MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1878

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 142-147.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Karl Marx

Herrn George Howells Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation

Geschrieben Anfang Juli 1878.
Aus dem Englischen.


["The Secular Chronicle" Nr. 5 vom 4. August 1878]

|144| Ich halte es für angebracht, mit einigen Bemerkungen den neuesten Beitrag zu den massenweisen Fälschungen über die Geschichte der Internationale - siehe das "Nineteenth Century" vom vergangenen Juli - zu illustrieren, denn man mag irrtümlicherweise glauben, ihr jüngster Exponent, Herr George Howell, Ex-Arbeiter und Ex-Mitglied des Generalrats jener Assoziation, habe seine Weisheit aus Quellen geschöpft, die nicht allgemein zugänglich sind.

Herr Howell beginnt seine "Geschichte" mit dem Übergehen der Tatsache, daß ich an der Gründungsversammlung der Internationale am 28. September 1864 teilgenommen habe, dort zum Mitglied des provisorischen Generalrats gewählt wurde und bald danach die Inauguraladresse und die Allgemeinen Statuten der Assoziation entworfen habe, die zuerst 1864 in London veröffentlicht und 1866 auf dem Genfer Kongreß bestätigt wurden.

Herr Howell weiß das alles, zieht es aber für seine Zwecke vor, "einen deutschen Doktor namens Karl Marx" zuerst auf dem in London "am 25. September 1865 eröffneten Kongreß" erscheinen zu lassen. Besagter "Doktor" habe dann, behauptet er, bei dieser Gelegenheit "die Saat der Zwietracht und des Verfalls durch das Hineintragen der religiösen Idee gesät".

Erstens fand im September 1865 kein "Kongreß" der Internationale statt. Einige wenige Delegierte der hauptsächlichsten europäischen Sektionen der Assoziation kamen zu dem einzigen Zweck nach London, um mit dem Generalrat über das Programm des "Ersten Kongresses" zu beraten, der im September 1866 in Genf stattfinden sollte. Die eigentliche Arbeit der Konferenz fand in geschlossenen Sitzungen statt und nicht auf den allein von dem exakten Historiker Howell erwähnten halböffentlichen Versammlungen in Adelphi Terrace.

|143| Wie die übrigen Vertreter des Generalrats hatte ich bei der Konferenz die Annahme unseres Programms durchzusetzen, das bei seiner Veröffentlichung von dem französischen Historiker Henri Martin in einem Briefe an die Zeitung "Siècle" folgendermaßen charakterisiert wurde:

"Die Großzügigkeit und die hohe moralische, politische und ökonomische Konzeption, die entscheidend war für die Auswahl der Punkte des Programms für den Kongreß der Internationalen Arbeiterassoziation, der nächstes Jahr stattfinden soll, wird alle Freunde des Fortschritts, der Gerechtigkeit und Freiheit in Europa gleichermaßen mit Sympathie erfüllen."

Nebenbei lautet ein Abschnitt des Programms, das für den Generalrat zu entwerfen ich die Ehre hatte:

"Die Notwendigkeit der Beseitigung des moskowitischen Einflusses in Europa durch Verwirklichung des Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung und die Wiederherstellung Polens auf demokratischer und sozialistischer Grundlage." |Im französischen Text des Protokolls und in Henri Martins Artikel heißt es: auf demokratischer und sozialer Grundlage|

Hierüber machte Henri Martin die Bemerkung:

"Wir gestatten uns, zu bemerken, daß der Ausdruck 'demokratische und sozialistische Grundlage' sehr einfach ist in Hinblick auf Polen, wo die soziale Struktur der Wiederherstellung ebenso bedarf wie die politische, und wo diese Grundlage in den Dekreten der anonymen Regierung von 1863 gegeben und von allen Klassen der Nation akzeptiert worden ist. Dies also ist die Antwort des wirklichen Sozialismus, des sozialen Fortschritts in Harmonie mit Gerechtigkeit und Freiheit, auf das Vorrücken des auf der Dorfgemeinschaft beruhenden Despotismus Moskowiens. Dies Geheimnis des Volkes von Paris wird nunmehr das gemeinsame Geheimnis der Völker Europas."

