Inhaltsverzeichnis Dokumente der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1871

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 383/387.

1. Korrektur.
Erstellt am 13.12.1998.

Karl Marx

Herr Washburne, der amerikanische Gesandte in Paris

Nach dem Londoner Flugblatt vom Juli 1871.
Aus dem Englischen.


An das New-Yorker Zentralkomitee
der Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation
in den Vereinigten Staaten

|383| Bürger!

Der Generalrat der Assoziation hält es für seine Pflicht, Sie über das Verhalten des amerikanischen Gesandten, Herrn Washburne, während des Bürgerkriegs in Frankreich zu unterrichten.

I

Die folgende Aussage stammt von Herrn Robert Reid, einem Schotten, der 17 Jahre in Paris gelebt hat und während des Bürgerkriegs Korrespondent des Londoner "Daily Telegraph" und des "New York Herald" gewesen ist. Wir wollen beiläufig bemerken, daß der "Daily Telegraph" in der Parteinahme für die Versailler Regierung so weit gegangen ist, sogar die kurzen telegraphischen Depeschen zu fälschen, die Herr Reid ihm zuschickte.

Herr Reid, der sich wieder in England befindet, ist bereit, seine Erklärung durch Affidavit zu bekräftigen.

"Das Dröhnen der Sturmglocken, gemischt mit dem Kanonendonner, dauerte die ganze Nacht an. Es war unmöglich zu schlafen. Wo sind - dachte ich bei mir - die Vertreter Europas und Amerikas? Ist es möglich, daß sie angesichts dieser Ströme unschuldigen Blutes keinerlei Anstrengungen zur Versöhnung machen? Diesen Gedanken konnte ich nicht länger ertragen, und da ich wußte, daß Herr Washburne in der Stadt war, entschloß ich mich, ihn sofort aufzusuchen. Ich glaube, es war am 17. April; das genaue Datum kann übrigens aus meinem Brief an Lord Lyons festgestellt werden, |384| dem ich am selben Tage schrieb. Als ich auf meinem Wege zu Herrn Washburns Wohnung über die Champs Elysées ging, begegnete ich zahlreichen Ambulanzwagen mit Verwundeten und Sterbenden. Rings um den Arc de Triomphe krepierten Granaten und noch mehr unschuldige Menschen kamen auf die lange Liste der Opfer des Herrn Thiers.

Nach meiner Ankunft in der Rue de Chaillot Nr. 95 erkundigte ich mich beim Portier nach dem Gesandten der Vereinigten Staaten und wurde in die zweite Etage verwiesen. Wie hoch und in was für einer Wohnung man wohnt, ist in Paris ein untrügliches Zeichen des Vermögens und der Position, die man hat, eine Art sozialen Barometers. Im ersten Stock vorne finden wir zum Beispiel einen Marquis, im fünften Stock hinten einen einfachen Mechaniker; die Treppen, die sie trennen, versinnbildlichen die gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen. Als ich die Treppen hinaufstieg und keine beleibten Lakaien in roten Hosen und seidenen Strümpfen antraf, dachte ich: 'Aha! Die Amerikaner legen ihr Geld besser an, wir verschwenden unsers.'

Als ich in das Zimmer des Sekretärs trat, fragte ich nach Herrn Washburne. 'Wünschen Sie ihn persönlich zu sprechen?' 'Ja.' - Man meldete mich und ich wurde vorgelassen. Er flegelte sich in einem Lehnstuhl und las eine Zeitung. Ich erwartete, daß er aufstehen werde, aber er blieb sitzen, mit der Zeitung vor dem Gesicht, ein Akt grober Ungezogenheit in einem Lande, in dem die Menschen im allgemeinen höflich sind.

Ich sagte Herrn Washburne, daß wir die Sache der Menschlichkeit verrieten, wenn wir nicht alles täten, um eine Versöhnung herbeizuführen. Ob es uns gelänge oder nicht, auf alle Fälle sei es unsere Pflicht, es zu versuchen; und der Augenblick scheine um so günstiger, da die Preußen gerade jetzt Versailles zu einem endgültigen Abschluß drängten. Der vereinte Einfluß Amerikas und Englands könnte die Waagschale zugunsten des Friedens senken.

