Aufstieg und Niedergang von Armeen | Inhalt | Wie die Preußen zu schlagen sind

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 101-104.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XVIII


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1744 vom 15. September 1870]

|101| Es scheinen noch große Mißverständnisse im Hinblick auf die Belagerungsoperationen zu bestehen, die jetzt in Frankreich vor sich gehen. Einige unserer Zeitungskollegen, zum Beispiel die "Times", neigen zu der Ansicht, die Deutschen, obwohl im offenen Felde ausgezeichnet, verstünden nicht, eine Belagerung durchzuführen; andere sind der Meinung, die Belagerung von Straßburg werde nicht in erster Linie durchgeführt, um die Stadt zu erobern, sondern um Erfahrungen zu sammeln und die deutschen Pioniere und Artilleristen einzuüben. Und das alles deshalb, weil sich bisher weder Straßburg noch Toul, weder Metz noch Pfalzburg ergeben haben. Man scheint völlig vergessen zu haben, daß die letzte Belagerung vor diesem Kriege, nämlich die von Sewastopol, elf Monate Kampf nach der Eröffnung der Gräben erforderte, ehe der Platz bezwungen war.

Um solche unreife Ansichten, die nur Leute haben können, die von militärischen Dingen nichts verstehen, zu berichtigen, muß man sie daran erinnern, wie eine reguläre Belagerung in Wirklichkeit vor sich geht. Der Wall der meisten Festungen ist bastioniert, das heißt, er hat an seinen Ecken fünfeckige Vorbauten, Bastionen genannt, die durch ihr Feuer sowohl den Raum vor den Werken schützen als auch den Graben, der unmittelbar zu ihren Füßen liegt. In diesem Graben zwischen je zwei Bastionen befindet sich ein detachiertes dreieckiges Werk, das Demilune genannt wird und den ihm zugewandten Teil der Bastionen deckt, sowie die Kurtine, die zwischen ihm und den Bastionen liegt. Der Graben zieht sich rund um die Demilune herum. Auf der Außenseite dieses Hauptgrabens verläuft ein breiter gedeckter Weg, der durch den Kamm des Glacis geschützt ist. Das Glacis ist eine Bodenaufschüttung von etwa sieben Fuß Höhe, die nach außen ganz allmählich abfällt. In vielen Fällen sind noch andere Werke hinzugefügt, um die Schwierigkeiten für den Angreifer zu erhöhen. Die |102| Wälle aller dieser Werke sind unten mit Mauerwerk verkleidet oder sind durch Wasser in den Gräben geschützt, um damit einen Angriff auf die unversehrten Werke unmöglich zu machen. Die Werke sind so angeordnet, daß die äußeren stets von den inneren beherrscht, das heißt überragt werden, während sie ihrerseits das Vorfeld vermöge der Höhe ihrer Wälle beherrschen.

Um eine solche Festung anzugreifen, ist die von Vauban vervollkommnete Methode noch die gebräuchliche, obgleich die gezogenen Geschütze der Belagerten hier Änderungen erzwingen können, wenn das Gelände vor der Festung auf eine weite Strecke hin völlig eben ist. Aber weil die meisten dieser Festungen zu einer Zeit erbaut worden sind, da es bloß glattgebohrte Geschütz gab, hat man das Gebiet, das mehr als 800 Yard von den Werken entfernt ist, im allgemeinen unberücksichtigt gelassen, was in fast jedem Fall den Belagerern die gedeckte Annäherung bis zu dieser Entfernung ohne reguläre Gräben ermöglichen wird. Demzufolge ist die erste Aufgabe, den Platz einzuschließen, die Außenposten und andere Detachements zurückzudrängen, die Werke auszukundschaften, Belagerungsgeschütze, Munition und andere Vorräte heranzuholen und die Depots zu organisieren. In dem gegenwärtigen Kriege gehörte in diese Vorbereitungsperiode, die eine beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen kann, auch ein erstes Bombardement durch Feldgeschütze. Straßburg wurde am 10. August locker umschlossen, gegen den 20. fest eingeschlossen, vom 23. bis zum 28. bombardiert; aber die reguläre Belagerung begann erst am 29. Diese reguläre Belagerung datiert von der Eröffnung der ersten Parallele, eines Grabens, bei dem die Erde nach der Festungsseite aufgeworfen wird, um die hindurchgehenden Soldaten zu verbergen und zu schützen. Diese erste Parallele umschließt gewöhnlich die Festungswerke in einer Entfernung von 600 bis 700 Yard. In ihr werden die Batterien aufgestellt, die die Wälle längs bestreichen, und zwar in der Verlängerungslinie jeder Face, das heißt jener Wallabschnitte, deren Feuer das Feld beherrscht. Das geschieht an allen Teilen der Festung, die angegriffen werden sollen. Der Zweck der Batterien ist, die Facen längs zu bestreichen und so die Geschütze und die Bedienungsmannschaften zu vernichten. Es müssen wenigstens zwanzig solche Batterien, jede zu zwei bis drei Geschützen, vorhanden sein, das heißt zusammen etwa fünfzig schwere Geschütze. In der ersten Parallele wurde gewöhnlich auch eine Anzahl Mörser aufgestellt, um die Stadt oder die bombensicheren Magazine der Garnison zu beschießen; bei der heutigen Artillerie sind Mörser nur für den letzteren Zweck erforderlich, während für den ersteren gezogene Geschütze genügen.

