MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1877

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 91-95.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Aus Italien

Geschrieben zwischen dem 6. und 14. März 1877.


["Vorwärts" Nr. 32 vom 16. März 1877]

|91| Endlich ist auch in Italien die sozialistische Bewegung auf einen festen Boden gestellt und verspricht eine rasche und siegreiche Entwicklung. Damit aber die Leser den vorgegangenen Umschwung vollständig verstehen, müssen wir auf die Entstehungsgeschichte des italienischen Sozialismus zurückgreifen.

Die Anfänge der Bewegung in Italien führen auf bakunistische Einflüsse zurück. Während bei den arbeitenden Massen ein leidenschaftlicher, aber höchst unklarer Klassenhaß gegen ihre Ausbeuter vorherrschte, bemächtigte sich eine Schar junger Advokaten, Doktoren, Literaten, Kommis usw., unter Bakunins persönlichem Kommando, der Leitung an allen Orten, wo ein revolutionäres Arbeiterelement hervortrat. Sie alle waren Mitglieder, in verschiedenen Graden der Weihe, der geheimen bakuniätischen "Allianz", die den Zweck hatte, die gesamte europäische Arbeiterbewegung ihrer Führung zu unterwerfen und der bakunistischen Sekte somit in der kommenden sozialen Revolution die Herrschaft zu erschwindeln. Das Nähere darüber findet sich ausführlich dargestellt in der Schrift: "Ein Complot gegen die Internationale" (Braunschweig, bei Bracke).

Solange die Bewegung unter den Arbeitern selbst noch im Entstehen war, ging dies vortrefflich. Die tollen bakunistischen Revolutionsphrasen erweckten überall den gewünschten Applaus; selbst die aus den früheren politisch-revolutionären Bewegungen herstammenden Elemente wurden vom Strom fortgeschwemmt, und neben Spanien wurde Italien, nach Bakunins eigenem Ausdruck, "das revolutionärste Land Europas". Revolutionär im Sinne des vielen Geschreies und der wenigen Wolle. Im Gegensatz zu dem wesentlich politischen Kampf, wodurch die englische, nach ihr |92| die französische und zuletzt die deutsche Arbeiterbewegung groß und mächtig geworden war, wurde hier jede politische Tätigkeit verdammt, weil sie die Anerkennung des "Staats" in sich schließe, und "der Staat" der Inbegriff alles Bösen sei. Also: Verbot der Bildung einer Arbeiterpartei; Verbot der Erkämpfung jeder Schutzmaßregel gegen die Ausbeutung, z.B. des Normalarbeitstags, der Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit; Verbote, vor allem der Beteiligung an allen Wahlen. Dagegen Gebot der Agitation, Organisation und Konspiration für die zukünftige Revolution, die dann, sobald sie vom Himmel herabgeschneit kam, durchgeführt werden sollte, ohne irgendwelche provisorische Regierung, unter vollständiger Vernichtung aller staatlichen und an den Staat erinnernden Einrichtungen, durch die bloße (im geheimen von der Allianz dirigierte) Initiative der arbeitenden Massen - "aber fragt mich nur nicht wie!"

Solange die Bewegung, wie gesagt, in ihrer Kindheit war, zog dies alles vortrefflich. Die große Mehrzahl der italienischen Städte steht noch immer so ziemlich außerhalb des Weltverkehrs, den sie nur in der Gestalt des Fremdenverkehrs kennt. Diese Städte versorgen die umliegenden Bauern mit Handwerkserzeugnissen und vermitteln den Verkauf der Ackerbauprodukte in größeren Kreisen; außerdem lebt der grundbesitzende Adel in ihnen und verzehrt dort seine Renten; endlich bringen die vielen Fremden ihr Geld dorthin. In diesen Städten sind die proletarischen Elemente wenig zahlreich und noch weniger entwickelt, dazu stark durchsetzt von Leuten ohne regelmäßige oder ständige Beschäftigung, wie sie der Fremdenverkehr und das milde Klima begünstigen. Hier fand die hochrevolutionäre Phrase, die im stillen auch wohl von Dolch und Gift munkelte, zunächst einen fruchtbaren Boden. Aber Italien hat auch Industriestädte, namentlich im Norden, und sobald die Bewegung unter den echt proletarischen Massen dieser Städte Fuß gefaßt, konnte eine so dunstige Nahrung nicht mehr genügen, und ebensowenig konnten diese Arbeiter sich auf die Dauer bevormunden lassen durch jene gescheiterten jungen Bourgeois, die sich auf den Sozialismus geworfen, weil sie, in Bakunins Worten, sich in einer "Karriere ohne Ausweg" befanden.

