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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 18, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 494-499.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.03.1999

Friedrich Engels

Die englischen Wahlen


["Der Volksstaat" Nr. 26 vom 4. März 1874]

|494| London, 22. Februar 1874

Die englischen Parlamentswahlen sind nun auch vorüber. Der geniale Gladstone, der mit einer Majorität von 66 nicht regieren konnte, löste das Parlament plötzlich auf, ließ die Wahlen innerhalb 8 bis 14 Tagen vornehmen, und das Resultat war - eine Majorität von über 50 gegen ihn. Das zweite unter der Reformbill von 1867, das erste mit geheimer Abstimmung gewählte Parlament ergibt eine starke konservative Majorität. Und zwar sind es vorzugsweise die großen Industriestädte und Fabrikbezirke, wo die Arbeiter jetzt unbedingt die Majorität haben, die Konservative ins Parlament schicken. Wie geht dies zu?

Zunächst ist dies Resultat verdankt dem von Gladstone versuchten Wahlstaatsstreich. Die Wahlausschreiben folgten so rasch auf die Auflösung, daß manche Städte kaum fünf, die meisten kaum acht, die irischen, schottischen und die Landwahlkreise höchstens vierzehn Tage zur Besinnung behielten. Gladstone wollte die Wähler übertölpeln, aber Staatsstreiche ziehen nun einmal in England nicht, und Übertölpelungen schlagen hier aus gegen den, der sie versucht. Die Folge war, daß die ganze zahlreiche Masse der Indifferenten und Schwankenden gegen Gladstone stimmte.

Dann aber hatte Gladstone in einer Weise regiert, die den angestammten Gewohnheiten John Bulls direkt ins Gesicht schlug. John Bull ist nun einmal beschränkt genug, in seiner Regierung nicht seinen Herrn und Meister zu sehen, sondern seinen Diener, und noch dazu den einzigen Diener, den er ohne alle Kündigung sofort entlassen kann. Wenn nun auch die jedesmal herrschende Partei ihrem Ministerium erlaubt, und das aus sehr prakti- |495| sehen Gründen, bei Steuerermäßigungen und sonstigen Finanzmaßregeln manchmal eine große theatralische Überraschung aufzuführen, so gestattet sie dergleichen bei richtigen Maßregeln der Gesetzgebung doch nur ausnahmsweise. Aber Gladstone hatte diese gesetzgeberischen Theatercoups zur Regel gemacht. Seine meisten großen Maßregeln kamen seiner eignen Partei ebenso überraschend wie den Gegnern; die Liberalen erhielten diese Maßregeln förmlich aufoktroyiert, denn wenn sie nicht dafür stimmten, brachten sie sofort die Gegenpartei ans Ruder. Und wenn der Inhalt vieler dieser Maßregeln, z.B. die irische Kirchenbill und die irische Landbill, bei aller Jämmerlichkeit für viele alte, liberalkonservative Whigs schon ein Greuel war, so für die ganze Partei die Art, wie sie ihr aufgezwungen wurden. Damit aber hatte Gladstone noch nicht genug. Die Abschaffung des Stellenkaufs in der Armee setzte er durch, indem er ohne alle Not, statt ans Parlament, an die Macht der Krone appellierte und dadurch seine eigne Partei beleidigte. Dazu hatte er sich mit einer Anzahl vordringlicher Mittelmäßigkeiten umgeben, die alle kein anderes Talent besaßen als das, sich ohne Not verhaßt zu machen. So namentlich Bruce, der Minister des Innern, und Ayrton, der eigentliche Chef der Londoner Lokalverwaltung. Der erste zeichnete sich aus durch Grobheit und Arroganz gegenüber Arbeiterdeputationen, der zweite regierte London - wie z.B. bei dem Versuch der Unterdrückung des Rechts der Volksversammlung in den Parks - in vollständig preußischer Weise, und da dies hier nun einmal nicht durchgeht, wie denn auch die Irländer sofort trotz der Parkverordnung unter der Nase des Herrn Ayrton eine große Massenversammlung im Hyde Park abhielten, so war die Folge davon eine Reihe kleiner Niederlagen der Regierung und ihre wachsende Unpopularität.

