Über den Krieg - XXXIV | Inhalt | Über den Krieg - XXXVI

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 232-236.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXXV


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1848 vom 14. Januar 1871]

|232| Die Armeen im Felde haben zwei Operationen begonnen, die leicht eine Krise des Krieges herbeiführen können. Die erste davon ist Bourbakis Marsch gegen Werder, die zweite Prinz Friedrich Karls Marsch gegen Chanzy.

Das Gerücht von Bourbakis Marsch nach Osten läuft seit ungefähr einer Woche um; aber es unterschied sich in nichts von den übrigen Gerüchten, die jetzt so reichlich umherschwirren. Daß diese Bewegung an und für sich gut wäre, war kein Grund, an ihre Wirklichkeit zu glauben. Jedoch kann jetzt kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß Bourbaki mit zumindest dem XVIII., dem XX. und einem neuen, dem XXIV. Korps in Ostfrankreich angekommen ist und durch eine Bewegung über Besançon nach Lure, zwischen Vesoul und Belfort, Werders Stellung bei Vesoul umgangen hat. Am 9. Januar griff ihn Werder bei Villersexel in der Nähe von Lure an, und es kam zu einem Treffen, in dem beide Parteien den Sieg erfochten haben wollen. Es war offenbar ein Nachhutgefecht, in dem Werder anscheinend seinen Rückzug sicherte. Wer auch in diesem ersten Gefecht gewonnen hat, es werden sicher in ein oder zwei Tagen neue und größere Schlachten folgen und die Dinge dort zu einer Krise bringen.

Wenn Bourbaki diese Bewegung mit genügenden Kräften unternimmt - nämlich unter Einsatz jedes Mannes, jedes Pferdes und jedes Geschützes, die nicht unbedingt an anderer Stelle notwendig sind - und wenn er sie mit der nötigen Energie durchführt, dann kann sie den Wendepunkt des Krieges herbeiführen. Wir haben schon früher auf die Schwäche der langen deutschen Verbindungslinie hingewiesen sowie auf die Möglichkeit, Paris durch einen Angriff mit beträchtlichen Kräften auf diese Linie zu entsetzen. |233| So liegen die Karten und es wird vom Spiel abhängen, ob es wirklich gelingt.

Von den jetzt in Frankreich stehenden Invasionstruppen sind fast die gesamten Linientruppen entweder für die Belagerung von Paris oder für die Deckung dieser Belagerung beansprucht. Von fünfunddreißig Divisionen (einschließlich der Gardelandwehr, die ständig als Linientruppe verwendet worden ist) sind zweiunddreißig auf diese Weise in Anspruch genommen. Zwei stehen unter Werder (drei badische und eine preußische Brigade), und eine unter Zastrow hat sich ihm jetzt angeschlossen. Außer diesen befehligt Werder wenigstens zwei Divisionen Landwehr, die mit der Belagerung von Belfort und der Besetzung der Festungen im Südelsaß beschäftigt sind. Somit muß die ganze Länge und Breite des Gebiets nordöstlich der Linie von Mézières über Laon und Soissons bis Paris und von da über Auxerre und Châtillon bis Hüningen bei Basel mit all seinen eroberten Festungen von dem Rest der Landwehr gehalten werden, soweit man über diese verfügen kann. Wenn wir bedenken, daß außerdem noch die Kriegsgefangenen in Deutschland zu bewachen sind und die deutschen Festungen ihre Besatzungen behalten müssen, daß ferner nur neun preußische Armeekorps (nämlich die, welche vor 1866 bestanden) genügend alte Soldaten hatten, ihre Landwehrbataillone aufzufüllen, während die anderen noch fünf Jahre warten müssen, bevor sie das tun können, so können wir uns vorstellen, daß die für die Besetzung dieses Teils von Frankreich verfügbaren Truppen nicht allzu reichlich gewesen sein können. Gewiß, achtzehn Depotbataillone sind jetzt zur Besetzung der Festungen im Elsaß und in Lothringen abgesandt worden, und die neu formierten "Garnisonbataillone" müssen die Landwehr im Inneren Preußens ablösen. Aber die Bildung dieser Garnisonbataillone schreitet nur langsam vorwärts, wie die deutsche Presse berichtet. Die Besatzungsarmee wird somit noch für einige Zeit verhältnismäßig schwach und kaum fähig sein, die Bevölkerung der von ihr bewachten Provinzen in Schach zu halten.