Unglücklicherweise hatte "das Volk von Paris" sein "Geheimnis" so gründlich gewahrt, daß zwei der Pariser Delegierten zur Konferenz, Tolain, nunmehr ein Senator der französischen Republik, und Fribourg, nun ein einfacher Renegat, davon gar nichts wußten und gerade über den Progammpunkt herzogen, der die begeisterte Bemerkung des französischen Historikers hervorrief.

Das Programm des Generalrats enthielt nicht eine Silbe über "Religion", aber auf das Drängen der Pariser Delegierten gelangte die verbotene Speise in folgender Garnierung in das Menü für den kommenden Kongreß:

"Religiöse Ideen" (und nicht "die religiöse Idee", wie Howells falsche Darstellung sagt) "und ihr Einfluß auf die soziale, politische und geistige Bewegung."

|144| Dieses Diskussionsthema, von den französischen Delegierten eingebracht, wurde ihrer Obhut überlassen. Tatsächlich ließen sie es auf dem Genfer Kongreß fallen und niemand griff es wieder auf.

Der Londoner "Kongreß" von 1865, das "Hineintragen" der "religiösen Idee" von einem "deutschen Doktor namens Karl Marx" und der erbitterte Kampf, der daraus innerhalb der Internationale erwuchs - diesen dreifachen Mythus krönt Herr George Howell mit einer Legende. Er sagt:

"Im Entwurf der Adresse an das amerikanische Volk mit Bezug auf die Abschaffung der Sklaverei wurde der Satz 'Gott hat gemacht von einem Blut aller Menschen Geschlechter' gestrichen etc."

Nun richtete der Generalrat seine Adresse nicht an das amerikanische Volk, sondern an dessen Präsidenten, Abraham Lincoln, der sie auch gebührend bestätigte. Die Adresse, von mir verfaßt, erlitt keinerlei Veränderung. Da die Worte "Gott hat gemacht von einem Blut aller Menschen Geschlechter" niemals darin gestanden hatten, konnten sie auch nicht "gestrichen" werden.

Die Stellung des Generalrats zu der "religiösen Idee" zeigt am besten folgender Fall: Eine der Schweizer Sektionen der von Michail Bakunin begründeten Allianz, die sich als Section des athées socialistes bezeichnete, verlangte vom Generalrat die Aufnahme in die Internationale, erhielt aber den Bescheid:

"Der Generalrat hat bereits im Falle der Young Men's Christian Association erklärt, daß er theologische Sektionen nicht anerkenne" (vgl. S. 13 der "Les prétendues scissions dans l'internationale. Circulaire du conseil général. Genève").

Selbst Herr George Howell, damals noch nicht durch eingehendes Studium des "Christian Reader" bekehrt, vollzog seine Scheidung von der Internationale, nicht auf das Gebot der "religiösen Idee" hin, sondern aus Gründen höchst weltlicher Natur. Als das "Commonwealth" als "spezielles Organ" des Generalrats gegründet wurde, bewarb er sich eifrig um die "stolze Stellung" des Redakteurs. Nachdem dieser "ehrgeizige" Versuch mißlungen war, begann er zu schmollen, sein Eifer ließ immer mehr nach und bald darauf ließ er nichts mehr von sich hören. Während der ereignisreichsten Zeit der Internationale stand er ihr daher fern.