Endlich aber hat die geheime Abstimmung eine ganze Menge von - sonst politisch gleichgültigen - Arbeitern in den Stand gesetzt, ungestraft gegen ihre Ausbeuter und gegen die Partei zu stimmen, in der sie mit Recht die der großen Industriebarone sehn - die Liberale Partei. Dies bleibt richtig selbst da, wo die großen Industriebarone der Mehrzahl nach der Mode gefolgt und zu den Konservativen übergegangen sind. Die Liberale Partei vertritt in England überhaupt nichts, wenn sie nicht die große Industrie gegenüber dem großen Grundbesitz und der hohen Finanz vertritt.

Das vorige Parlament schon stand seiner Gesamtintelligenz nach unter der Mittelmäßigkeit. Es bestand wesentlich aus Landjunkern und Söhnen von Großgrundbesitzern einerseits, Bankiers, Eisenbahndirektoren, Bier- |496| brauern, Fabrikanten und sonstigen reichen Emporkömmlingen andrerseits; dazwischen einige Staatsmänner, Juristen, Professoren. Von diesen letzteren "Vertretern der Intelligenz" sind eine ziemliche Anzahl diesmal durchgefallen, so daß das neue Parlament noch ausschließlicher als das vorige eine Vertretung des Großgrundbesitzes und des Geldsacks ist. Dagegen zeichnet es sich vom vorigen durch zwei neue Elemente aus: durch zwei Arbeiter und ungefähr fünfzig irische Home-Rulers.

Was die Arbeiter angeht, so ist zuerst festzustellen, daß es, seit dem Untergang der Chartistenpartei in den fünfziger Jahren, in England keine besondere politische Arbeiterpartei mehr gibt. Es ist dies erklärlich in einem Lande, wo die Arbeiterklasse mehr als anderswo an den Vorteilen der ungeheuren Ausdehnung der großen Industrie teilgenommen hat, wie dies in dem den Weltmarkt beherrschenden England nicht anders sein konnte; und obendrein in einem Lande, wo die herrschenden Klassen es sich zur Aufgabe machen, neben andern Konzessionen einen Punkt des Chartistenprogramms, der Volks-Charte, nach dem ändern durchzuführen. Von den sechs Punkten der Charte bestehen zwei zu Recht: die geheime Abstimmung und die Abschaffung des Wählbarkeitszensus; der dritte, das allgemeine Stimmrecht, ist wenigstens annähernd eingeführt; ganz unausgeführt sind die drei letzten: jährliche Neuwahlen, Diäten und der wichtigste: gleiche Wahlbezirke nach der Bevölkerung. - Die Arbeiter, soweit sie sich an der allgemeinen Politik in besonderen Organisationen beteiligt, sind neuerdings fast nur als äußerster linker Flügel der "großen liberalen Partei" aufgetreten und in dieser Rolle, ganz fachgemäß, von der großen liberalen Partei bei jeder Wahl geprellt worden. Da kam plötzlich die Reformbill und änderte mit einem Schlage die politische Stellung der Arbeiter. In allen großen Städten bilden sie jetzt die Mehrzahl der Wähler, und Regierung wie Parlamentskandidaten sind in England gewohnt, den Wählern den Hof zu machen. Von da an wurden die Vorsitzenden und Sekretäre der Trade-Unions und politischen Arbeitervereine, sowie sonstige bekannte Arbeiterredner, denen man Einfluß auf ihre Klasse zutrauen durfte, auf einmal wichtige Leute; sie erhielten Besuche von Parlamentsmitgliedern, von Lords und anderm vornehmen Gesindel, man erkundigte sich plötzlich teilnehmend nach den Wünschen und Bedürfnissen der Arbeiterklasse, man diskutierte mit diesen "Arbeiterführern" Fragen, über die man bisher vornehm gelächelt oder deren bloße Anregung man schon verdammt hatte, man zahlte auch Beiträge zu Sammlungen für Arbeiterzwecke. Den |497| "Arbeiterführern" kam dabei ganz natürlich der Gedanke, sich selbst ins Parlament wählen zu lassen; ihre vornehmen Freunde gingen im allgemeinen mit Freuden darauf ein, natürlich nur, um in jedem einzelnen Falle die Wahl eines Arbeiters nach Möglichkeit zu vereiteln. Und so kam die Sache nicht weiter.

