Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1872

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 475-480.

1. Korrektur.
Erstellt am 13.12.1998.

Friedrich Engels

Der Kongreß von Sonvillier und die Internationale

Geschrieben um den 3. Januar 1872.


["Der Volksstaat" Nr. 3 vom 10. Januar 1872]

|475| Was die Lage der Internationalen Arbeiter-Assoziation in diesem Augenblick ist, brauchen wir wohl kaum auszuführen. Auf der einen Seite haben ihr die großartigen Pariser Ereignisse eine Macht und Ausdehnung gegeben, wie sie solche noch nie besessen; auf der andern finden wir fast alle europäischen Regierungen wider sie verbündet, Thiers mit Gortschakow, Bismarck mit Beust, Viktor-Emanuel mit dem Papst, Spanien mit Belgien. Eine allgemeine Internationalen-Hetzjagd ist losgelassen, alle Gewalten der alten Welt, Kriegsgerichte und Zivilgerichte, Polizei und Presse, Krautjunker und Bourgeois wetteifern in der Verfolgung, und auf dem ganzen Kontinent ist kaum ein Plätzchen, wo man nicht alles aufbietet, die schreckenerregende große Arbeiterverbrüderung außerhalb des Gesetzes zu erklären.

Es ist grade dieser Moment der allgemeinen, zwangsmäßigen Desorganisation durch die Mächte der alten Gesellschaft, dieser Moment, wo Einigkeit und Zusammenhalten nötiger als je, es ist grade dieser Moment gewählt worden von einer kleinen, nach ihrem eigenen Geständnis täglich mehr und mehr zusammenschwindenden Anzahl von Internationalen in einem Winkel der Schweiz, um durch ein öffentliches Zirkular einen Zankapfel unter die Mitglieder zu werfen. Diese Leute - sie betiteln sich Föderation des Jura - sind im wesentlichen dieselben, welche unter der Führung von Bakunin seit mehr als zwei Jahren unablässig die Einigkeit in der französischen Schweiz gestört und durch eifrige Privatkorrespondenz mit einzelnen verwandten Größen in verschiedenen Ländern dem Zusammenwirken in der Internationalen entgegengearbeitet haben. Solange diese Intrigen sich auf die Schweiz beschränkten oder im stillen vorgingen, haben |476| wir ihnen keine größere Öffentlichkeit geben wollen; dies Zirkular zwingt uns zu sprechen.

Die Föderation des Jura hat auf ihrem Kongreß zu Sonvillier am 12. November, sich darauf stützend, daß der Generalrat dieses Jahr nicht einen Kongreß, sondern eine Konferenz berufen hatte, ein Zirkular an alle Sektionen der Internationalen beschlossen, welches gedruckt in Massen nach allen Weltgegenden verbreitet worden, und worin die Sektionen aufgefordert werden, auf sofortige Berufung eines Kongresses zu drängen. Weshalb der Kongreß durch eine Konferenz ersetzt werden mußte, ist, für uns in Deutschland und Österreich wenigstens, sonnenklar. Wir hätten dort nicht vertreten sein können, ohne daß unsre Delegierten bei der Rückkehr sofort abgefaßt und in sichern Gewahrsam gebracht worden wären, und in derselben Lage hätten sich die Delegierten aus Spanien, Italien, Frankreich befunden. Eine Konferenz aber, die keine öffentlichen Debatten, sondern nur Verwaltungssitzungen hält, war sehr wohl möglich, weil die Namen der Delegierten nicht an die Öffentlichkeit kamen. Sie hatte den Nachteil, daß sie keine Prinzipienfragen entscheiden, keine Statutenveränderungen und überhaupt keine gesetzgebenden Handlungen vornehmen konnte und sich auf Verwaltungsbeschlüsse zur bessern Ausführung der durch die Statuten und Kongreßbeschlüsse festgestellten Organisation beschränken mußte. Aber das war auch das unter den Umständen allein Erforderliche, es handelte sich um Maßregeln für den augenblicklichen Notstand, und für diesen reichte sie hin.

Die Angriffe gegen die Konferenz und ihre Beschlüsse jedoch waren bloß der Vorwand. Das vorliegende Zirkular spricht auch nur nebenbei davon. Es findet im Gegenteil, daß das Übel viel tiefer liegt. Es behauptet, nach den Statuten und ursprünglichen Kongreßbeschlüssen sei die Internationale nichts als "eine freie Föderation von autonomen" (selbständigen) "Sektionen", die die Emanzipation der Arbeiter durch die Arbeiter selbst bezweckt,

"außerhalb jeder, selbst durch freie Zustimmung geschaffenen, leitenden Autorität".

