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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 18, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 509-511.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.03.1999

Friedrich Engels

Der schweigende Stabsschreier Moltke und sein jüngster Leipziger Korrespondent


["Der Volksstaat" Nr. 35 vom 25. März 1874]

|509| London, 13. März [1874]

Der Mordspatriotismus irgendeines Leipziger Mastbürgers scheint unangenehm angekitzelt worden zu sein durch die Tatsache, daß die Franzosen vor Metz kein Geschütz verloren, den Deutschen dagegen solche abgenommen haben wollen. In seinem Kanonenfieber bittet er den bekannten Halbgott Moltke um Aufklärung, der ihm im "Leipziger Tageblatt" eines seiner schnurrigen Orakelchen aufhängt, wonach zwar einige französische Generale im Bazaineschen Prozeß Ungenaues über die gegenseitige Kanonenwegnahme zutage gefördert hätten, jedoch zugegeben werden muß, daß, während die Deutschen am 16. August den Franzosen nur eine Kanone abnehmen konnten, diese am 18. zwei deutsche Geschütze fortschleppten. Hiermit war genug gesagt. Aber der Schweiger Moltke muß noch eine Vorlesung halten, sonst geht's nicht. Also erzählt er den Andachtslümmeln, daß gemäß der "heutigen Taktik" die Artillerie in den vordersten Reihen kämpfen muß; daher hätten die Deutschen die zwei Kanonen verloren. Man kann aus seinen Worten lesen, daß, hätten die Franzosen dieser seiner "heutigen Taktik" Genüge geleistet, so hätten sie wahrscheinlich viel mehr Kanonen verloren und seinen Lobspruch geerntet, denn er sagt, daß die Östreicher, deren Artillerie der Infanterie in der avanciertesten Gefechtslinie beisprang, 160 Kanonen auf "die ehrenvollste Weise" loswurden. Die östreichische Artillerie, wie er selbst orakelt, manövrierte auf solche Art, weil das östreichische Infanteriegewehr dem preußischen nachstand. Da nun aber der französische Chassepot dem preußischen Zündnadelgewehr überlegen war, so gab es wohl für die deutsche Artillerie einen Grund, aus der Not ein Gebot zu machen, grade wie die östreichische bei Königgrätz getan hatte, aber für die französische konnte es nicht |510| angewiesen erscheinen, sich zwecklos von der in Rohrkonstruktion und Beweglichkeit überlegenen gegnerischen Artillerie zusammenschießen zu lassen. Für Moltke muß es allerdings sehr unbequem sein, daß in den drei Tagen des 14., 16., 18. Aug. 1870 40.000 Deutsche getötet und verwundet wurden, trotzdem man die französische Artillerie in für ihn so dunkler Weise führte, daß er noch heute sagt,

"ob unter diesen Umständen die Tatsache, kein oder nur ein Geschütz verloren zu haben, ein besonderer Beweis für die Tüchtigkeit der französischen Artillerie oder für deren Ausdauer im Kampfe ist, mag dahingestellt bleiben".

Nun glaube man aber ja nicht, wozu man durch den Moltkeschen Schweigebrief veranlaßt sein könnte, daß die französische Artillerie sich etwa nicht gehörig, und sogar oft gegen die deutsche Artillerie in jenen Tagen geschlagen habe. Es "entspricht nicht ganz dem Tatsächlichen", um höflichst in Moltkeschen Worten zu sprechen, wenn man behauptet, wie er ganz dreist tut, daß die französische Artillerie "meistenteils ein bald beseitigter Gegner war". Wer Genaueres hierüber wissen will, der lese "Die deutsche Artillerie in den Schlachten bei Metz. Von Hoffbauer, Hauptmann und Batteriechef im Ostpreußischen Feldartillerieregiment Nr. 1. Lehrer an der vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule", Berlin 1872, Mittler und Sohn. Also ein offiziöses Buch! Moltke weiß, daß, wer so dumme Fragen stellt, wie unser Leipziger, solche Bücher nicht liest oder nicht versteht, und glaubt, daß alle, welche sie mit Verständnis lesen, "das Maul halten müssen".

Das Diktum Moltkes über die "neue" Verwendung der Artillerie ist nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben. Nicht nur der Artilleristen- und Pferde-, sondern auch der Munitionsverbrauch ist dabei ein so enormer, daß in kürzester Zeit weder die Menschen, noch die Pferde, noch die Geschosse zu ersetzen sind. Auch schießt infolge der Moltkeschen "neuen Taktik" die deutsche Artillerie, aus Eifer für die Wissenschaft, viel öfter als wünschenswert, ihre eigenen Landsleute tot. Dies ist am 14., 16., 18. August 1870 geschehen. Ja, die "neue Taktik" hat eine so wissenschaftlich verknotete Artillerieschießwut erzeugt, daß Gegenbefehle, Bitten um Einstellen des Feuers gegen deutsche Truppen als verräterischer Blödsinn erscheinen mußten. (Siehe Hoffbauer.)

Übrigens war das Verfahren der deutschen Artillerie in jenen Tagen, wie selbst Hauptmann Hoffbauer, Ritter des Eisernen Kreuzes erster Klasse und unbedingter Anbeter seiner Vorgesetzten, sagt, ein "improvisiertes". Moltke nennt es schnell eine Erfüllung der

|511| "Anforderungen der heutigen Taktik", welche "verlangt, daß die Artillerie es nicht scheuen darf" (Moltkesches Deutsch), "sich in die vordersten Linien der kämpfenden Truppen einzureihen oder behufs Abwehr eines feindlichen Angriffs bis zum letzten Momente auszuharren und die andern Waffengattungen zu beschützen".

Diese Anforderungen sind aber schon lange vor Moltke an die Artillerie gestellt worden. Fest steht gar nichts über der Artillerie "heutige Taktik". Vor 1815 ist nichts von Belang darüber geschrieben worden, und seit 1815 hat die preußische Artillerie viel gefaulenzt und ihre Offiziere sich untereinander hin und her gezankt. Seit 1866 glaubten die Preußen, sie hätten die Kanonenweisheit gepachtet, weil sie nämlich zufällig eine bessere Kanone als einige Nachbarn besaßen. Sie haben im französischen Kriege mit ihrer Artillerie nur nach einer Taktik herumgetastet, die sich, wie dem simpelsten Menschen einleuchten wird, mit jeder fühlbaren Verbesserung des Geschützes ändern muß.

Es ist nur Humanität, wenn man es unternimmt, die ebenso einfältigen als greisenhaft-anspruchsvollen Orakelsprüche des Moltke und seiner Trabanten, wie sie sich in Büchern, Zeitungen, Reden und Briefen ans Licht wagen, ins Lächerliche zu ziehen und zuschanden zu machen.


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