Seiner vollständigen Unfähigkeit bewußt, die Geschichte der Assoziation zu skizzieren, gleichzeitig aber eifrig auf der Suche nach geheimnisvollen Enthüllungen, um seinen Artikel zu würzen, greift er das Erscheinen |145| von General Cluseret in London während der Fenier-Unruhen auf, und wie man uns erzählt, kam im Black Horse, Rathbone Place, Oxford Street, der General mit "einigen wenigen Leuten - glücklicherweise Engländern" - zusammen, um sie in seinen "Plan" einer "allgemeinen Insurrektion" einzuweihen. Ich habe Gründe, die Wahrheit der Anekdote anzuzweifeln; aber angenommen, sie stimmt, was anderes beweist sie, als daß Cluseret nicht so beschränkt war, seine Person oder seinen "Plan" dem Generalrat aufzudrängen, sondern beides klüglich für "einige wenige Engländer" aus Howells Bekanntschaft aufhob. Oder war Howell selbst einer von den vierschrötigen Blusenmännern, die es durch ihr "glückliches" Dazwischentreten verstanden, das Britische Reich und Europa von allgemeiner Erschütterung zu retten?

Herr George Howell hat noch ein anderes düsteres Geheimnis zu enthüllen. Anfang Juni 1871 erließ der Generalrat eine "Adresse über den Bürgerkrieg in Frankreich", die seitens der Londoner Presse mit einem Schrei der Verwünschung begrüßt wurde. Ein Wochenblatt beschimpfte den "infamen Verfasser", der sich feige hinter dem Generalrat verstecke. Daraufhin bekannte ich mich in der "Daily News" als Verfasser. Dieses altbackene Geheimnis enthüllt Herr George Howell im Juli 1878 mit all der Gewichtigkeit des Mannes hinter den Kulissen.

"Der Verfasser dieser Adresse war Dr. Karl Marx ... Herr George Odger und Herr Lucraft, beide Mitglieder des Generalrats, als sie (sie!) angenommen wurde, wiesen sie zurück, als sie veröffentlicht wurde."

Nur vergißt er hinzuzufügen, daß die anderen neunzehn anwesenden britischen Mitglieder der "Adresse" zustimmten.

Seit dieser Zeit haben die Feststellungen dieser Adresse ihre volle Bestätigung erhalten durch die Enqueten der französischen Krautjunker-Versammlung, durch die Beweisaufnahme vor dem Kriegsgericht in Versailles, durch den Prozeß Jules Favre und durch die Memoiren von Leuten, die den Siegern keineswegs feindlich gesinnt waren.

Es ist ganz natürlich, wenn ein englischer Historiker mit der gründlichen Gelehrsamkeit des Herrn George Howell französische Schriften, offizielle und nicht offizielle, hochmütig ignoriert. Aber ich gestehe, der Abscheu erfaßt mich bei solchen Anlässen, wie zum Beispiel den Attentaten von Hödel und Nobiling, wenn ich sehe, wie die großen Londoner Blätter dieselben schmutzigen Verleumdungen wiederkäuen, die ihre eigenen Korrespondenten, die selbst Augenzeugen waren, als erste zurückgewiesen hatten.

|146| Herr Howell erreicht den Gipfel des Snobismus bei seiner Darstellung der Finanzen des Generalrats.

Der Generalrat macht sich in seinem veröffentlichten Bericht an den Kongreß von Basel (1869) über den gewaltigen Schatz lustig, den die geschäftige Zunge der europäischen Polizei und die wilde Phantasie der Kapitalisten ihm angedichtet hatte. Es heißt darin:

"Obwohl diese Leute gute Christen sind, wären sie, wenn sie in der ersten Zeit des Christentums gelebt hätten, nach einer römischen Bank geeilt, um da des Apostels Paulus Bankkredit nachzuspähen."

Herr Ernest Renan, der zwar nicht an Herrn George Howells orthodoxe Maßstäbe heranreicht, meint sogar, an Hand der Sektionen der Internationale könne am besten illustriert werden, wie die christlichen Urgemeinden das Römische Reich untergruben.