Herr Washburne sagte: 'Die Pariser sind Rebellen. Sie sollen ihre Waffen niederlegen.' Ich wandte ein, die Nationalgarde habe ein legales Recht, ihre Waffen zu behalten; aber darum handle es sich hier gar nicht. Wenn die Menschlichkeit mit Füßen getreten wird, hat die zivilisierte Welt das Recht einzugreifen, und ich bitte Sie, in dieser Hinsicht mit Lord Lyons zusammenzuarbeiten. Herr Washburne: 'Diese Versailler wollen auf nichts hören.' - 'Wenn sie sich weigern, tragen sie die moralische Verantwortung.' Herr Washburne: 'Das finde ich nicht. Ich kann in dieser Angelegenheit nichts tun. Sprechen Sie lieber mit Lord Lyons.'

So endete unser Gespräch. Tief enttäuscht verließ ich Herrn Washburne. Ich hatte einen groben und hochmütigen Mann vorgefunden, bei dem keines jener brüderlichen Gefühle vorhanden war, die man bei dem Vertreter einer demokratischen Republik erwarten könnte. Ich hatte zweimal die Ehre einer Unterredung mit Lord Cowley, als er unser Vertreter in Frankreich war. Sein offenes, höfliches Wesen bildete einen krassen Gegensatz zu der kalten, überheblichen und gewollt aristokratischen Haltung des amerikanischen Gesandten.

Ich versuchte nun Lord Lyons zu überzeugen, daß England im Interesse der Verteidigung der Menschlichkeit verpflichtet sei, sich ernsthaft anzustrengen, um eine |385| Versöhnung zu erreichen, da ich überzeugt sei, daß die britische Regierung solche Grausamkeiten wie die Massaker auf dem Bahnhof Clamart und in Moulin-Saquet, ganz zu schweigen von den Schreckensszenen in Neuilly, nicht gleichgültig mitansehen könne, ohne den Fluch jedes Freundes der Menschlichkeit auf sich zu laden. Lord Lyons ließ mir mündlich durch seinen Sekretär, Herrn Edward Malet, mitteilen, daß er meinen Brief an die Regierung weitergeleitet habe und gern bereit sei, jede weitere Mitteilung, die ich in dieser Sache zu machen hätte, gleichfalls weiterzuleiten. Einen Augenblick lang waren die Umstände für eine Versöhnung äußerst günstig, und wenn unsere Regierung ihr Gewicht in die Waagschale geworfen hätte, wäre der Welt das Blutbad von Paris erspart geblieben. Auf jeden Fall ist es nicht Lord Lyons' Schuld, wenn die britische Regierung ihre Pflicht versäumte.

Aber kehren wir zu Herrn Washburne zurück. Am Mittwoch, dem 24. Mai, vormittags, ging ich über den Boulevard des Capucines, als ich meinen Namen rufen hörte. Ich wandte mich um und sah Dr. Hossart neben Herrn Washburne in einem offenen Wagen, der von einer großen Gruppe Amerikaner umringt war. Nach den üblichen Begrüßungen kam ich mit Dr. Hossart ins Gespräch. Sofort drehte sich die Unterhaltung um die furchtbaren Szenen ringsum. Da wandte sich Herr Washburne an mich und erklärte im Brustton der Überzeugung: 'Jeder, der zur Kommune gehört, und alle, die mit ihr sympathisieren, werden erschossen.' Ach, ich wußte nur zu gut, daß sie alt und jung töteten, deren ganzes Verbrechen darin bestand, mit der Kommune zu sympathisieren; aber ich war nicht darauf gefaßt, es halboffiziell von Herrn Washburne zu hören, und doch hatte er, als er diese blutdürstige Phrase wiederholte, immer noch Zeit, den Erzbischof zu retten."

II

"Am 24 .Mai kam der Sekretär des Herrn Washburne zu der damals in der Mairie des 11. Arrondissements versammelten Kommune, um einen Vorschlag der Preußen zur Vermittlung zwischen den Versaillern und den Föderierten zu folgenden Bedingungen anzubieten:

Einstellung der Feindseligkeiten.
Neuwahl der Kommune einerseits und der Nationalversammlung andererseits.
Die Versailler Truppen verlassen Paris und beziehen in und vor den Forts Quartier.
Die Bewachung von Paris wird weiterhin der Nationalgarde anvertraut.
Keiner, der in der Armee der Föderierten diente oder dient, darf bestraft werden.

Die Kommune nahm diese Vorschläge in einer außerordentlichen Sitzung mit dem Vorbehalt an, daß Frankreich zwei Monate Zeit gegeben werden müßte, um die allgemeinen Wahlen für eine konstituierende Versammlung vorzubereiten.

