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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 18, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 290-295.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.03.1999

Friedrich Engels

Die "Krisis" in Preußen

Geschrieben Anfang Januar 1873.


["Der Volksstaat" Nr. vom 15. Januar 1873)

|290| In der Tat, die "große Nation" Frankreich ist durch die "große Nation" Deutschland mit Recht verdrängt worden. In Versailles entsteht eine politische Krisis, weil die französischen Krautjunker sich verschwören, die Monarchie an die Stelle der bestehenden Republik zu setzen; in Berlin bricht gleichzeitig eine Krisis aus, weil die preußischen Krautjunker die ihnen, achtzig Jahre nach der Französischen Revolution, noch immer zustehende altfeudale gutsherrliche Polizei nicht opfern wollen. Kann man noch einen Augenblick zweifeln an der Überlegenheit der deutschen "Kultur" über die französische Zivilisation? Die Franzosen zanken sich, mit gewohnter Oberflächlichkeit, über bloße Formen wie Republik und Monarchie. Die gründlichen Preußen gehn der Sache auf den Grund, indem sie endlich, endlich, 1872, die letzten in Europa außer Mecklenburg und Rußland, die Grundlage der Gesellschaft, das Sitzfleisch der Bauern, vor gutsherrlichen Stockprügeln in Sicherheit bringen - oder auch nicht!

Nichts ist bezeichnender für die erbärmliche Haltung der preußischen Bourgeoisie als diese ganze Kreisordnungsposse. 1848 hatte Preußen seine Revolution; die Bourgeoisie hatte die Macht in der Hand; die Vereidigung des Heeres auf die Verfassung - gleichviel welche - hätte hingereicht, sie ihr zu erhalten. Der Schrecken bei den Feudalen und Bürokraten war so groß, daß damals die Abschaffung der noch bestehenden Reste des Feudalismus selbstredend schien. In der Tat enthielten die ersten Verfassungsentwürfe von 1848 und selbst 1849, wenn auch in gewohnter miserabler Form, doch alles Wesentliche in dieser Richtung. Der allergeringste Widerstand der Bourgeoisie hätte hingereicht, die Wiederkehr der Feudal- |291| rechte unmöglich zu machen; außer den paar Krautjunkern lag ja niemand etwas daran als dem Romantiker Friedrich Wilhelm IV. Aber kaum hatte die europäische Reaktion gesiegt, da kroch die preußische Bourgeoisie zu den Füßen Manteuffels und erwiderte jeden seiner Peitschenhiebe mit dankerfülltem Schweifwedeln. Nicht nur, daß sie den ostelbischen Junkern Gutspolizei und allerhand andern feudalen Plunder zurückgab; sie züchtigte sich selbst für ihren sündhaften Liberalismus, indem sie sogar die 1808 hergestellte Gewerbefreiheit eigenhändig vernichtete und mitten im neunzehnten Jahrhundert die Zünfte wiederherstellte.

Die Bourgeoisie ist, im besten Falle, eine unheroische Klasse. Selbst ihre glänzendsten Errungenschaften, die englischen des 17. und die französischen des 18. Jahrhunderts, hat nicht sie sich erkämpft, sondern die plebejische Volksmasse für sie, die Arbeiter und Bauern. Auch in Frankreich hat die Bourgeoisie aus den Schrecken der Junitage 1848 sich gerettet, indem sie sich einem Komödianten zu Füßen warf; auch in England trat nach 1848 eine lange Periode der Reaktion ein; aber in beiden Ländern stützte sich diese Reaktion auf den Vorwand, die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft vor den Angriffen des Proletariats zu schützen. In Preußen war das Resultat der Revolution, dem Romantiker Friedrich Wilhelm IV. endlich die Erfüllung seiner mittelalterlichen Herzenswünsche zu erlauben, indem die siegreiche Reaktion eine Menge antiromantischer Institutionen wegschwemmte, die von Friedrich II. an bis Stein und Hardenberg sich in den preußischen Staat eingeschmuggelt hatten. Unter dem Verwände, die bürgerliche Gesellschaft vor dem Proletariat zu schützen, wurde sie wieder unter die Herrschaft des Feudalismus gestellt. Keine Bourgeoisie der Welt kann sich einer solchen Schmachperiode rühmen wie die von der preußischen unter Manteuffel durchgemachte. In welchem ändern Lande wäre es möglich gewesen, einen Hinckeldey als Vorkämpfer und Märtyrer der Freiheit zu feiern?

