MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1881

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 273-276.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Die Lohntheorie der Anti-Korngesetz-Liga

Geschrieben Anfang Juli 1881.
Aus dem Englischen.


["The Labour Standard" Nr. 10 vom 9. Juli 1881, Leitartikel]

|273| An anderer Stelle veröffentlichen wir einen Brief von Herrn J. Noble, der mit einigen unserer Bemerkungen in einem Leitartikel des "Labour Standard" vom 18. Juni nicht einverstanden ist. Obwohl wir natürlich die Spalten unserer Leitartikel nicht mit Polemiken über geschichtliche Tatsachen oder ökonomische Theorien füllen können, wollen wir für diesmal doch einem Manne erwidern, der es, obwohl in offizieller Parteistellung, offenbar ehrlich meint.

Gegen unsere Behauptung, daß mit der Aufhebung der Korngesetze der Zweck verfolgt worden sei, eine "Senkung des Brotpreises und damit der Geldlöhne" herbeizuführen, wendet Herr Noble ein, dies sei eine "protektionistische Irrlehre" gewesen, die die Liga unermüdlich bekämpft habe, und zum Beweis dafür zitiert er einige Stellen aus Richard Cobdens Reden und eine Denkschrift des Rates der Liga.

Der Verfasser des Artikels, um den es sich hier handelt, lebte damals in Manchester - als Fabrikant unter Fabrikanten. Er weiß natürlich recht gut, was die offizielle Doktrin der Liga war. Auf ihren kürzesten, ganz allgemein anerkannten Ausdruck gebracht (denn es gibt viele Varianten), lautete sie wie folgt: Die Aufhebung der Kornzölle wird den Umfang unseres Handels mit dem Ausland vergrößern, sie wird unmittelbar unsere Einfuhr steigern, wofür im Austausch ausländische Kunden unsere Fabrikate kaufen und so die Nachfrage nach unsern Industrieartikeln steigern werden; auf diese Weise wird die Nachfrage nach der Arbeit unserer Industriearbeiter wachsen, und infolgedessen müssen die Löhne steigen. Dank der Tag für Tag und |274| Jahr für Jahr fortgesetzten Wiederholung dieser Theorie konnten die offiziellen Vertreter der Liga, oberflächliche Ökonomen, die sie waren, schließlich mit der erstaunlichen Behauptung herauskommen, daß die Löhne im umgekehrten Verhältnis nicht zum Profit, sondern zum Lebensmittelpreis steigen und fallen, daß teures Brot niedrige Löhne bedeute und billiges Brot hohe Löhne. Damit wurden die alle zehn Jahre wiederkehrenden Wirtschaftskrisen, die es sowohl vor wie nach der Aufhebung der Kornzölle gab, von den Wortführern der Liga als bloße Auswirkungen der Korngesetze hingestellt, die bestimmt verschwinden würden, sobald diese abscheulichen Gesetze aufgehoben seien; die Korngesetze seien das einzige große Hindernis, das zwischen dem britischen Fabrikanten und den armen Ausländern stehe, die sich, mangels britischer Stoffe, unbekleidet und vor Kälte zitternd, nach den Erzeugnissen dieses Fabrikanten sehnten. Und so konnte Cobden in der Tat an der von Herrn Noble zitierten Stelle geltend machen, daß die geschäftliche Depression und das Sinken der Löhne von 1839 bis 1842 die Folge des sehr hohen Kornpreises dieser Jahre gewesen sei, während es sich doch nur um eine der regulären Phasen geschäftlicher Depression handelte, die sich bis auf den heutigen Tag alle zehn Jahre mit der größten Regelmäßigkeit wiederholen; eine Phase, die allerdings durch schlechte Ernten und die törichte Einmischung der Gesetzgebung zugunsten der habgierigen Grundbesitzer verlängert und verschlimmert wurde.

Das war die offizielle Theorie Cobdens, der bei all seiner Geschicklichkeit als Agitator ein schlechter Geschäftsmann und oberflächlicher Ökonom war; ohne Zweifel glaubte er an sie ebenso aufrichtig, wie Herr Noble noch heute an sie glaubt. Die Mehrheit der Liga bestand jedoch aus praktischen Geschäftsleuten, die geschäftstüchtiger und im allgemeinen auch erfolgreicher waren als Cobden. Und bei ihnen verhielt sich die Sache ganz anders. Natürlich, vor Fremden und in öffentlichen Versammlungen, besonders ihren "Händen" gegenüber, wurde die offizielle Theorie allgemein als "die Sache" bewertet. Aber wenn Geschäftsleute auf Geschäfte aus sind, dann tragen sie in der Regel ihren Kunden gegenüber nicht das Herz auf der Zunge, und falls Herr Noble anderer Meinung sein sollte, so täte er besser, der Börse von Manchester fernzubleiben. Wenn man sich etwas näher danach erkundigte, was man darunter verstehe, der Freihandel mit Getreide führe zu einem Ansteigen der Löhne, so wurde offenbar, daß damit eine Steigerung der Kaufkraft der Löhne gemeint war, wobei als durchaus möglich angenommen wurde, daß der Geldbetrag der Löhne überhaupt nicht steige - aber sei das im Grunde genommen nicht auch eine Lohnsteigerung? Forschte man weiter nach, so kam gewöhnlich heraus, daß der Geldbetrag |275| der Löhne sogar sinken könne, während die Annehmlichkeiten, die der Arbeiter für diesen verringerten Geldbetrag erhalte, noch immer bedeutender seien als die, deren er sich gegenwärtig erfreue. Und wenn man noch nachdrücklicher die Frage stellte, auf welchem Wege die erwartete riesige Ausdehnung des Handels zustande kommen solle, dann bekam man rasch zu hören, daß in der Hauptsache mit der zuletzt erwähnten Möglichkeit gerechnet wurde: eine Senkung des Geldbetrags der Löhne, verbunden mit einem diese Senkung mehr als ausgleichenden Sinken des Brotpreises etc. Überdies gab es viele, die sich gar keine Mühe gaben, ihre Meinung zu verhehlen, daß billiges Brot einfach nötig sei, um den Geldbetrag der Löhne herabzusetzen und so die ausländische Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen. Und daß das wirklich das Ziel und Streben der Mehrheit der Fabrikanten und Kaufleute war, aus denen sich die Liga vorwiegend zusammensetzte, war nicht allzuschwer ausfindig zu machen für jemand, der gewohnt war, mit Kaufleuten umzugehen, und daher auch gewohnt, nicht jedes ihrer Worte als Evangelium hinzunehmen. Das haben wir gesagt, und wir sagen es nochmals. Über die offizielle Doktrin der Liga haben wir kein Wort verloren. Sie war ökonomisch eine "Irrlehre" und praktisch ein bloßer Deckmantel für eigennützige Zwecke, wenn auch manche ihrer Führer sie so oft wiederholten, bis sie schließlich selbst daran glaubten.