Daß die "Arbeiterführer" gern ins Parlament gekommen wären, nimmt ihnen niemand übel. Der nächste Weg dazu wäre gewesen, sofort zur Neubildung einer starken Arbeiterpartei mit bestimmtem Programm zu schreiten - die Volks-Charte bot ihnen das beste politische Programm, das sie wünschen konnten. Aber der Name der Chartisten - eben weil diese eine ausgesprochen proletarische Partei gewesen - stand bei den Bourgeois in üblem Geruch, und statt an die glorreiche Tradition der Chartisten anzuknüpfen, zogen die "Arbeiterführer" es vor, mit ihren vornehmen Freunden zu verhandeln und "respektabel", das heißt in England bürgerlich aufzutreten. Hatte das alte Stimmrecht die Arbeiter bis zu gewissem Grad gezwungen, als Schwanz der radikalen Bourgeoisie zu figurieren, so war es unverantwortlich, sie diese Rolle fortspielen zu lassen, seitdem die Reformbill mindestens sechzig Arbeiterkandidaten die Türen des Parlaments öffnete.

Und dies war der Wendepunkt. Die "Arbeiterführer", um ins Parlament zu kommen, wandten sich in erster Linie an die Stimmen und das Geld der Bourgeoisie, und erst in zweiter an die Stimmen der Arbeiter selbst. Damit aber hörten sie auf, Arbeiterkandidaten zu sein, und verwandelten sich in Bourgeoiskandidaten. Sie appellierten nicht an eine neu zu bildende Arbeiterpartei, sondern an die bürgerliche "große liberale Partei". Unter sich bildeten sie eine gegenseitige Wahlassekuranzgesellschaft, die Labour Representation League, die ihre, sehr geringen, Geldmittel meist aus bürgerlichen Quellen bezog. Damit nicht genug. Die radikalen Bourgeois sind verständig genug einzusehen, daß die Wahl von Arbeitern ins Parlament immer unvermeidlicher wird; es liegt also in ihrem Interesse, die voraussichtlichen Arbeiterkandidaten unter ihrer Leitung zu behalten und eben dadurch den Zeitpunkt ihrer wirklichen Wahl möglichst weit hinauszuschieben. Und dafür haben sie ihren Herrn Samuel Morley, einen Londoner Millionär, dem es nicht darauf ankommt, es sich ein paar Tausend Pfund kosten zu lassen, um einerseits den kommandierenden General dieses falschen Arbeitergeneralstabs zu spielen und andrerseits durch ihren Mund sich bei den Massen als Arbeiterfreund ausposaunen zu lassen, zum Dank dafür, daß er die Arbeiter prellt. Als nun vor ungefähr einem Jahr eine Auflösung des Parlaments immer wahrscheinlicher wurde, versammelte |498| Morley seine Getreuen um sich in der London Tavern; sie erschienen alle, die Potter, Howell, Odger, Hales, Mottershead, Cremer, Eccarius und wie sie alle heißen; eine Gesellschaft von Leuten, deren jeder bei der vorhergehenden Parlamentswahl im Sold der Bourgeoisie der "großen liberalen Partei" Agitatordienste geleistet oder sich ihr doch wenigstens dazu angeboten. Diese Gesellschaft setzte unter Morleys Vorsitz ein "Arbeiterprogramm" auf, das jeder Bourgeois unterschreiben konnte und das die Grundlage einer gewaltigen Bewegung bilden sollte, um die Arbeiter politisch noch enger an die Bourgeoisie zu ketten und - wie die Herren sich einbildeten - die "Gründer" ins Parlament zu bringen. Daneben tanzten vor der lüsternen Einbildung dieser Gründer noch die zahlreichen Morleyschen Fünfpfundnoten, die bei der Agitation notwendig für sie abfallen würden. Aber die ganze Bewegung fiel ins Wasser, noch ehe sie ernstlich begonnen. Herr Morley schloß den Geldschrank zu, und die Gründer verschollen wieder.