Demnach sei der Generalrat nichts weiter als "ein bloßes statistisches und Korrespondenzbüro". Diese ursprüngliche Grundlage sei aber sehr bald gefälscht worden, zuerst durch das dem Generalrat gegebene Recht, sich selbst durch neue Mitglieder zu ergänzen, und noch mehr durch die Baseler Kongreßbeschlüsse, die dem Generalrat das Recht gaben, einzelne Sektionen bis zum nächsten Kongreß zu suspendieren und Streitigkeiten vorläufig bis zum Kongreßbeschluß zu entscheiden. Dadurch sei dem |477| Generalrat eine gefährliche Macht in die Hände gegeben, die freie Vereinigung selbständiger Sektionen in eine hierarchische und autoritäre Organisation "disziplinierter Sektionen" verwandelt worden, so daß

"die Sektionen ganz in der Hand des Generalrats seien, der nach Belieben ihre Zulassung verweigern oder ihre Tätigkeit suspendieren könne".

Unsern deutschen Lesern, die nur zu sehr den Wert einer Organisation kennen, die sich wehren kann, wird dies alles sehr wunderbar kommen. Natürlich, denn die Theorien de Herrn Bakunin, die hier in ihrer vollen Blüte erscheinen, sind bisher nicht nach Deutschland gedrungen. Eine Arbeitergesellschaft, die vor allem den Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse auf ihre Fahne geschrieben hat, soll an ihrer Spitze haben - nicht einen vollziehenden Ausschuß, sondern ein bloßes statistisches und Korrespondenzbüro! Aber der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse ist für Bakunin und seine Gesellen bloßer Vorwand; der wahre Zweck ist ein ganz anderer.

"Die zukünftige Gesellschaft soll nichts anderes sein als die Verallgemeinerung der Organisation, welche die Internationale sich gegeben haben wird. Wir müssen also dafür sorgen, daß diese Organisation sich soviel nur möglich unserm Ideal nähert ... Die Internationale, der Keim der zukünftigen menschlichen Gesellschaft, ist gehalten, schon jetzt das getreue Abbild unserer Prinzipien der Freiheit und des Föderalismus zu sein, und aus ihrem Schoße jedes Prinzip zu verstoßen, das zur Autorität und zur Diktatur strebt."

Wir Deutschen sind wegen unsres Mystizismus verschrien, aber an diesen Mystizismus reichen wir bei weitem nicht. Die Internationale, ein Vorbild der künftigen Gesellschaft, wo es keine Versailler Erschießungen, keine Kriegsgerichte, keine stehenden Heere, keine Brieferbrechungen, kein Braunschweiger Kriminalgericht mehr geben wird! Grade jetzt, wo wir uns mit Hand und Fuß unsrer Haut wehren müssen, soll das Proletariat sich nicht nach den Bedürfnissen des Kampfes organisieren, den man ihm täglich und stündlich aufzwingt, sondern nach den Vorstellungen, die sich einige Phantasten von einer unbestimmten zukünftigen Gesellschaft machen! Stellen wir uns doch unsere eigne, deutsche Organisation vor, wie sie nach diesem Muster aussehen würde. Statt gegen die Regierungen und gegen die Bourgeoisie zu kämpfen, würden wir darüber spintisieren, ob auch jeder Artikel unsrer Statuten, jeder Kongreßbeschluß das getreue Abbild der künftigen Gesellschaft sein wird!. Statt unsers vollziehenden Ausschusses - ein bloßes statistisches und Korrespondenzbüro, das selber zusehen mag, wie es mit den selbständigen Sektionen fertig wird, die so selbständig sind, daß sie nicht einmal eine durch ihre eigne freie Zustimmung geschaf- |478| fene leitende Autorität anerkennen dürfen; damit verletzten sie ja ihre erste Pflicht, nämlich die, ein getreues Vorbild der zukünftigen Gesellschaft zu sein! Von Zusammenfassen der Kräfte, von gemeinsamer Aktion ist keine Rede mehr. Wenn in jeder einzelnen Sektion die Minderzahl sich der Mehrzahl fügt, so begeht sie ein Verbrechen gegen die Prinzipien der Freiheit und erkennt ein Prinzip an, das zur Autorität und zur Diktatur strebt! Wenn Stieber mit allen seinen Gesellen, wenn das ganze schwarze Kabinett, wenn sämtliche preußische Offiziere auf Befehl in die sozialdemokratische Organisation eintreten, um sie zu ruinieren, so darf der Ausschuß oder vielmehr das statistische Korrespondenzbüro ihnen das beileibe nicht wehren, das hieße ja eine hierarchische und autoritäre Organisation einführen! Und namentlich keine disziplinierten Sektionen! Ja keine Parteidisziplin, keine Zentralisation der Kräfte auf einen Punkt, keine Waffen des Kampfs! Wo bliebe da das Vorbild der künftigen Gesellschaft? Kurz, wohin kämen wir mit dieser neuen Organisation? Zu der feigen, kriechenden Organisation der ersten Christen, jener Sklaven, die jeden Fußtritt mit Dank hinnahmen und die nach dreihundert Jahren allerdings ihrer Religion durch Kriechen den Sieg verschafften - eine Methode der Revolution, die das Proletariat wahrlich nicht nachahmen wird! Grade wie die ersten Christen sich ihren vorgestellten Himmel zum Vorbild ihrer Organisation nahmen, so sollten wir uns den gesellschaftlichen Zukunftshimmel des Herrn Bakunin zum Vorbild nehmen und statt zu kämpfen - beten und hoffen. Und die Leute, die uns diesen Unsinn predigen, geben sich für die einzigen wahren Revolutionäre aus!