Gegen diesen Teil der deutschen Armee wendet sich Bourbaki. Er versuchte augenscheinlich, seine Truppen zwischen Vesoul und Belfort zu schieben, wodurch er Werder isolieren, ihn dann allein schlagen und in nordwestlicher Richtung treiben könnte. Da aber Werder jetzt wahrscheinlich vor Belfort steht und sich mit Tresckow vereinigt hat, muß Bourbaki beide schlagen, um die Belagerung aufzuheben. Er müßte die Belagerer ins Rheintal zurücktreiben, worauf er an der Westseite der Vogesen auf Lunéville vorrücken könnte, wo er die deutsche Hauptverbindungslinie träfe. Die Zerstörung der Eisenbahntunnels bei Pfalzburg würde die Linie nach Straß- |234| burg für eine beträchtliche Zeit sperren, die des Eisenbahnknotenpunkts Frouard würde die Linie von Saarbrücken nach Metz sperren. Es wäre sogar möglich, eine fliegende Kolonne nach Thionville zu senden, um auch dort die Eisenbahn zu zerstören und damit die letzte Durchgangslinie der Deutschen zu unterbrechen. Diese Kolonne könnte sich jederzeit nach Luxemburg oder Belgien zurückziehen und die Waffen niederlegen; es hätte sich trotzdem reichlich gelohnt.

Das sind die Ziele, die Bourbaki im Auge haben muß. Angesichts der leergepumpten Umgegend von Paris würde die Unterbrechung der Verbindungen von Paris nach Deutschland, wenn auch nur für einige Tage, für die 240.000 Deutschen vor Paris eine sehr ernste Sache sein. Auch dürfte die Anwesenheit von 120.000 bis 150.000 französischen Soldaten in Lothringen ein wirksameres Mittel zur Aufhebung der Belagerung sein als ein Sieg Chanzys über Friedrich Karl, ein Sieg, der letzteren lediglich zu den Belagerungstruppen zurückdrängen würde, die ihm dann den Rücken deckten. Gewiß, die Deutschen haben noch eine andere Eisenbahnverbindung, über Thionville, Mézières und Reims, die Bourbaki wahrscheinlich auch durch fliegende Kolonnen nicht erreichen könnte; aber es ist absolut gewiß, daß eine allgemeine Volkserhebung in den besetzten Gebieten losbrechen würde, sobald es Bourbaki gelänge, in Lothringen einzudringen; und wie es unter solchen Umständen um die Sicherheit des Verkehrs auf dieser zweiten Eisenbahnlinie bestellt wäre, brauchen wir nicht weiter auseinanderzusetzen. Außerdem würde die erste Wirkung eines Erfolges von Bourbaki der erzwungene Rückzug Goebens sein, so daß dadurch die Nordarmee eine günstige Gelegenheit bekäme, jene Linie zwischen Soissons und Mézières abzuschneiden.

Wir halten diese Bewegung Bourbakis für die bedeutendste und aussichtsreichste, die in diesem Kriege von einem französischen General unternommen worden ist. Aber wir wiederholen, daß sie auch dementsprechend ausgeführt werden muß. Die besten Pläne sind wertlos, wenn sie schwach und unentschlossen ausgeführt werden. Wir werden wahrscheinlich über Bourbakis Truppen und die Art, wie er sie einsetzt, nicht eher etwas Positives erfahren, als bis seine Kämpfe mit Werder entschieden sind.