So geschah es. Die Unzufriedenheit der oberitalienischen Arbeiter mit dem Verbot jeder politischen, d.h. jeder über leeres Geschwätz und über Verschwörungsschwindel hinausgehenden wirklichen Tätigkeit wuchs von Tage zu Tage. Die deutschen Wahlsiege von 1874 und ihre die Vereinigung der deutschen Sozialisten erzielende Nachwirkung blieb auch in Italien nicht unbekannt. Die aus der alten republikanischen Bewegung hervorgegangenen Elemente, die sich nur mit Widerwillen dem "anarchischen" |93| Geschrei gefügt hatten, fanden mehr und mehr Gelegenheit, die Notwendigkeit des politischen Kampfes zu betonen und gaben der erwachenden Opposition Ausdruck in dem Journal "La Plebe". Dies Wochenblatt, in den ersten Jahren seines Bestehens republikanisch, hatte sich bald der sozialistischen Bewegung angeschlossen und sich von aller "anarchischen" Sektiererei solange wie möglich ferngehalten. Als endlich in Oberitalien die Arbeitermassen ihren zudringlichen Führern über den Kopf wuchsen und eine wirkliche Bewegung an die Stelle einer phantastischen setzten, bot sich ihnen in der "Plebe" ein williges Organ, das von Zeit zu Zeit ketzerische Andeutungen über die Notwendigkeit des politischen Kampfes verlauten ließ.

Wäre Bakunin am Leben geblieben, er hätte diese Ketzerei in seiner gewohnten Weise bekämpft. Er hätte den Leuten von der "Plebe" "Autoritarismus'', Herrschsucht, Ehrgeiz usw. angedichtet, allerhand kleinliche persönliche Klagen gegen sie erhoben und dies durch sämtliche Organe der "Allianz" in der Schweiz, in Italien, in Spanien aber- und abermals wiederholen lassen. Erst in zweiter Linie hätte er dann nachgewiesen, daß alle diese Verbrechen nichts anderes seien als unvermeidliche Folgen jener Urtodsünde, der Ketzerei der Anerkennung der politischen Aktion; denn politische Aktion, das sei Anerkennung des Staates, der Staat aber die Verkörperung des Autoritarismus, der Herrschaft, und folglich müsse jeder, der politische Aktion der Arbeiterklasse wolle, konsequenterweise die politische Herrschaft für sich selbst wollen, sei also ein Feind der Arbeiterklasse - steiniget ihn! In dieser dem seligen Maximilien Robespierre abgelernten Methode besaß Bakunin eine große Gewandtheit, nur daß er sie allzu regelmäßig und allzu einförmig anwandte. Und dennoch war diese Methode noch die einzige, die wenigstens augenblicklichen Erfolg versprach,

Aber Bakunin war gestorben, und damit war die geheime Weltregierung in die Hände des Herrn James Guillaume von Neuchâtel in der Schweiz übergegangen. An die Stelle des in vielen Wassern gewaschenen Weltmannes trat ein engherziger Pedant, der den Fanatismus des Schweizer Kalvinisten auf die Lehre von der Anarchie anwandte. Der wahre Glaube sollte um jeden Preis durchgesetzt und der beschränkte Schulmeister von Neuchâtel unbedingt als der Papst dieses wahren Glaubens anerkannt werden. Das "Bulletin der jurassischen Föderation" - die eingestandenermaßen kaum 200 Mitglieder zählt gegenüber den 5.000 des schweizerischen Arbeiterbundes - wurde zum Staatsanzeiger der Sekte ernannt und fing an, die im Glauben Wankenden einfach zu "rüffeln". Aber die lombardischen Arbeiter, die sich als "oberitalische Föderation" konstituiert hatten, waren nicht mehr gewillt, sich diese Vermahnungen gefallen zu lassen. Und als gar |94| vorigen Herbst das jurassische Bulletin sich unterstand, der "Plebe" befehlen zu wollen, einen dem Herrn Guillaume mißliebigen Pariser Korrespondent abzuschaffen, da war es mit der Freundschaft am Ende. Das Bulletin fuhr in seinen Verketzerungen der "Plebe" und der Oberitaliener fort. Aber diese wußten jetzt, woran sie waren; sie wußten, daß hinter der Predigt von der Anarchie und Selbstherrschaft der Anspruch einiger weniger Intriganten steckte, die ganze Arbeiterbewegung diktatorisch zu kommandieren.