Um wieder zur Internationalen zurückzukehren, so hat es mit alledem einstweilen gute Wege. Der Generalrat hat bis zum neuen Kongreßentscheid die Pflicht, die Baseler Beschlüsse auszuführen und wird seine Pflicht erfüllen. Und wie er sich nicht geniert hat, die Tolains und Durands auszustoßen, so wird er dafür sorgen, daß den Stiebers und Konsorten der Zutritt in die Internationale verschlossen bleibt, wenn auch Herr Bakunin dies diktatorisch finden sollte.

Aber wie sind denn diese schlimmen Baseler Beschlüsse zustande gekommen? Ganz einfach. Die belgischen Delegierten schlugen sie vor, und niemand hat wärmer dafür gesprochen als Bakunin und seine Freunde, namentlich Schwitzguébel und Guillaume, die Unterzeichner des gegenwärtigen Zirkulars! Aber freilich, damals stand es anders. Damals hofften diese Herren, die Majorität zu erlangen und den Generalrat auf sich übertragen zu sehen. Damals konnten sie den Generalrat nicht stark genug machen. Und jetzt - ja, Bauer, das ist ganz was anderes! Jetzt sind die Trauben |479| sauer, und jetzt soll er auf ein bloßes statistisches und Korrespondenzbüro reduziert werden, damit nur ja die Schamhaftigkeit der Bakuninschen zukünftigen Gesellschaft nicht zu erröten braucht.

Und diese Leute, Sektierer von Profession, die mitsamt ihrer mystisch urchristlichen Doktrin einen verschwindend kleinen Teil der Mitglieder der Internationalen ausmachen, entblöden sich nicht, dem Generalrat vorzuwerfen, seine Mitglieder wollten

"in der Internationalen ihr besonderes Programm, ihre persönliche Lehre vorherrschend machen; ihre Privatideen kämen ihnen vor als die amtliche Theorie, die allein Bürgerrecht in der Assoziation habe".

Das ist in der Tat stark. Wer die innere Geschichte der Internationalen zu verfolgen Gelegenheit gehabt hat, der weiß, daß diese selben Leute seit beinahe drei Jahren sich hauptsächlich damit beschäftigen, ihre Sektenlehre der Assoziation als das allgemeine Programm aufzudrängen und, nachdem dies nicht gelungen, bakunistische Phrasen unter der Hand für das allgemeine Programm der Internationalen auszugeben. Trotzdem hat der Generalrat nur gegen diese Unterschiebung protestiert, ihnen aber bisher nie das Recht bestritten, der Internationalen anzugehören oder ihre Sektiererflausen, als solche, nach Herzenslust an den Markt zu bringen. Wie der Generalrat dies neue Zirkular aufnehmen wird, wollen wir abwarten.