Mit dem Sekretär der amerikanischen Gesandtschaft fand eine zweite Zusammenkunft statt. Die Kommune beschloß auf ihrer Sitzung am Morgen des 25. Mai, fünf Bürger - unter ihnen Vermorel, Delescluze und Arnold - als Bevollmächtigte nach |386| Vincennes zu entsenden, wo sich nach den Angaben des Sekretärs von Herrn Washburne ein Vertreter der Preußen befinden würde. Die Deputation wurde jedoch von den diensthabenden Nationalgardisten am Tor von Vincennes nicht durchgelassen. Es fand noch eine letzte Zusammenkunft mit demselben amerikanischen Sekretär statt, die dazu führte, daß sich der Bürger Arnold, dem jener für seine Sicherheit einen Geleitbrief übergeben hatte, am 26. Mai nach St. Denis begab, wo er von den Preußen - nicht empfangen wurde.

Das Ergebnis dieser amerikanischen Vermittlung (die auf eine erneute Neutralität der Preußen und eine von ihnen beabsichtigte Vermittlung zwischen den Kriegführenden schließen ließ) war, daß die Verteidigung im kritischsten Augenblick für zwei Tage lahmgelegt wurde. Trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die zur Geheimhaltung der Verhandlungen getroffen waren, wurden diese bald den Nationalgardisten bekannt, die sich voller Vertrauen auf die preußische Neutralität in die preußischen Linien flüchteten, um sich gefangenzugeben. Es ist bekannt, wie ihr Vertrauen von den Preußen getäuscht wurde, deren Wachen einen Teil der Flüchtlinge erschossen und die Überlebenden an die Versailler Regierung auslieferten.

Während der ganzen Zeit des Bürgerkriegs wurde Herr Washburne nicht müde, die Kommune durch seinen Sekretär seiner heißen Sympathien zu versichern und ihr zu erklären, daß er die Versailler Regierung entschieden verdamme; nur seine diplomatische Stellung hindere ihn daran, dies öffentlich zu bekunden."

Die Aussage unter II stammt von einem Mitglied der Pariser Kommune, das wie Herr Reid, falls notwendig, bereit ist, sie durch Affidavit zu bekräftigen.

Um das Verhalten des Herrn Washburne richtig einzuschätzen, müssen die Aussagen des Herrn Reid und des Mitglieds der Pariser Kommune im Zusammenhang gesehen werden, als Erklärungen, die auf zwei Seiten ein und derselben Sache hinweisen. Während Herr Washburne dem Herrn Reid erklärt, daß die Kommunarden "Rebellen" sind, die ihr Schicksal verdienen, erklärt er der Kommune seine Sympathien für ihre Sache und seine Verachtung der Versailler Regierung. An demselben 24. Mai, an dem er in Gegenwart von Dr. Hossart und vielen Amerikanern Herrn Reid mitteilt, daß nicht nur die Kommunarden, sondern auch alle mit ihnen Sympathisierenden unwiderruflich zum Tode verurteilt seien, teilt er der Kommune durch seinen Sekretär mit, daß nicht nur ihren Mitgliedern, sondern auch allen Angehörigen der Armee der Föderierten das Leben geschenkt werde.

Wir bitten Sie, werte Bürger, diese Tatsachen der Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten zu unterbreiten und sie aufzufordern, zu entscheiden, ob Herr Washburne würdig ist, die amerikanische Republik zu vertreten.

|387| Der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation:

M. J. Boon, Fred. Bradnick, G. H. Buttery, Caihill, William Hales, Kolb, F. Leßner, George Milner, Thos. Mottershead, Chas. Murray, P. Mac Donnel, Pfänder, John Roach, Rühl, Sadler, Cowell Stepney, Alfred Taylor, W. Townshend

Korrespondierende Sekretäre;

Eugéne Dupont, für Frankreich
Karl Marx, für Deutschland und Holland
F. Engels, für Belgien und Spanien
H. Jung, für die Schweiz
P. Giovacchini, für Italien
Zévy Maurice, für Ungarn
Antoni Zabicki, für Polen
James Cohen, für Dänemark
J. G. Eccarius, für die Vereinigten Staaten

Hermann Jung, Vorsitzender
John Weston, Schatzmeister
George Harris, Finanzsekretär
John Hales, Generalsekretär

Büro: 256, High Holborn, London, W. C.
11. Juli 1871