"Vier kleine, sehr ruhige Zeilen Anmerkung haben dem Jura-Bulletin den Senf in die Nase steigen lassen, und es tut, als wären wir wütend über es, da es uns doch bloß erbaut hat. Wahrhaftig, man müßte sehr kindlich sein, um auf den Köder von Leuten anzubeißen, die, krank vor Mißgunst, an alle Türen klopfen, um mittelst der Verleumdung ein bißchen Bosheit gegen uns und die Unsern zu erbetteln. Die Hand, die seit langer Zeit umgeht, Unkraut und Streit säend, ist bekannt genug, als daß ihre jesuitischen (loyolasche) Umtriebe noch täuschen könnten." ("Plebe", 21. Januar 1877.)

Und in der Nummer vom 26. Februar werden eben diese Leute bezeichnet als "einige beschränkte anarchische und - ungeheuerlicher Widerspruch - zugleich diktatorische Köpfe"; der beste Beweis, daß diese Herren in Malland vollkommen durchschaut sind und dort kein ferneres Unheil mehr anrichten werden.

Die deutschen Wahlen vom 10. Januar und der damit zusammenhängende Umschwung in der belgischen Bewegung - die Beseitigung der bisherigen politischen Enthaltungspolitik und deren Ersetzung durch die Agitation für allgemeines Stimmrecht und ein Fabrikgesetz - taten den Rest. Am 17. und 18. Februar hielt die oberitalische Föderation in Mailand ihren Kongreß ab. Die Beschlüsse enthalten sich jeder unnötigen und unangebrachten Feindseligkeiten gegen die bakunistischen Gruppen der italienischen Internationalen. Sie erklären auch die Bereitwilligkeit, den nach Brüssel berufenen Kongreß zu beschicken, der ew. Vereinigung der verschiedenen Fraktionen der europäischen Arbeiterbewegung versuchen soll. Aber sie sprechen gleichzeitig mit der größten Bestimmtheit drei Punkte aus, die für die italienische Bewegung von der entschiedensten Wichtigkeit sind:

1. daß zur Förderung der Bewegung alle sich darbietenden Mittel angewandt werden müssen - also auch die politischen;

2. daß die sozialistischen Arbeiter sich als eine sozialistische Partei zu konstituieren haben, unabhängig von jeder anderen politischen oder religiösen Partei, und

3. daß der oberitalische Bund, unter Vorbehalt seiner eigenen Auto- |95| nomie und auf Grundlage der ursprünglichen Statuten der Internationale, sich als Glied dieser großen Verbindung betrachtet, und zwar unabhängig von allen anderen italienischen Verbindungen, denen er indes wie bisher auch fernerhin Beweise seiner Solidarität geben wird.

Also: politischer Kampf, Organisation als politische Partei und Trennung von den Anarchisten. Mit diesen Beschlüssen hat sich der oberitalische Bund endgültig von der bakunistischen Sekte losgesagt und sich auf den gemeinsamen Boden der großen europäischen Arbeiterbewegung gestellt. Und da er den industriellsten Teil Italiens umfaßt - Lombardei, Piemont, Venetien - so können ihm die Erfolge nicht ausbleiben. Gegenüber der Anwendung derselben rationellen Agitationsmittel, die durch die Erfahrung aller andern Länder bewährt sind, wird die Klüngelei der bakunistischen Wunderdoktoren rasch genug ihre Ohnmacht offenbaren, das italienische Proletariat aber auch im Süden des Landes bald das Joch von Leuten abschütteln, die ihren Beruf zur Führung der Arbeiterbewegung herleiten aus ihrer Stellung als verkommene Bourgeois.


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