MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1881

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 266-269.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Zwei vorbildliche Stadträte

Geschrieben in der zweiten Junihälfte 1881.
Aus dem Englischen.


["The Labour Standard" Nr. 8 vom 25. Juni 1881, Leitartikel]

|266| Wir haben unseren Lesern versprochen, sie über die Arbeiterbewegung sowohl im Ausland als auch zu Hause unterrichtet zu halten. Wir konnten hier und da einige Nachrichten aus Amerika bringen, und heute sind wir in der Lage, einige Tatsachen aus Frankreich zu berichten - Tatsachen von solcher Wichtigkeit, daß sie wohl verdienen, in unserem Leitartikel erwähnt zu werden,

In Frankreich sind die zahlreichen Systeme öffentlicher Abstimmung, wie sie hierzulande noch in Gebrauch sind, unbekannt. Statt einer Form des Stimmrechts und des Wahlmodus für die Parlamentswahlen, einer anderen für städtische Kommunalwahlen, einer dritten für Gemeindewahlen und so fort, ist überall das gewöhnliche allgemeine Stimmrecht und die geheime Wahl mit Stimmzettel die Regel. Bei der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei in Frankreich wurde beschlossen, Arbeiterkandidaten nicht nur für die Kammer, sondern auch für alle Kommunalwahlen aufzustellen; und tatsächlich siegte bei der letzten Neuwahl der Stadträte in Frankreich, die am 9. Januar dieses Jahres stattfand, die junge Partei in einer großen Zahl von Industriestädten und ländlichen, besonders Bergarbeitergemeinden. Es gelang ihr nicht nur, einzelne Kandidaten durchzubringen, sondern in einigen Orten erlangte sie sogar die Majorität im Rat, und mindestens ein Stadtrat wurde, wie wir sehen werden, nur aus Arbeitern gebildet.

Kurz vor der Gründung des "Labour Standard" fand ein Streik der Fabrikarbeiter in Roubaix, dicht an der belgischen Grenze, statt. Die Regierung schickte sofort Truppen hin, um die Stadt zu besetzen und unter dem Vorwand, die Ordnung aufrechterhalten zu wollen (die niemals bedroht war), zu versuchen, die Streikenden zu Handlungen zu provozieren, |267| die als Vorwand für das Eingreifen der Truppen dienen konnten. Aber die Bevölkerung verhielt sich ruhig, und eine der Hauptursachen, die sie allen Provokationen widerstehen ließ, war das Vorgehen des Stadtrats. Dieser bestand in seiner Mehrheit aus Arbeitern. Die Gründe für den Streik wurden ihm vorgetragen und ausführlich erörtert. Das Ergebnis war, daß der Rat nicht nur erklärte, die Streikenden seien im Recht, sondern daß er auch einen Betrag von 50.000 frs. oder 2.000 Pfd. St. zur Unterstützung der Streikenden votierte. Diese Hilfsgelder konnten nicht ausgezahlt werden, da nach französischem Recht der Präfekt des Departements befugt ist, jeden Beschluß der Stadträte zu annullieren, den er als eine Überschreitung ihrer Befugnisse ansieht. Nichtsdestoweniger war aber die starke moralische Unterstützung, die dem Streik so durch die offizielle Vertretung der Stadt zuteil wurde, für die Arbeiter von größtem Wert.

Am 8. Juni entließ die Bergwerksgesellschaft von Commentry im Zentrum Frankreichs (Departement Allier) 152 Leute, die es ablehnten, sich neuen und ungünstigeren Bedingungen zu unterwerfen. Da dies Teil eines bereits seit längerem angewandten Systems war, um allmählich schlechtere Arbeitsbedingungen einzuführen, streikte die Gesamtheit der etwa 1.600 Bergarbeiter. Die Regierung schickte sofort die üblichen Truppen, um die Streikenden einzuschüchtern bzw. zu provozieren. Aber auch hier setzte sich der Stadtrat sofort für die Arbeiter ein. In seiner Versammlung vom 12. Juni (überdies einem Sonntag) faßte er folgende Beschlüsse:

1. Nachdem es Pflicht der Gesellschaft ist, die Existenz derjenigen zu sichern, die durch ihre Arbeit die Existenz aller ermöglichen, und da die Gemeinden gehalten sind, dies zu tun, wenn der Staat es ablehnt, diese Pflicht zu erfüllen, beschließt dieser Rat, mit Einwilligung der höchstbesteuerten Bürger, eine Anleihe von 25.000 frs. (1.000 Pfd. St.) aufzunehmen, zum Nutzen der Bergleute, welche die ungerechtfertigte Entlassung von 152 Mann aus ihrer Mitte gezwungen hat, in den Streik zu treten.

Einmütig gegen das alleinige Veto des Bürgermeisters angenommen.