Was diese Leute mit ihrer neuen Organisation ausgerichtet haben, darüber haben sie sich selbst ein brillantes Zeugnis ausgestellt. Überall, wo die Internationale nicht auf gewaltsamen Widerstand reaktionärer Regierungen gestoßen ist, hat sie seit der Pariser Kommune Riesenfortschritte gemacht. Im Schweizer Jura dagegen, wo diese Herren seit anderthalb Jahren unbeschränkt gewirtschaftet haben - was sehen wir da? Man höre ihren eignen Bericht an den Kongreß von Sonvillier (Genfer "Révolution Sociale" vom 23. November):

"Diese schrecklichen Ereignisse haben einen teilweise demoralisierenden, teilweise wohltätigen Einfluß auf unsere Sektionen ausüben müssen, ... dann kommt der Anfang des Riesenkampfes, den das Proletariat der Bourgeoisie zu liefern hat, und damit kommt das Nachdenken ... die einen drücken sich (s'en vont) und verbergen ihre Feigheit, die andern schließen sich fester als je an das erneuernde Prinzip der Internationalen an. - Dies ist die vorherrschende Tatsache der gegenwärtigen inneren Geschichte der Internationalen im allgemeinen und unsrer Föderation im besondern."

Neu ist, daß dies in der Internationalen überhaupt vorgegangen sei, während gerade das Gegenteil stattfand. Wahr ist, daß dies der Fall war in der Jura-Föderation. Hört nun die Herren selbst: Die Sektion Moutier hat am wenigsten gelitten, hat aber nichts fertiggebracht:

|480| "Wenn keine neuen Sektionen gegründet worden sind, so muß man doch hoffen etc." ... und doch war diese Sektion "ganz besonders begünstigt durch den - vortrefflichen Geist der Bevölkerung" ... "die Sektion Grange ist reduziert auf einen kleinen Kern von Arbeitern."

Zwei Sektionen von Biel haben nie die Briefe des Komitees beantwortet, ebensowenig die Sektionen von Neuchâtel und eine von Locle; die dritte Sektion in Biel

ist "augenblicklich tot" ... obwohl "nicht alle Hoffnung verloren ist, die Internationale in Biel wieder aufleben zu sehen".

Die Sektion Saint-Blaise ist tot, die von Val de Ruz ist verschwunden, man weiß nicht wie - die Zentralsektion von Locle hatte sich nach längerem Todeskampf aufgelöst, ist aber, offenbar zum Zweck der Kongreßwahl, mit Ach und Krach wieder zustandegebracht - die von La-Chaux-de-Fonds ist in einer kritischen Lage - die Sektion der Uhrmacher von Courtelary verwandelt sich augenblicklich in eine Gewerksgenossenschaft unter Annahme der Statuten der Gewerksgenossenschaft schweizerischer Uhrmacher, nimmt also das Statut einer nicht zur Internationalen gehörenden Verbindung an - die Zentralsektion desselben Bezirks hat ihre Tätigkeit suspendiert, weil ihre Mitglieder in Saint-Imier und in Sonvillier so eine Separatsektion gestiftet (was dieselbe Zentralsektion nicht verhindert, im Kongreß sich durch zwei Delegierte vertreten zu lassen, neben den Delegierten der beiden Sektionen von Saint-Imier und Sonvillier); die Sektion Catébat, nach einer brillanten Existenz, hat sich infolge der Intrigen der dortigen Bourgeois auflösen müssen, desgleichen die von Corgémont; in Genf endlich existiert noch eine Sektion.

Das ist es, was die Vertreter der freien Föderation unabhängiger Sektionen mit einem statistischen und Korrespondenzbüro an der Spitze in anderthalb Jahren aus einer zwar nicht ausgedehnten und zahlreichen, aber doch blühenden Föderation gemacht haben. Und das in einem Lande, wo sie vollständige Aktionsfreiheit hatten und zur Zeit, wo anderswo überall die Internationale Riesenfortschritte machte! Und in demselben Augenblick, wo sie selbst uns dies Jammerbild ihrer Mißerfolge zeigen, diesen Angstschrei der Hülflosigkeit und Auflösung ausstoßen, in demselben Augenblick treten sie vor uns mit dem Anspruch, die Internationale aus ihrer bisherigen Bahn, auf der sie zu dem geworden, was sie ist, herauszureißen und sie auf den Weg zu führen, der die Jura-Föderation von verhältnismäßiger Blüte herabgeführt hat zur vollständigen Auflösung!