Endlich kommt, infolge sich durchkreuzender Palastintrigen, die Neue Ära. Ein altliberales Ministerium fällt der Bourgeoisie unverhofft in den Schoß. Und sie, die keinen Finger gerührt hatte, um es ins Leben zu rufen, sie, die feigste aller Bourgeoisien, bildet sich plötzlich ein, sie sei am Staatsruder, der alte preußische Militär- und Polizeistaat sei verschwunden, sie könne Minister ein- und absetzen und dem Hof ihren Willen auftrotzen. Hatte die Manteuffelsche Periode ihre Feigheit bewiesen, so deckte die Neue Ära ihre politische Unfähigkeit auf.

Der Preis, um den das altliberale Ministerium zugelassen wurde, war die Durchführung der Armee-Reorganisation. Der italienische Krieg gab |292| den erwünschten Anlaß, sie vom Landtage zu verlangen. Einerseits hatte die Mobilmachung von 1859 bewiesen, daß die alte Armee-Organisation sich total überlebt hatte. Andererseits bewies die Gleichgültigkeit, mit der in Frankreich die Annexation von Savoyen und Nizza hingenommen worden, daß der französische Chauvinismus nur durch Aussicht auf Eroberungen am Rhein wirksam in Bewegung zu setzen sei, d.h. durch einen Krieg gegen Preußen. Es stand also fest, sobald Louis Bonapartes Kaisertum wieder, durch innere Ereignisse in Frankreich, in Gefahr kam, diese Gefahr nur abzuleiten sei durch einen Krieg gegen Preußen, der, ohne Allianzen, nur die Niederlage der alten preußischen Armee zur Folge haben konnte. Andererseits hatte Preußen, obwohl selbst wesentlich Militärstaat, die Notwendigkeit der modernen großen Armeen nicht geschaffen. Dazu war es zu schwach. Aber es konnte sich der allgemeinen kontinentalen Notwendigkeit um so weniger entziehen, als seine zweideutige "Politik der freien Hand" ihm alle verläßlichen Allianzen abgeschnitten hatte. Und endlich, mochte die Armee-Reorganisation sein wie sie wollte, die preußische Bourgeoisie mußte wissen, daß sie sie nicht verhindern konnte. Ihr einzig richtiger Operationsplan konnte also nur darin bestehen, gegen Bewilligung der unvermeidlichen Reorganisation sich soviel politische Konzessionen wie nur möglich zu erschachern. Aber der preußischen Bourgeoisie, noch braun und blau wie sie war von den Fußtritten des Manteuffelschen Regiments, war über Nacht der Kamm geschwollen. Sie kam sich plötzlich vor als die entscheidende Macht im Staat; sie verwarf die Armee-Reorganisation. Damit war der Traum wieder zu Ende. Bismarck kam, sie zu belehren, daß ihre papierne Verfassung und ihre Kammerabstimmungen einfach leeres Stroh seien, daß in Preußen der König regiere und daß die Kammern nur zur Jasagen da seien. Die Armee-Reorganisation wurde trotz der Verfassung durchgeführt und die Abgeordneten wieder à la Manteuffel behandelt. Nach einem kurzen Scheinwiderstand, den sie selbst eher müde wurde als ihr Gegner Bismarck, fand die Bourgeoisie im dänischen Krieg den ersten Vorwand zu schamhaften Versöhnungsversuchen; und nach Sadowa genierte sie sich durchaus nicht mehr und sank begeistert zu Füßen Bismarcks nieder und figurierte jetzt nur noch in seinem Gefolge; nach dem französischen Krieg kannte ihre Begeisterung keine Grenzen mehr, von da an gehörte sie Bismarck mit Leib und Seele, sie war in ihm förmlich ausgelöscht.