2. Nachdem der Staat durch den Verkauf des wertvollen Nationaleigentums, der Bergwerke von Commentry, an eine Aktiengesellschaft die dort beschäftigten Arbeiter der Gnade besagter Gesellschaft ausgeliefert hat; und da der Staat infolgedessen verpflichtet ist, darauf zu achten, daß der durch die Gesellschaft auf die Bergarbeiter ausgeübte Druck nicht einen Grad erreicht, der geradezu ihre Existenz bedroht; nachdem der Staat, indem er der Gesellschaft während des gegenwärtigen Streiks Truppen zur Verfügung stellt, jedoch nicht einmal Neutralität bewahrt, sondern für die Bergwerksgesellschaft Partei ergriffen hat,

fordert dieser Rat im Namen der Interessen der Arbeiterklasse, die zu schützen seine Pflicht ist, den Unterpräfekten des Bezirks auf:

|268| 1) sofort die Truppen zurückzurufen, deren völlig unangebrachte Anwesenheit nichts als eine Provokation darstellt, und

2) bei dem Verwalter der Bergwerksgesellschaft vorstellig zu werden und dahin zu wirken, daß die Maßnahme rückgängig gemacht wird, die den Streik hervorgerufen hat.

Einstimmig angenommen.

In einem dritten Beschluß, der ebenfalls einstimmig angenommen wurde, eröffnet der Rat - der befürchtet, daß durch die Armut der Gemeinde diese bewilligte Anleihe nicht realisierbar sei - eine öffentliche Subskription zur Unterstützung der Streikenden und forderte alle anderen Gemeinderäte in Frankreich auf, für den gleichen Zweck Hilfsgelder zu schicken.

Hier haben wir also einen schlagenden Beweis dafür, was die Anwesenheit von Arbeitern nicht nur im Parlament, sondern auch in kommunalen und allen anderen Körperschaften bedeutet. Wie anders würde manch ein Streik in England enden, wenn die Männer den Stadtrat des Ortes hinter sich hätten! Die englischen Stadträte und die örtlichen Ausschüsse, die zum großen Teil von Arbeitern gewählt werden, bestehen zur Zeit fast ausschließlich aus Unternehmern, ihren direkten und indirekten Agenten (Advokaten etc.) und im besten Falle aus Ladeninhabern. Sobald ein Streik oder eine Aussperrung erfolgt, wird die ganze moralische und materielle Macht der Ortsbehörden zugunsten der Herren und gegen die Arbeiter angewandt; selbst die Polizei, mit dem Geld der Arbeiter bezahlt, wird genau so eingesetzt wie in Frankreich die Truppen, um die Arbeiter zu illegalen Handlungen zu provozieren und sie dann zur Strecke zu bringen. Die Armenbehörden verweigern in den meisten Fällen Unterstützung für die Männer, die ihrer Meinung nach arbeiten könnten, wenn sie wollten. Und das ist ganz natürlich. In den Augen dieser Art Leute, die mit Einwilligung der Arbeiter die Ortsbehörden bilden, ist der Streik eine offene Rebellion gegen die Gesellschaftsordnung, eine Empörung gegen die geheiligten Rechte des Eigentums. Daher wird auch bei jedem Streik und bei jeder Aussperrung das ganze ungeheure moralische und physische Gewicht der Ortsbehörden in die Waagschale der Herren geworfen, solange die Arbeiterklasse damit einverstanden ist, daß die Herren und die Vertreter der Herren in lokale Wahlkörperschaften entsandt werden.

Wir hoffen, daß die Handlungsweise der beiden französischen Stadträte vielen die Augen öffnen wird. Es sei ein für allemal auch den englischen Arbeitern gesagt, daß "sie in Frankreich diese Dinge besser besorgen". Die englische Arbeiterklasse, mit ihrer alten und mächtigen Organisation, ihren uralten politischen Freiheiten, ihrer langen Erfahrung in politischer Betätigung, hat gegenüber jedem Lande auf dem Kontinent gewaltige Vorteile. |269| Dennoch konnten die Deutschen zwölf Vertreter der Arbeiterklasse in den Reichstag entsenden, und sowohl in Deutschland als auch in Frankreich besitzen Vertreter der Arbeiterklasse in zahlreichen Stadträten die Mehrheit. Gewiß, in England ist das Wahlrecht eingeschränkt; aber selbst jetzt bildet die Arbeiterklasse in allen großen Städten und in den Industriebezirken die Mehrheit. Sie braucht es nur zu wollen, und diese potentielle Majorität wird sofort eine wirkliche, eine Macht im Staate, eine Macht in allen Orten, wo die arbeitende Bevölkerung konzentriert ist. Und wenn erst einmal Arbeiter im Parlament, in den Stadträten und lokalen Fürsorgeämtern etc. sind, wie lange wird es dann dauern, bis ihr auch in den Behörden Vertreter der Arbeiterklasse habt, die fähig sind, einen Knüppel zwischen die Beine jener Dogberries zu werfen, die jetzt so häufig rücksichtslos auf dem Volk herumtrampeln?


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