Herr George Howell ist auf seine Art als Schriftsteller das, was man in der Kristallographie "pseudomorph" nennt. Die äußere Form seines Stils ist bloß eine Nachahmung der Art des Denkens und des Stils, die dem wohlhabenden Engländer von satter Tugend und zahlungsfähiger Moral "eigen" ist. Obwohl er seine "Ziffern" über die Einnahmen des Generalrats den Kassenberichten eben desselben Generalrats entnimmt, die dieser jährlich einem öffentlichen "Internationalen Kongreß" verlegte, darf Herr George Howell seiner "imitierten" Würde nichts dadurch vergeben, daß er sich herabläßt, die naheliegende Frage zu berühren: Wie kam es, daß anstatt sich mit den mageren Budgets des Generalrats zu beruhigen, alle Regierungen des kontinentalen Europas erschraken vor "der mächtigen und furchtbaren Organisation der Internationalen Arbeiterassoziation und der rapiden Entwicklung, die sie in wenigen Jahren erreicht hatte"? (Siehe Rundschreiben des spanischen Ministers des Auswärtigen an die Repräsentanten Spaniens im Ausland.) Anstatt das rote Gespenst einfach dadurch zu beschwören, indem man ihm die traurigen Budgets des Generalrats vor Augen hielt, warum, so muß der gesunde Menschenverstand fragen, exorzierten der Papst |Pius IX.| und seine Bischöfe die Internationale, stellte die französische Krautjunkerversammlung sie außerhalb des Gesetzes, bedrohte Bismarck sie - bei der Zusammenkunft der Kaiser von Deutschland und Österreich |Wilhelm I und Joseph I.| in Salzburg - mit einem Kreuzzug der Heiligen Allianz und übergab der weiße Zar |Alexander II.| sie seiner schrecklichen "dritten Abteilung", die damals von dem Gemütsmenschen Schuwalow geleitet wurde?

|147| Herr George Howell räumt herablassend ein: "Armut ist kein Verbrechen, aber furchtbar lästig." Ich gebe zu, er spricht die Wahrheit. Aber um so stolzer sollte er an seine frühere Verbindung mit der Arbeiterassoziation gedacht haben, die Weltruf und einen Platz in der Geschichte der Menschheit gewann, nicht durch eine wohlgefüllte Kasse, sondern durch ihre geistige Kraft und ihre selbstlose Energie.

Von dem erhabenen Standpunkt eines insularen "Philisters" herab enthüllt Herr George Howell dagegen den "gebildeten Lesern" des "Nineteenth Century", daß die Internationale ein "Fehlschlag" war und dahingeschwunden ist. In Wirklichkeit bilden die sozialdemokratischen Arbeiterparteien in Deutschland, der Schweiz, in Dänemark, Portugal, Italien, Belgien, Holland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, mehr oder weniger in nationalem Umfang organisiert, ebenso viele internationale Gruppen; nicht mehr vereinzelte Sektionen, spärlich verstreut über die verschiedenen Länder und von einem vom Zentrum entfernten Generalrat zusammengehalten, vielmehr stehen die Arbeitermassen selbst im stetigen, aktiven, direkten Verkehr, zusammengeschmiedet durch den Austausch von Ideen, gegenseitige Hilfeleistungen und gemeinsame Ziele.

Nach dem Fall der Pariser Kommune war natürlich jegliche Organisation der Arbeiterklasse Frankreichs zeitweilig zerbrochen, sie beginnt sich aber jetzt wieder zu entwickeln. Andererseits beteiligen sich gegenwärtig die Slawen, namentlich in Polen, Böhmen und Rußland, trotz aller politischen und sozialen Hindernisse an der internationalen Bewegung in einem Umfang, der 1872 von dem größten Optimisten nicht vorauszusehen war. So ist die Internationale, anstatt abzusterben, bloß aus ihrer ersten Inkubationsperiode in eine höhere Phase getreten, in der bereits ihre ursprünglichen Bestrebungen zum Teil Wirklichkeit geworden sind. Im Laufe dieser fortschreitenden Entwicklung wird sie noch manche Veränderungen durchzumachen haben, bevor das letzte Kapitel ihrer Geschichte geschrieben werden kann.


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