whigs und Radikalen, Angehörigen der oberen Klasse; und seit nahezu einem Vierteljahrhundert hat sich die Arbeiterklasse Englands damit begnügt, sozusagen das Anhängsel der "Großen Liberalen Partei" zu bilden.

Eine solche politische Haltung ist der am besten organisierten Arbeiterklasse Europas nicht würdig. In anderen Ländern waren die Arbeiter weit aktiver. Deutschland hat seit über zehn Jahren eine Arbeiterpartei (die Sozialdemokraten), die über zehn Sitze im Reichstag verfügt und Bismarck durch ihr Wachstum derart in Schrecken versetzt hat, daß er zu jenen berüchtigten Unterdrückungsmaßnahmen griff, von denen wir an anderer Stelle berichten. Aber trotz Bismarck macht die Arbeiterpartei ständige Fortschritte; so eroberte sie erst vorige Woche sechzehn Sitze im Mannheimer Stadtrat |278| und einen im sächsischen Landtag. In Belgien, Holland und Italien ist man dem deutschen Beispiel gefolgt; in jedem dieser Länder gibt es eine Arbeiterpartei, wenngleich der Wahlzensus dort zu hoch ist, als daß sie derzeit Aussicht auf die Entsendung von Abgeordneten in die gesetzgebenden Körperschaften hätten. In Frankreich ist der Aufbau der Arbeiterpartei gerade jetzt in vollem Gange; sie hat bei den letzten Wahlen in mehreren Munizipalräten die Mehrheit errungen und wird bei den allgemeinen Kammerwahlen im nächsten Oktober zweifellos eine Anzahl Sitze erobern. Selbst in Amerika, wo der Übergang aus der Arbeiterklasse in die der Farmer, Kaufleute oder Kapitalisten noch immer verhältnismäßig leicht ist, halten die Arbeiter es für notwendig, sich zu einer unabhängigen Partei zusammenzuschließen. Überall kämpft der Arbeiter um die politische Macht, um die direkte Vertretung seiner Klasse in den gesetzgebenden Körperschaften - überall, nur in Großbritannien nicht.

Und dennoch war in England noch nie so weit wie heute das Bewußtsein verbreitet, daß die alten Parteien dem Untergang geweiht, die alten Schibboleths sinnlos geworden sind, daß die alten Losungen sich überlebt, die alten Universalmittel ihre Wirkung verloren haben. Vernünftige Männer aus allen Klassen beginnen einzusehen, daß ein neuer Weg beschritten werden muß, und daß dieser Weg nur in der Richtung der Demokratie liegen kann. In England jedoch, wo die industrielle und landwirtschaftliche Arbeiterklasse die überwältigende Mehrheit des Volkes bildet, bedeutet Demokratie nicht mehr und nicht weniger als die Herrschaft der Arbeiterklasse. Laßt die Arbeiterklasse sich vorbereiten für die Aufgabe, die ihrer harrt - auf die Herrschaft über das große Britische Reich; laßt sie die Verantwortung erkennen, die ihr unvermeidlich zufallen wird. Und der beste Weg hierzu ist, die Macht, über die sie bereits verfügt, die faktische Mehrheit, die sie in jeder großen Stadt des Königreichs besitzt, dazu auszunutzen, Leute aus ihren eigenen Reihen ins Parlament zu entsenden. Bei dem gegenwärtigen Wahlrecht der Haushaltungsvorstände könnten bequem vierzig oder fünfzig Arbeiter ins Unterhaus geschickt werden, wo eine solche gründliche Blutauffrischung in der Tat höchst notwendig ist. Schon allein mit dieser Zahl von Arbeitern im Parlament wäre es unmöglich, die irische Landbill mehr und mehr, wie es gegenwärtig der Fall ist, zu einer irischen Landbull, nämlich einem irischen Grundbesitzer-Entschädigungsgesetz werden zu lassen; wäre es unmöglich, sich dem Verlangen zu widersetzen nach Neuverteilung der Sitze, nach wirksamer Bestrafung der Wahlbestechung, nach Übernahme der Wahlausgaben durch den Staat, wie das überall außerhalb Englands der Fall ist, etc.

|279| Darüber hinaus kann es in England keine wirklich demokratische Partei geben, die keine Arbeiterpartei ist. Aufgeklärte Männer anderer Klassen (wo sie übrigens gar nicht so übermäßig zahlreich sind, wie man uns glauben machen möchte) könnten sich dieser Partei anschließen und sie, nachdem sie Beweise ihrer Aufrichtigkeit geliefert, sogar im Parlament vertreten. Das ist überall der Fall. In Deutschland zum Beispiel sind die Arbeitervertreter nicht in jedem Falle wirkliche Arbeiter. Aber keine demokratische Partei wird in England oder anderswo wirksamen Erfolg haben, wenn sie nicht eine Arbeiterpartei mit entschiedenem Klassencharakter ist. Geht man davon ab, so bleibt nichts als Sektierertum und Schwindel.

Das trifft für England sogar noch mehr zu als für das Ausland. Leider hat es seitens der Radikalen genug Schwindel gegeben seit dem Zerfall der ersten Arbeiterpartei in der Geschichte - der Chartistenpartei. Ja, aber die Chartisten sind doch gescheitert und haben nichts erreicht. Ist dem wirklich so? Von den sechs Punkten der Volks-Charte sind jetzt zwei - geheime Stimmabgabe und kein Vermögenszensus - Gesetz im Lande. Ein dritter, das allgemeine Wahlrecht, ist in Gestalt des Stimmrechts der Haushaltungsvorstände wenigstens annähernd erreicht; ein vierter, die Gleichheit der Wahlbezirke, ist deutlich in Sicht als eine von der gegenwärtigen Regierung versprochene Reform. Somit hat der Zusammenbruch der Chartistenbewegung dazu geführt, daß reichlich die Hälfte ihres Programms verwirklicht worden ist. Wenn schon die bloße Erinnerung an eine frühere politische Organisation der Arbeiterklasse zu diesen politischen und außerdem noch zu einer Reihe sozialer Reformen führen konnte, welche Wirkung wird dann erst das tatsächliche Bestehen einer politischen Arbeiterpartei ausüben, die sich auf vierzig oder fünfzig Vertreter im Parlament stützt? Wir leben in einer Welt, in der jeder für sich selbst zu sorgen hat. Die englische Arbeiterklasse jedoch gestattet es den Klassen der Grundbesitzer, Kapitalisten und Kleinhändler mit ihrem Anhängsel von Advokaten, Zeitungsschreibern etc., ihre Interessen wahrzunehmen. Kein Wunder, daß Reformen im Interesse der Arbeiter nur so langsam und nur so erbärmlich tropfenweise zustande kommen. Die Arbeiter Englands brauchen nur zu wollen, und sie haben die Macht, jede soziale und politische Reform durchzusetzen, die ihre Lage erfordert. Warum dann diese Anstrengung nicht machen?


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