|103| Von der ersten Parallele aus werden Gräben vorgetrieben in Richtungen, deren Verlängerungslinie die Festungswerke nicht berührt, so daß kein Geschütz der Festung sie längs bestreichen kann. Sie führen im Zickzack vorwärts, bis zu einer Entfernung von 350 Yard von den Werken, wo die zweite Parallele gezogen wird - ein Graben, ähnlich dem ersten, nur kürzer. Das wird gewöhnlich während der vierten oder fünften Nacht nach der Eröffnung der Gräben ausgeführt. In der zweiten Parallele werden die Konterbatterien aufgestellt, eine gegenüber jeder der angegriffenen Facen und fast parallel zu ihr; sie sollen die ihnen gegenüberliegenden Geschütze und Wälle zerstören und ihr Feuer mit dem der längsbestreichenden Batterien kreuzen; sie werden alles in allem etwa sechzig Geschütze schweren Kalibers haben. Dann stoßen die Belagerer von neuem in Zickzacklinien vor, die kürzer werden und dichter beisammenliegen, je mehr sie sich der Festung nähern. Etwa 150 Yard von den Wällen entfernt wird die Halbparallele für die Mörserbatterien ausgehoben; und am Fuße des Glacis, etwa 60 Yard von den Wällen, wird die dritte Parallele gezogen, die wiederum Mörserbatterien enthält. Das dürfte etwa in der neunten oder zehnten Nacht nach der Eröffnung der Gräben beendet sein.

In dieser Nähe der Festungswerke beginnt die eigentliche Schwierigkeit. Das Artilleriefeuer der Belagerten, soweit es das offene Feld beherrscht, wird zu dieser Zeit fast gänzlich zum Schweigen gebracht worden sein, aber das Gewehrfeuer von den Wällen wird jetzt wirksamer sein als vorher und die Arbeit in den Gräben sehr verzögern. Die Approchen werden jetzt mit noch größerer Vorsicht und nach einem anderen Plan gemacht werden müssen, den wir hier nicht im einzelnen erklären können. In der elften Nacht dürften die Belagerer bis zu den vorragenden Winkeln des gedeckten Weges vordringen, die vor den hervorspringenden Punkten der Bastionen und der Demilunes liegen. Während der sechzehnten Nacht dürften sie die Krönung des Glacis vollendet haben, das heißt, ihre Gräben bis hinter den Kamm des Glacis, parallel zu dem gedeckten Wege, geführt haben. Dann erst werden sie ihre Batterien so aufstellen können, daß in das Mauerwerk des Walls Bresche geschossen und ein Übergang über den Graben in die Festung dadurch erzwungen werden kann, daß die Geschütze auf den Flanken der Bastionen zum Schweigen gebracht werden, die bis dahin den Graben entlang gefeuert und den Übergang verhindert haben. Diese Zerstörung der Flanken mit ihren Geschützen und das Brescheschlagen dürften am siebzehnten Tage erfolgen. In der folgenden Nacht dürfte ein Abstieg in den Graben und ein gedeckter Grabenübergang, der die Stürmenden gegen Flankenfeuer schützen soll, vollendet sein und der Sturm beginnen.

|104| Wir haben versucht, in diesem Abriß eine Berechnung des Verlaufs der Belagerungsoperationen gegen eine der schwächsten und einfachsten Festungsarten (ein Vaubansches Hexagon) zu geben und die Zeit zu veranschlagen, die für die verschiedenen Stadien der Belagerung - falls sie nicht durch erfolgreiche Ausfälle gestört wird - erforderlich ist, unter der Voraussetzung, daß die Verteidigung keine außergewöhnliche Aktivität und Kühnheit entfaltet oder über besondere Hilfsquellen verfügt. Sogar unter diesen günstigen Umständen wird es, wie wir sehen, wenigstens siebzehn Tage dauern, ehe die Bresche im Hauptwall hergestellt und der Platz sturmreif gemacht werden kann. Wenn die Garnison zahlreich genug und gut versorgt ist, besteht kein militärischer Grund, warum sie sich früher ergeben sollte; vom rein militärischen Gesichtspunkt aus ist es nicht mehr als ihre Pflicht, wenigstens bis zu diesem Zeitpunkt auszuhalten. Und da klagt man, daß Straßburg noch nicht genommen worden sei - ein Platz, der der regulären Belagerung erst vierzehn Tage ausgesetzt ist und der Außenwerke an der Angriffsfront besitzt, die ihn befähigen, mindestens fünf Tage länger als eine durchschnittliche Festung auszuhalten. Man klagt, daß Metz, Toul und Pfalzburg noch nicht zur Übergabe gezwungen worden seien. Aber wir wissen noch nicht einmal, ob ein einziger Graben gegen Toul eröffnet worden ist; von den anderen Festungen wissen wir, daß sie überhaupt noch nicht regulär belagert werden. Metz regulär zu belagern, scheint man im Augenblick noch gar nicht die Absicht zu haben; die Aushungerung von Bazaines Armee scheint der wirksamste Weg zu sein, Metz zu nehmen. Die ungeduldigen Artikelschreiber sollten wissen, daß es nur sehr wenige Festungskommandanten gibt, die sich einer Patrouille von vier Ulanen oder unter der Wirkung eines Bombardements ergeben, sofern sie nur eine einigermaßen große Anzahl Truppen und Vorräte zur Verfügung haben. Wenn sich Stettin 1806 einem Regiment Kavallerie ergab, wenn die französischen Grenzfestungen im Jahre 1815 unter der Wirkung eines kurzen Bombardements, oder nur aus Furcht davor, kapitulierten, so dürfen wir nicht vergessen, daß Wörth und Spichern zusammen weder ein Jena noch ein Waterloo ausmachen. Außerdem wäre es töricht, daran zu zweifeln, daß es in der französischen Armee viele Offiziere gibt, die eine reguläre Belagerung sogar mit einer Garnison aus Mobilgarde aushalten können.