Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1871

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 283-285.

1. Korrektur.
Erstellt am 13.12.1998.

Karl Marx

Die Preß und Redefreiheit in Deutschland

Aus dem Englischen.


["The Daily News" vom 19. Januar 1871]

|283| An den Redakteur der "Daily News"

Sir,

Als Bismarck die französische Regierung beschuldigte, "die freie Meinungsäußerung von Presse und Volksvertretern in Frankreich unmöglich gemacht zu haben", hatte er offenbar lediglich die Absicht, einen Berliner Witz zu reißen. Wenn Sie die "wahre" öffentliche Meinung in Frankreich kennenlernen wollen, dann wenden Sie sich bitte an Herrn Stieber, den Herausgeber des Versailler "Moniteur" und notorischen preußischen Polizeispitzel!

Auf Bismarcks ausdrücklichen Befehl sind die Herren Bebel und Liebknecht unter dem Vorwand einer Anklage wegen Hochverrats einfach darum verhaftet worden, weil sie es gewagt hatten, ihre Pflichten als deutsche Volksvertreter zu erfüllen, das heißt im Reichstag gegen die Annexion von Elsaß und Lothringen zu protestieren, gegen neue Kriegskredite zu stimmen, ihre Sympathie für die Französische Republik auszudrücken und den Versuch der Verwandlung Deutschlands in eine einzige preußische Kaserne zu verurteilen. Für die Äußerung derselben Ansichten sind die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei seit Anfang September vorigen Jahres wie Galeerensträflinge behandelt worden und müssen noch jetzt eine Justizkomödie unter der Anklage des Hochverrats über sich ergehen lassen. Das gleiche Schicksal hat zahlreiche Arbeiter ereilt, die das Braunschweiger Manifest propagierten. Unter ähnlichen Vorwänden wird Herr Hepner, der zweite Redakteur des Leipziger "Volksstaats" wegen Hochverrrats verfolgt. Die wenigen außerhalb Preußens erscheinenden unabhängigen deutschen Zeitungen dürfen in das |284| Herrschaftsgebiet der Hohenzollern nicht eingeführt werden. In Deutschland werden täglich Arbeiterversammlungen für einen ehrenhaften Frieden mit Frankreich von der Polizei auseinandergejagt. Nach der offiziellen preußischen Doktrin, wie sie in naiver Weise von General Vogel von Falckenstein dargelegt wurde, ist jeder Deutsche, "der versucht, den voraussichtlichen Zielen der preußischen Kriegführung in Frankreich zuwiderzuhandeln", des Hochverrats schuldig. Wenn die Herren Gambetta und Co. gleich den Hohenzollern gezwungen wären, die öffentliche Meinung mit Gewalt zu unterdrücken, brauchten sie nur die preußische Methode anzuwenden und unter dem Vorwand des Krieges über ganz Frankreich den Belagerungszustand zu verhängen. Die einzigen französischen Soldaten, die sich auf deutschem Boden befinden, schmachten in preußischen Kerkern. Dennoch fühlt sich die preußische Regierung bemüßigt, rigoros den Belagerungszustand beizubehalten, das heißt die roheste und empörendste Form des Militärdespotismus und die Aufhebung aller Gesetze. Der Boden Frankreichs ist von fast einer Million deutscher Eindringlinge heimgesucht. Trotzdem kann die französische Regierung unbesorgt auf jene preußische Methode, "die freie Meinungsäußerung zu ermöglichen", verzichten. Vergleichen Sie die beiden Bilder! Deutschland hat sich jedoch als ein zu enges Feld für Bismarcks allumfassende Liebe zur unabhängigen Meinungsäußerung erwiesen. Als die Luxemburger ihren Sympathien für Frankreich Ausdruck gaben, machte Bismarck diese Gefühlsäußerung zu einem seiner Vorwände für die Kündigung des Londoner Neutralitätsvertrages. Als die belgische Presse eine ähnliche Sünde beging, forderte der preußische Botschafter in Brüssel, Herr von Balan, die belgische Regierung auf, nicht nur alle antipreußischen Zeitungsartikel, sondern sogar das Drucken bloßer Nachrichten zu verbieten, die darauf berechnet waren, den Franzosen in ihrem Unabhängigkeitskrieg Mut zuzusprechen. Fürwahr eine sehr bescheidene Forderung, die belgische Verfassung "pour le roi de Prusse"' aufzuheben! Kaum hatten einige Stockholmer Zeitungen es sich erlaubt, ein paar harmlose Witze über die notorische "Frömmelei" Wilhelm Annexanders zu machen, als sich Bismarck mit grimmigen Sendschreiben auf das schwedische Kabinett stürzte. Sogar am Längengrad von St. Petersburg brachte er es fertig, eine allzu zügellose Presse zu erspähen. Auf seine ganz ergebene Bitte wurden die Redakteure der wichtigsten Petersburger Zeitungen vor den Chefzensor geladen, der ihnen befahl, sich aller kritischen Bemerkungen über den treuen borussischen Vasallen des |285| Zaren zu enthalten. Einer dieser Redakteure, Herr Sagulajew, war unvorsichtig genug, das Geheimnis dieser Warnung in den Spalten des "Golos" zu lüften. Sofort stürzte sich die russische Polizei auf ihn und verfrachtete ihn in irgendeine abgelegene Provinz. Es wäre ein Fehler, zu glauben, daß diese Gendarmeriemethoden nur dem Paroxysmus des Kriegsfiebers zuzuschreiben sind. Sie sind im Gegenteil die genaue methodische Anwendung des Geistes der preußischen Gesetze. Es existiert in der Tat im preußischen Strafgesetzbuch eine sonderbare Bestimmung, kraft deren jeder Ausländer auf Grund seiner Handlungen oder Schriften in seinem oder einem andern fremden Lande wegen "Beleidigung des preußischen Königs" und wegen "Hochverrats gegen Preußen" verfolgt werden kann! Frankreich - und seine Sache ist glücklicherweise weit davon entfernt, verzweifelt zu sein - kämpft m Augenblick nicht nur für seine eigene nationale Unabhängigkeit, sondern für die Freiheit Deutschlands und Europas.

Ich verbleibe, Sir, hochachtungsvoll Ihr
Karl Marx

London, 16. Januar 1871