Aber es gibt ein Ding in der Welt, das Hegel entdeckt und "die Ironie der Geschichte" genannt hat. Diese Ironie der Geschichte hat mit größeren Leuten als Bismarck ihr Spiel getrieben, und auch der preußische Staat und |293| Bismarck sind ihr verfallen. Von dem Augenblick an, wo die langersehnten Ziele der preußischen Politik eins nach dem ändern erreicht wurden, von dem Augenblick an begannen die Grundlagen des preußischen Staates zu wackeln. Das alte Preußen beruht wesentlich auf dem Junkertum, aus dem Offiziere und Bürokratie sich hauptsächlich ergänzen. Das Junkertum existiert in voller Blüte nur in den sechs östlichen Provinzen und bedarf, bei dem meist beschränkten Grundbesitz der Junker, eines gewissen Maßes feudaler Vorrechte zu seiner Existenz; ohne diese würden die meisten Junker bald zu einfachen Gutsbesitzern herabsinken. Solange ihm nur zwei westliche Provinzen gegenüberstanden, lief das Junkertum keine Gefahr. Aber schon die Annexationen von 1866 verstärkten das bürgerliche und bäuerliche Element im Staate in gewaltigem Maß. Es war nicht bloß legitimistische Flause, es war weit mehr das richtige Bewußtsein der eigenen gefährdeten Stellung, das den Widerstand der Partei Stahl-Gerlach gegen diese Annexionen hervorrief. Die Einfügung der Kleinstaaten in den Norddeutschen Bund, die Übertragung der entscheidenden Staatsfunktionen an diesen Bund, die damit verbundene Mediatisierung des preußischen Herrenhauses, der endliche Anschluß der Südstaaten - alles das waren ebensoviel harte Schläge für das Junkertum, das im Reich nur noch eine verschwindende Minorität bildete. Damit nicht genug. Jede Regierung, auch die despotischste, ist gezwungen, mit Rücksicht auf die bestehenden Verhältnisse zu regieren, sonst bricht sie sich selbst den Hals. Preußen konnte Kleindeutschland sich unterwerfen, aber es konnte nicht sein Junkertum fünfundzwanzig Millionen westelbischen Deutschen aufzwingen. Im Gegenteil: Das Junkertum, für das alte Preußen ein Bedürfnis, wurde für das "Reich" ein Hemmschuh. Wie Bismarck genötigt gewesen war, die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit zwischen den Einzelstaaten und andere bürgerliche Reformen - freilich in bürokratisch verstümmelter Form - gegen seine frühern Ansichten durchzuführen, so verurteilte ihn die Ironie der Geschichte endlich dazu, ihn, den Junker par excellence, die Axt ans Junkertum zu legen durch die Kreisordnung.

Diese Kreisordnung ist eins der jammervollsten Gesetze, die je gemacht worden. Ihr Inhalt läßt sich in zwei Worten zusammenfassen. Sie nimmt dem einzelnen Junker die ihm kraft feudalen Vorrechtes zustehende Macht, um sie, unter dem Schein der Selbstverwaltung der Kreise, der Junkerklasse wiederzugeben. Nach wie vor wird der größere und große Grundbesitz in den Ackerbaudistrikten der östlichen Provinzen herrschen; er erhält sogar neuen Machtzuwachs durch Zureihung von Befugnissen, die bisher dem Staat zukamen. Aber der einzelne Junker verliert die Ausnahmsstellung, |294| die er als Feudalherr hatte. Er sinkt herab zum einfachen modernen Gutsbesitzer - und damit hört er auf, Junker zu sein. Damit ist aber auch die Grundlage des alten Preußens untergraben, und daher hatte das Herrenhaus von seinem Standpunkt ganz recht mit seinem Widerstand gegen die Kreisordnung. Mit der Kreisordnung kein Junkertum, und ohne Junkertum kein spezifisches Preußen mehr.