Plötzlich löst vor vier Wochen Gladstone das Parlament auf. Die unvermeidlichen Arbeiterführer atmen auf: entweder lassen sie sich wählen oder sie werden wieder wohlbezahlte Reiseprediger der "großen liberalen Partei". Aber nein: der Wahltermin ist so nah, daß sie um beide Chancen geprellt sind. Zwar treten einige als Kandidaten auf; aber da in England jeder Kandidat, ehe er zur Abstimmung kommen kann, zweihundert Pfund (1.240 Tlr.) als Beitrag zu den Wahlkosten deponieren muß und die Arbeiter fast nirgends zu diesem Zweck organisiert waren, so konnten nur solche von ihnen ernstlich kandidieren, die diesen Betrag von seiten der Bourgeoisie gestellt erhielten, also mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung der Bourgeoisie auftraten. Damit aber hatte die Bourgeoisie auch ihre Schuldigkeit getan und ließ sie dann bei der Wahl selbst sämtlich mit Glanz durchfallen.

Nur zwei Arbeiter gingen durch, beides Bergarbeiter in Kohlenzechen. Dies Gewerk ist in drei großen Trade-Unions sehr stark organisiert, verfügt über bedeutende Mittel, besitzt in einigen Bezirken die unbestrittene Majorität unter den Wählern und hat seit der Reformakte planmäßig auf direkte Vertretung im Parlament hingearbeitet. Die Sekretäre der drei Trade-Unions wurden aufgestellt; der eine, Halliday, hatte in Wales keinen Erfolg, die beiden andern gingen durch: Macdonald in Stafford und Burt in Morpeth. Burt ist außer seinem Bezirk wenig bekannt; Macdonald aber hat bei den Verhandlungen über das letzte Bergwerksgesetz, die er als Vertreter seines Gewerks überwachte, seine Auftraggeber verraten, indem er einen Zusatzartikel billigte, der so sehr im Interesse der Kapitalisten war, daß selbst die Regierung nicht gewagt hatte, ihn in den Entwurf zu setzen.

|499| Jedenfalls aber ist das Eis gebrochen, und in dem fashionabelsten Debattierklub von Europa, unter den Leuten, die sich für die ersten Gentlemen von Europa erklären, sitzen zwei Arbeiter.

Neben ihnen sitzen mindestens fünfzig irische Home-Rulers. Als der fenische Aufstand von 1867 {1} niedergeschlagen und die militärischen Führer der Fenier (irischen Republikaner) nach und nach entweder eingefangen oder nach Amerika vertrieben wurden, verloren die Reste der fenischen Verschwörung bald alle Bedeutung. Eine gewaltsame Erhebung war auf lange Jahre - wenigstens bis dahin, wo England wieder in ernstliche auswärtige Schwierigkeiten verwickelt wurde - ohne alle Aussichten. Blieb also nur eine gesetzmäßige Bewegung, und diese wurde unternommen unter der Fahne der Home-Ruler, der "Herrschaft im eignen Hause". Die bestimmte Forderung war, daß das Reichsparlament in London die Gesetzgebung über alle rein irischen Fragen an ein besonderes irisches Parlament in Dublin abtreten solle; was unter rein irischen Fragen zu verstehen sei, darüber schwieg man vorderhand weislich. Diese Bewegung, anfangs von der englischen Presse verspottet, hat solche Macht erlangt, daß irische Parlamentsmitglieder der verschiedensten Parteifärbung, Konservative wie Liberale, Protestanten wie Katholiken - der Führer der Bewegung, Butt, ist selbst ein Protestant -, sogar ein geborener Engländer, der für Galway sitzt, sich ihr haben anschließen müssen. Seit den Zeiten O'Connells, dessen Repeal-Bewegung ungefähr gleichzeitig mit der chartistischen infolge der Ereignisse von 1848 in der allgemeinen Reaktion unterging - er selbst war schon 1847 gestorben -, tritt hiermit zum ersten Mal wieder eine geschlossene irische Partei ins Parlament, und zwar unter Umständen, die ihr den O'Connellschen fortwährenden Kompromiß mit den Liberalen und den Einzelverkauf ihrer Mitglieder an eine liberale Regierung, wie er seitdem Mode geworden, schwerlich erlauben.

Die beiden bewegenden Kräfte in der englischen politischen Entwicklung sind also hiermit ins Parlament getreten: einerseits die Arbeiter, andrerseits die Irländer als kompakte nationale Partei. Und wenn sie auch in diesem Parlament schwerlich eine große Rolle spielen werden - die Arbeiter sicher nicht -, so ist doch mit den Wahlen von 1874 die englische politische Entwicklung unbedingt in eine neue Phase eingetreten.


Textvarianten

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