Sehr amüsant ist Herrn Nobles Bezugnahme auf Cobdens Worte über die Arbeiterklasse, die sich bei der Aussicht auf einen Kornpreis von 25 Shilling je Quarter "befriedigt die Hände reibt". Die Arbeiterklasse von damals verschmähte billiges Brot durchaus nicht; aber ihre "Befriedigung" über die Machenschaften von Cobden und Co. war so groß, daß sie es der Liga mehrere Jahre hindurch unmöglich machte, im ganzen Norden auch nur eine einzige wirklich öffentliche Versammlung abzuhalten. Der Verfasser dieses Artikels hatte die "Befriedigung", 1843 in der Stadthalle von Salford anwesend zu sein, als die Liga ihren letzten Versuch machte, eine solche Versammlung zustande zu bringen, und zu erleben, wie sie durch die bloße Einbringung eines Zusatzantrags zugunsten der Volks-Charte beinahe gesprengt wurde. Seitdem war für alle Versammlungen der Liga die Regel: "Einlaß nur mit Eintrittskarte", die durchaus nicht jedermann erhalten konnte. Von diesem Augenblick an hörte die "chartistische Obstruktion" auf. Die arbeitenden Massen hatten ihr Ziel erreicht - den Nachweis zu führen, daß die Liga keineswegs, wie sie behauptete, die Interessen der Massen vertrat.

Abschließend ein paar Worte über die Lohntheorie der Liga. Der Durchschnittspreis einer Ware ist gleich ihren Produktionskosten; die Wirkung |276| von Angebot und Nachfrage besteht darin, ihn auf diese Norm zurückzuführen, um die er schwankt. Wenn das für alle Waren zutrifft, trifft es auch für die Ware Arbeit (oder genauer gesagt, Arbeitskraft) zu. Dann ist die Lohnhöhe durch den Preis jener Waren bestimmt, die in den herkömmlichen und notwendigen Konsum des Arbeiters eingehen. Mit andern Worten, bei sonst unveränderten Umständen steigen und fallen die Löhne mit dem Preis der lebensnotwendigen Waren. Das ist ein Gesetz der politischen Ökonomie, gegen das alle Perronet Thompsons, Cobdens und Brights ewig ohnmächtig bleiben werden. Alle sonstigen Umstände bleiben jedoch keineswegs immer unverändert, und deshalb wird die Wirkung dieses Gesetzes in der Praxis durch die gleichzeitige Wirkung anderer ökonomischer Gesetze modifiziert; es erscheint unklar, und zwar manchmal in so hohem Grade, daß es einige Mühe kostet, ihm auf die Spur zu kommen. Dieser Umstand diente den vulgarisierenden und den Vulgärökonomen seit den Zeiten der Anti-Korngesetz-Liga als Vorwand für die Behauptung, daß erstens die Arbeit und dann alle anderen Waren keinen wirklich bestimmbaren Wert hätten, sondern nur einen schwankenden Preis, der, unabhängig von den Produktionskosten, mehr oder weniger durch Angebot und Nachfrage reguliert werde, und daß man, um die Preise und damit die Löhne zu erhöhen, weiter nichts zu tun brauche, als die Nachfrage zu vergrößern. Auf diese Weise kam man um den unangenehmen Zusammenhang der Lohnhöhe mit den Lebensmittelpreisen herum und konnte kühn die hanebüchene, lächerliche Lehre hinausposaunen, teures Brot bedeute niedrige Löhne und billiges Brot hohe Löhne.

Vielleicht wird Herr Noble fragen, ob die Löhne bei dem heutigen billigen Brot im allgemeinen nicht ebenso hoch oder sogar höher seien als bei dem durch Zölle verteuerten Brot vor 1847. Zur Beantwortung dieser Frage wäre eine eingehende Untersuchung nötig. Soviel ist jedoch sicher: Wo ein Industriezweig florierte und die Arbeiter gleichzeitig eine starke Organisation zur Verteidigung ihrer Interessen hatten, sind ihre Löhne im allgemeinen nicht gefallen und manchmal vielleicht sogar gestiegen. Das beweist aber lediglich, daß die Leute vorher unterbezahlt waren. Wo ein Industriezweig in Verfall geriet oder wo die Arbeiter nicht in starken Trade-Unions organisiert waren, sind die Löhne ausnahmslos gefallen, oft auf ein Hungerniveau. Geht ins Londoner Eastend und überzeugt euch mit eigenen Augen!


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