Die preußische Bourgeoisie blieb sich in dieser Angelegenheit ihrer würdig. Erst hieß es, die Kreisordnung sei nur eine Abschlagszahlung auf die Selbstverwaltung, man müsse sie nehmen, weil man zur Zeit nichts Besseres erreichen könne, sie sei ein Kompromiß mit der Regierung, aber man dürfe sich nun auch keinen Zollbreit mehr abhandeln lassen. Das Herrenhaus verwirft die Kreisordnung. Die Regierung, obwohl schon durch den Kompromiß gegenüber dem Abgeordnetenhause gebunden, verlangt von diesem neue Zugeständnisse. Das Haus ist mutig genug, sie ohne weiteres zu bewilligen; dafür wird den Bourgeois ein Pairsschub versprochen und eine Reform des Herrenhauses in Aussicht gestellt. Der Pairsschub erfolgt - fünfundzwanzig Generale und Bürokraten -, das Herrenhaus nimmt an. Der Kompromiß ist gerettet, aber - die Reform des Herrenhauses ist beseitigt. Man tröstet sich eben damit, daß die Kreisordnung doch ein ganz gewaltiger Fortschritt sei - da kommt die Nachricht von der Ministerkrisis. Roon, Selchow, Itzenplitz wollen abdanken - Sieg der Liberalen auf der ganzen Linie - Unvermeidlichkeit eines liberalen? - nein, das grade nicht, eines - einheitlichen Ministeriums! Unsere Bourgeois sind so genügsam! Sie begnügen sich sogar mit noch weniger. Bismarck gibt die Ministerpräsidentschaft ab, Roon, der Gegner der Kreisordnung, tritt an seine Stelle, noch ein anderer General tritt ins Ministerium, Selchow und Itzenplitz bleiben, das einheitliche Ministerium ist weniger einheitlich als je, die feudalen Elemente darin# sind verstärkt, und der Bourgeois trinkt seinen Schoppen ruhig weiter im stolzen Bewußtsein, daß Bismarck schließlich doch die Seele des Ganzen ist.

Dies Exempel zeichnet genau die Stellung der preußischen Bourgeoisie. Sie rechnet es sich zum Verdienst an, daß Bismarck durch die geschichtliche Lage, in die er Preußen versetzt hat, und durch den industriellen Fortschritt der letzten zwanzig Jahre gezwungen wird, das zu tun, was sie selbst 1848 bis 1850 zu feig war durchzusetzen. Sie hat nicht einmal den Mut, ihren Bismarck zu zwingen, diese kleinen Reformen einfach, offen bürgerlich, ohne polizeistaatliche Verhunzung durchzuführen; sie jubelt laut auf, daß Bismarck genötigt ist, ihre eignen Forderungen von 1846 zu - kastrieren. Und zwar, wohlgemerkt, nur ihre ökonomischen Forderungen - Dinge, |295| deren Durchführung tausend Bismarcks nicht verhindern könnten, selbst wenn sie wollten. Von politischen Forderungen, von Übertragung der politischen Macht an die Bourgeoisie, ja davon ist höchstens noch anstandshalber die Rede. Die preußische Bourgeoisie will die politische Herrschaft nicht; faul vor der Reife, wie das offizielle Rußland schon zu Voltaires Zeit, ist sie, ohne je geherrscht zu haben, bereits auf derselben Stufe der Entartung angekommen, die die französische Bourgeoisie nach achtzigjährigen Kämpfen und nach langer Herrschaft erreicht hat. Panem et circenses, Brot und Schaustücke, verlangte das verkommene römische Plebejertum von seinen Kaisern; panem et circenses, Schwindelprofit und brutalen Luxus, verlangt nicht das preußische Volk, sondern die preußische Bourgeoisie von den seinigen. Die römischen Plebejer mitsamt ihren Kaisern wurden weggeschwemmt von den germanischen Barbaren; hinter den preußischen Bourgeois erheben sich drohend die deutschen Arbeiter.


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