Wir hören indessen, daß in der Erwartung solcher Möglichkeiten Werders Korps zu einer großen "Fünften Armee" unter Manteuffel erweitert werden soll. Manteuffel soll seine "Erste Armee" an Goeben abgeben und das II., VII. und XIV. Korps zu Werders Unterstützung stellen. Von dem VII. Korps ist die 13. Division bereits unter Zastrow nach Vesoul gesandt worden; die 14. Division hat gerade Mézières und Rocroi genommen und |235| kann deshalb nicht so bald in Vesoul erwartet werden. Das XIV. Korps ist das einzige, das Werder die ganze Zeit unter sich gehabt hat (die badische Division und das 30. und 34. preußische Regiment unter Goltz). Was das II. Korps anbetrifft, das vor Paris liegt, so glauben wir nicht, daß es aufbricht, bevor sich diese Stadt ergeben hat, denn es kann dort nicht gut entbehrt werden. Aber wenn es jetzt auch abgesandt würde, so käme es doch erst an, nachdem Werders entscheidendes Treffen mit Bourbaki vorüber wäre. Was andere Verstärkungen Werders anbelangt aus Reserven, die man noch in Deutschland vermuten könnte, so müssen wir im Auge behalten: erstens ist alles, was an Landwehr verfügbar gemacht werden konnte, bereits abgeschickt worden oder wird jetzt abgeschickt; zweitens haben die Depotbataillone - die einzige noch vorhandene Reserve - gerade ihre ausgebildeten Mannschaften abgegeben und stellen augenblicklich lediglich Kader dar. So wird Bourbaki in jedem Fall sein erstes und entscheidendes Gefecht liefern müssen, ehe die erwarteten Verstärkungen der Deutschen eingetroffen sein können. Wenn er siegreich ist, wird er in der günstigen Lage sein, mit diesen Verstärkungen einzeln fertig zu werden, so wie sie nacheinander und aus recht verschiedenen Richtungen ankommen.

Andererseits mag Prinz Friedrich Karl trotz des siegreichen Marsches auf Le Mans doch den ersten von den Deutschen in diesem Kriege begangenen Fehler dadurch gemacht haben, daß er Bourbaki gänzlich frei ließ, um alle seine Kräfte gegen Chanzy zu konzentrieren. Chanzy war zwar ohne Zweifel sein unmittelbarer und im Augenblick auch sein gefährlichster Gegner. Aber es ist nicht Chanzvs Gebiet, wo entscheidende Erfolge gegen die Franzosen erzielt werden können. Chanzy hat gerade eine ernste Niederlage erlitten, was gegenwärtig seinen Versuchen zur Entsetzung von Paris ein Ende bereitet. Aber weiter entscheidet das nichts. Chanzy kann sich, wenn er will, entweder nach der Bretagne oder nach Calvados zurückziehen. In beiden Fällen findet er am äußersten Ende seines Rückzugs ein großes Flottenarsenal, Brest oder Cherbourg, mit detachierten Forts, die ihm so lange Schutz gewähren, bis die französische Flotte seine Leute südlich der Loire oder nördlich der Somme abgesetzt hat. Westfrankreich ist also ein Gebiet, wo die Franzosen einen Krieg führen können, durch den sie den Feind hinhalten, einen Krieg mit wechselnden Vormärschen und Rückzügen, ohne jemals gegen ihren Willen zum Kampf gezwungen zu werden. Wir würden uns nicht wundern, wenn Chanzy von Gambetta zum Kämpfen gedrängt worden wäre, der sich, wie berichtet wird, zu ihm begeben hatte und bestimmt die militärischen Überlegungen den politischen unterordnete. Nach seiner Schlappe und dem Verlust von Le Mans konnte Chanzy nichts |236| Besseres tun, als Friedrich Karl so weit wie möglich westwärts abzulenken, damit dieser Teil der preußischen Truppen weit vom Schuß sei, wenn sich Bourbakis Feldzug zu entfalten begänne.

Faidherbe, im Norden, ist augenscheinlich zu schwach, etwas Entscheidendes gegen Goeben zu unternehmen. Da, wie es scheint, Chanzy nicht Friedrich Karl schlagen und dadurch Paris entsetzen kann, wäre es besser, reichliche Kräfte nach Norden zu senden, um Goeben sowohl in Amiens als auch in Rouen loszuwerden und mit konzentrierten Kräften einen Vorstoß gegen die Eisenbahnlinie Mézières - Paris zu versuchen, besonders jetzt, wo Bourbaki die andere in deutscher Hand befindliche Eisenbahnlinie bedroht. Die Verbindungen sind der verwundbarste Teil einer Armeeposition; und wenn die nördliche Linie, die einem Angriff von Norden sowohl in Soissons wie in Rethel so stark ausgesetzt ist, gerade zu der Zeit ernstlich bedroht werden sollte, während Bourbaki am südlichen Rande von Lothringen am Werk ist, so könnten wir ganz plötzlich eine recht nette Verwirrung in Versailles erleben.